Wenn der Kren Hilfe holt

Ein Literaturwettbewerb für „Behinderte“, „Menschen mit Lernschwächen“ – und was es da noch für Schubladen gibt: Ist das nicht wieder so ein Ghettopreis? „Ohrenschmaus 2007“: kein Mitleidsbonus, keine Peinlichkeit – einfach Literatur.

Mit fortgeschrittenem Alter wird man in die Jury von Literaturwettbewerben eingeladen. Das kann ganz schön mühsam sein. Vieles war schon einmal so oder so da. Vieles geht einen nicht wirklich was an. Vieles ist Spielerei ohne Tiefe oder Tiefe ohne Spielerei. Manches ist nicht originell, manches zu originell.

„Ohrenschmaus“ war ein Literaturwettbewerb für: „Behinderte“, „Menschen mit Lernschwächen“ – und was es da noch für Schubladen gibt.

Soll man da in die Jury gehen? Ist das nicht wieder so ein Ghettopreis? Gibt's da wieder den „Mitleidsbonus“? Sind das „Therapieprodukte“?

Nein, es geht nur um literarische Kriterien, sagt der Initiator. Initiator ist der Abgeordnete zum Nationalrat Franz-Joseph Huainigg, schwer behindert, im Rollstuhl sitzend, ein froher Mann.

Und da gab es schon einmal eine Erfahrung, die mich etwas gelehrt hat: Georg Paulmichl, Südtiroler Autor. Eigentlich dazu verurteilt, bis an sein Lebensende in der Tageswerkstätte Prad irgendwelche Basteleien zu verfertigen.

Dem Betreuer Dietmar Raffeiner fällt auf, dass Georg eine ziemlich ungewöhnliche Sicht auf die Welt hat und diese auch auf sehr sprachschöpferische und unglaublich witzige Weise artikulieren kann. So setzen sie sich hin und schreiben auf, was Paulmichl sich von der Welt (der dörflichen und der restlichen) so denkt. Daraus sind seit 1990 fünf Bücher entstanden, die im ganzen deutschsprachigen Raum Literaturkult wurden. Und immer wieder wurde die Frage gestellt: „Ist der Mann so sprachschöpferisch, weil er behindert ist?“ Die Antwort lautet: Der Mann ist so sprachschöpferisch, weil er so begabt ist; ganz einfach. Ich selber habe Paulmichls Texte oftmals öffentlich vorgetragen, und irgendwann habe ich darauf verzichtet, seine „Behinderung“ zu erwähnen. Und das war gut so, denn auch ohne diesen „Bonus“ war das Publikum hingerissen.

„Ohrenschmaus“ nun also, Preisverleihung kürzlich im Literaturhaus Wien. Mehr als 100 Einsendungen hatte es gegeben, und die Jury beschloss als Erstes, nicht nur einen einzigen Preis zu vergeben, sondern drei; und außerdem kamen zwölf Autorinnen und Autoren auf eine Ehrenliste. Der Grund lag darin, dass einfach zu viele der Texte sehr spannend, sehr originell, sehr ungewöhnlich waren, sodass die Auswahl sehr schwer fiel. Es gab einen Preis für Lyrik, einen für Prosa, einen für Lebensberichte. Auch unter Letzteren waren viele literarisch wertvolle vertreten, aber auch die ganz sachlichen hatten uns beeindruckt. Denn wir erfuhren etwas aus einer Welt, die wir nicht kannten. Wir erfuhren von Schicksalen, davon, wie es ist, wirklich mühselig und beladen zu sein.

Ganz erstaunlich auch, wie oft die Texte humorvoll waren, satirisch, auch optimistisch.

Und Sehnsucht natürlich, viel Sehnsucht, Sehnsucht nach Leben, nach Liebe.

Also: Kein Bonus, keine Peinlichkeit, diese Autorinnen und Autoren wissen, wovon sie reden.

Siegertext Lebensbericht: Herbert Offenhuber.
Geboren am 21. Jänner 1954 in Bludenz. Er arbeitet im „Lädele“ der Bludenzer Werkstätte.
„Hier ist mein Leben“

Mein Bruder Helmut, er lebt nicht mehr, war Handorgelspieler, der hat mir das beigebracht, ja, die Witze auch. Heute singe und spiele ich auch noch an Geburtstagen und anderen Festen und Feiern. Meine Geschwister waren lieb mit mir. ... Eines Nachts, ich war sechs Jahre alt, ist Papa während dem Dienst vom Zug überfahren worden. Ich habe geweint, als Onkel Franz mir das erzählt hat, ja bitterlich. ... Mama ist auch zu früh gestorben. Der Tod hat sie geholt. Ich war in der Stube und durfte sie nicht anschauen, mein Bruder hat gesagt, es sei besser so. Aber ich hab sie doch angeschaut und gesagt: Pfüati, Mama, jetzt musst du gehen. Mehr hab ich nicht mehr gesagt. Ich konnte sie nicht mehr drücken. Der Leichenwagen und die Rettung mit Blaulicht waren auch da. Die Leute haben meine Mama mit einem schwarzen Tuch zugedeckt, ja, mit der Decke. Im Traum hat Jesus zu mir gesagt: „Ja, Herbert, jetzt muss deine Mama zu Papa in den Himmel gehen.“ ... Leider hat Mama so fett gegessen und ist früh gestorben. Der Doktor hat auch gesagt, sie soll es lassen. ...Hätte sie nur keinen Speck gegessen, dann hätte ich sie sicher länger gehabt. ...So, jetzt hör ich auf, wenn jemand noch mehr wissen will, dann soll er mich fragen.


