Ach, mein freier Raum

Die Heiligsprechung, der Hundekot, der Chefredakteur. Medien sind eine Nervensache.
Die Heiligsprechung, der Hundekot, der Chefredakteur. Medien sind eine Nervensache.(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Ich arbeite für Medien. Als Freiberuflicher (was für ein Wort!). Ich habe 1974 mit dieser Arbeit begonnen. Ein langer Weg. Eine Karriere? Meine Erfahrungen im Medienberuf.

Könnten Sie mich sehen, sehr geehrte Leserinnen und Leser, dann würden Sie einen knapp über 60 Jahre alten Mann sehen, der in ei- nem Beruf, in einem Medienberuf, als Freiberuflicher (was für ein Wort!) seine Erfahrungen hat. Ich habe 1974 mit dieser Arbeit begonnen, und wenn ich mich selbst befrage, was denn das alles, so ein langer Weg, eine solche Karriere, zu bedeuten hat, dann ist das sicherlich nicht bloß eine rhetorische Frage; es ist, wie man früher einmal gesagt hat, eine existenzielle Frage, also eine an mich selbst gerichtete, deren Antwort, sofern sich eine findet, nicht ohne Risiko ausfallen wird.

Eines ist gewiss: Meine Erfahrung in besagtem Medienberuf bezieht sich nur auf ei- nen Teil desselben, und es hat etwas leicht Überholtes, vielleicht auch Reaktionäres, zu dem ich mich in diesem Fall leider bekennen muss, dass ich diesen, keineswegs bloß von mir ausgefüllten Teil des Medienberufs hoch schätze. Ich arbeite für Zeitungen, auch für den Rundfunk, in der Abteilung Feuilleton. Hochmut ist dem Feuilletonisten nicht fremd – gäbe es diesen Teil, der eben Feuilleton genannt wird und der bekanntlich in sich fragwürdig genug ist, gäbe es diesen Teil nicht, die sogenannten Medien gingen mir noch mehr auf die Nerven, als sie es ohnedies tun. Ja, Nerven, es ist eine Nervensache, ich empfinde es bis ins Knochenmark, Zeitung lesend, fernsehend, Radio hörend. Medien sind,im Ganzen genommen, ein avantgardistischerZirkus. Den Zirkus verraten das Trara und das Tschingbum unddie Kostüme.

Das Avantgardistische kommt für michvom Montagecharakter: Neben der „Bild“-Zeitung besteht die „Süddeutsche“, und neben dem Artikel über die Heiligsprechungsteht einer über den Kampf der Wiener Bürger gegen Hundekot auf allen ihren Straßen; als Anhänger der modernen Welt, als Modernist, liebe ich eine solche Kombination ihrer Ausschnitte, eine Kombination, die jenseits von Gut und Böse ist und die nur dem pragmatischen Nihilismus der Apparate folgt – keine Kunst ist in der Lage, das Bild unserer Welt so zu zeigen wie diese Medien im Wirbel ihrer Zusammenklänge und Dissonanzen. Man muss es allerdings sehen können und bedarf dafür eines Blicks, den man sich selbst verstellt, wenn man schlicht glaubt oder nicht glaubt, was die Medien zeigen. Das Spektakel, das sie bieten, ist an ih-
nen das Wahre, das Schöne und das Gute. Manchmal allerdings erkennt man es sofort:Auf einem der deutschen Nachrichtensender sah ich einst den Papst, wie er in vielen Sprachen den Erdkreis segnete. Unter dem Bild lief eine der üblichen Informationsschleifen, ich sah hin und nahm zur Kenntnis: Unter dem segnenden Papst gingen die Börsenkurse durch. Welcher surrealistische Künstler hätte es gewagt, oder vielleichtmuss man auch sagen, hätte nicht jeder Künstler dieser satirischen Plattheit wegen das Bild vermieden; das wiederum wäreschade gewesen, aber es gibt, zum Glück, den Nachrichtensender und sein Talent zur verbindenden Montage des scheinbar Unvereinbaren.

Mit den Medien ist klarerweise die Skepsis ihnen gegenüber, ja sogar der Hass auf sie entstanden. Ich erspare mir Zitate aus dem reichen Fundus dieser Aversionen von Balzac bis Karl Kraus.Aber es ist mit den Medien noch etwas anderes entstanden: skeptischeKollaborateure, widersprüchliche Menschen, die zu den Medien, mit denen sie kooperieren, auch eine Distanz haben, die sie wahren wollen. Wenn dieser Widerspruch nicht in den Zynismus führt, ist er moralisch begründbar, in dem Sinne, dass man durchaus moralisch motiviert sein kann, um gerade diesen Widerspruch auf sich zu nehmen. Die zynische Reaktion ist eh klar: Man schreibt oder propagiert, was man selbst nicht denkt, nicht glaubt – aber in dem Fall hält man nicht zum Medium die Distanz, sondern nur zu sich selbst.

Medienberuf – ein Beruf wie jeder andere, man muss sich halt an Regeln halten, die man nicht nur nicht selbst erfunden hat, sondern die man selbst, aus eigenem Antrieb, auch niemals erfunden hätte. Im Terminus „Freelancer“ steckt eine Utopie, die eine große Notwendigkeit, aber auch ein hohes Täuschungs- und Selbsttäuschungspotenzial enthält; es ist die Utopie der Freiheit, und Freiheit ist ein Begriff, der zwischen bloßem Gefühl, dem Freiheitsgefühl, und der tatsächlichen, objektiven Institutionalisierung von rechtlich garantierter Unabhängigkeit, von Autonomie schwankt. Die Notwendigkeit der Utopie ist klar: Ohne Freiheit und Freiheiten würde nichts möglich sein alsdie Wiederholung des Status quo, und der wiederholte Status quo fiele automatisch unter sein eigenes Niveau. Das heißt: Ohne innovatives Potenzial verliert ein gegebener Zustand (in unserer Art von Gesellschaft)den guten Grund seines Fortbestands.