Siegertext Lyrik: Renate Gradwohl.
Geboren am 18. September 1967 in Bruck an der Mur, besucht seit 1986 die Tageswerkstätte Kindberg der Lebenshilfe Mürzzuschlag und lebt bei ihren Eltern in Kindberg. Sie spricht kaum. Sie schreibt und malt. Sie ist eine Künstlerin. Ein Beispiel der fünf eingesandten Gedichte:

Der böse Gerhard
Kann nicht schlafen.
Träumen – böser Gerhard.
Habe keinen Mann.
Leben – gestorben.
Brauch einen Mann.
Böser Gerhard!
Husten, Tränen.
Kann nicht schlafen.
Ich – Begräbnis. Tod.
Böser Gerhard.
Warum? Ich will heiraten.
Kann nicht schlafen.
Mir geht's gut.
Ich lebe nicht.
Böser Gerhard!
Früh auf – Tränen.
Warum? Böser Gerhard!
Ingrid.
Böse Ingrid!
Traurig.
Kann nicht. Begräbnis.
Leben! Helfen!
Nie mehr soll sterben.
Kirche – Herz. Ring.
Böser Gerhard.
Warum?
Keiner mehr küssen.
Böser Gerhard.

Siegertext Prosa: Andreas Burtscher.
Geboren 1988 in Vorarlberg. Er arbeitet in der Caritas-Werkstätte Bludenz. Sein Text „Visionen“ entstand, als er gefragt wurde, was er werden wolle. Es ist ein sehr witziger und lakonischer Text, er beschreibt die Folgen, wenn er Chirurg wäre oder Pokemon-König oder Tierarzt oder:
Wenn ich Bürgermeister wäre . . .
Müsste ich ein Land regieren wie im Landhaus Bregenz. Ich muss Sitzungen und Seminare machen, auch Kurse und Betriebsausflüge. Ich habe viel im Büro zu tun; viele Briefe, viele Termine und eine Olympiade. Als Bürgermeister ist ganz wichtig, mit dem Präsidenten zusammenzuhocken und Fotos zu machen. Dann kommt der ORF.
Wenn ich Geschäftsführer wäre . . .
Würde ich den ganzen Kram übernehmen.


Und hier noch ein paar Auszüge aus Texten, die auf die Ehrenliste kamen:
Rudolf Kreil
Mein Fahrrad
Ich hab ein Fahrrad, das hat Arme und Füße.
Es hat hinten und vorne einen Antrieb.
Mein Rad kann fliegen, und sprechen kann es auch.
Es hat in der Universität studiert.
Mein Rad hat einen Radio, einen eingebauten.
Es hat Augen auch, damit es schauen kann.
Mit meinem Rad kann ich die Büntlitten hinauffahren, aber aufs Bödele ist es mir zu steil.
Mein Fahrrad hat eine Nase und eine Funkuhr.
Es kann auch aufs Klo gehen.
Mein Rad hat auch eine Luftdruckuhr, damit es weiß, ob es steigend oder fallend oder gleichbleibend ist.
Mein Fahrrad kann hüpfen, trinken und essen.
Es kann auch Haare waschen und baden in der Badewanne.
Mein Rad kann häkeln und schlagzeugen.
Es kann Landkarte schauen und Kompass.
Es kann auch telefonieren mit ISDN-Leitung.
Mein Rad hat Internetanschluss und E-Mail.
Es kann Däumchen drehen und fertig.


Michaela Schroller
Gemüse – Eine Kurzgeschichte
Erbsen besuchen ihre Freundin Avokado. Sie fahren alle zu Herrn Spargel. Später kommt eine Horde Salat des Weges. „Nicht!“, sagt Avokado. „Wir sind allein!“ Da holt der Kren schnell Hilfe. Die Rübenpolizei nimmt die Horde Salat fest. Im Knast kommt die Salathorde in die Krautzelle. Kommissar Radieschen holt die Horde Salat persönlich ab. Den Elektrischen Stuhl bedienen vierzig Linsen. Nachher spielt der Rosenkohl auf dem Piano eine türkische Polka.

Jürgen Ceplak
Die große Liebe
Am Anfang sehen wir uns fremd,
dann schauen wir uns an und grüßen uns.
Auge zu Auge, Nase zu Nase,
dann spürst du Freude pumpern
in deinem Herzen, und die Liebe steigt auf.
Und jetzt ein bisschen plaudern,
über den Beruf, das Wetter und das Leben.
Dann etwas ausmachen, welchen Tag sehen
wir uns wieder
und können uns treffen.
Beim nächsten Wiedersehen können wir
uns näherkommen.
Jetzt spürst du dein Herz,
und es wird ganz warm, und der Blutdruck
steigt,
das spüren beide,
besonders die Männer und am meisten die
Frauen.
Dann tut man sich langsam umarmen
und einen Kuss auf die Wange geben,
ganz vorsichtig. Jetzt riechst du die Liebe.
Zuerst muss sie heimlich bleiben,
sie muss erst ganz klein wachsen.
Die Liebe ist wie eine Pflanze,
man muss sie einsetzen und gießen,
dann wächst sie und wird stark.
Die Liebe kann wie ein Kaktus sein
oder wie eine Orchidee. Oder ein Gänse-
blümchen.
Nimm dir Zeit für die Liebe, sonst trifft sie
dich nicht
und dann welkt dein Herz ein.
Erst wenn die Liebe ein bisschen angewach-
sen ist,
darfst du das Geheimnis erzählen.
Die Liebe riecht wie Erdbeeren mit Schlag. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.12.2007)

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