Das gilt für das ökonomische, aber auch für das kulturelle System: Die erstarrte Kultur, der man immer wieder – in Burg und Oper, im Verlagsprogramm und im Konzerthaus – begegnet, wird zum Einwand gegen Kultur überhaupt. Und je strenger eine Firma ihren Zusammenhalt pflegt, je mehr sie auf der Einhaltung von Regeln besteht, desto besser ist sie beraten, Freiräume, die bis zur Anarchie gehen können und vielleicht sogar müssen, zu ermöglichen. Die sogenannten Kreativen sind nur darüber zu kontrollieren, dass man sie nicht oder möglichst wenig kontrolliert. Umgekehrt gibt es das berechtigte Bedürfnis der Einzelnen, in ei- ner Ordnung, und sei es als Freelancer, verankert zu sein.

Die Tendenz, nicht zuletzt in den Medienberufen, geht allerdings in Richtung „prekäre“ Arbeitsverhältnisse. Das heißt: Die Institutionen, Zeitungen, Rundfunkanstalten haben ein Interesse an den Produkten freiberuflicher Arbeit, aber sie haben wenig Interesse, den Freiberuflichen, vor allem was Lohn und Brot betrifft, den Status der Zugehörigkeit zu gewähren. Dass so etwas ohne Weiteres möglich und selbstverständlich geworden ist, liegt – metaphysisch gesehen – an der Austauschbarkeit aller Individuen in der Schöpfung („niemand im Betrieb ist unersetzlich!“) und – ökonomisch gesehen – simpel daran, dass es mehr Angebote von Arbeitskräften als Stellen gibt. Einen freienBeruf ausüben heißt in den meisten Fällen, dass man die Nachfrage nach seiner Arbeit nicht einfach voraussetzen kann, sondern dass man diese Nachfrage selber erst erzeugen und schaffen muss. Das führt unweigerlich zu einer Form von Reklame, die „Selbstdarstellung“ genannt wird.

Nicht nur zu Unrecht werden in den Redaktionen Leute wie ich abschätzig „Selbstverwirklicher“ genannt, deren Nutzen fragwürdig ist, weil das Medium, wie man sagt, „für das Publikum“ da ist. In den Anfängen meiner Laufbahn trug ich Artikel, die mir ein Anliegen waren, an den Schreibtisch des Chefredakteurs eines Nachrichtenmagazins heran. Der Chefredakteur überflog sie, ging mit ihnen, ich hinterher, ins Vorzimmer, warf meinen Artikel auf den Schreibtisch seiner Sekretärin und rief mir höhnisch zu: So, wenn die Frau Leibetseder das versteht, was Sie da schreiben, dann druck ich's Ihnen ab. Wie sehr der Boss mich damit verachtete und mit mir zugleich Frau Leibetseder, fiel bei den Hierarchien einer Redaktion, die ja einer Leitung bedarf, nicht ins Gewicht. FrauLeibetseder stellte gründlich fest, dass meine Artikel nicht nur ihr nicht verständlich, sondern überhaupt „unverständlich“ waren,und für mich tat sich in dieser nachrichtenmagazinlichen Konstellation ein unversöhnlicher signifikanter Gegensatz auf: Als freier Schriftsteller musste ich darauf beharren, dass der Schwierigkeitsgrad meiner Ausführungen sich aus der Sache entwickelte, ganz der Sache entsprach, die ich darzustellen hatte. Der Medienmann hingegen verlangte, dass jede Sache, jedes Thema für das Publikum formuliert werden musste – in einer allgemein verständlichen, am besten immer gleichen Sprache, gleichgültig, was man im Besonderen zu sagen hatte.

Dafür betrieb er Marktforschung mit Frau Leibetseder als Versuchsperson, aber er studierte die Sache nicht, die aus meiner Sicht jenseits der Komplexität meiner Darstellung gar nicht vorkam: Außerhalb der Formulierung findet für einen Schriftsteller die Sache,von der er schreibt, nicht statt. Es ist ein bestimmt auftretendes vages Prinzip von Verständlichkeit, mit dem der Medienmann dagegen arbeitet, mit dem er selektiert, was vorkommt und was nicht; im schlimmsten Fall ist es bloße Willkür, selektives Kannnichtverstehen, das durchaus inhaltliche, zensurähnliche Gründe haben kann. Der freie Schriftsteller dagegen könnte im besten Fall argumentieren, warum er so oder so schreibt, warum es also die Sache verlangt, in all ihrer Schwierigkeit dargestellt zu werden. Der Stolz auf die wie immer auch notwendig gewordene Schwierigkeit verträgt sich nicht leicht mit dem Stolz auf die Reichweite, auf die Quote, an der angeblich alles hängt, nach der alles drängt.

Weshalb also für Medien arbeiten und zugleich sich eine Distanz zu ihnen wünschen, sich eine Distanz zu ihnen ausrechnen? „Einkommensquelle“ heißt der materielle Grund – er mag wie das meiste Materielle moralisch schnöde klingen, aber: Da die Miete bezahlt werden muss, sollte man diesen Grund auch aus pädagogischen Gründen nicht unterschlagen, und es ist überdies darauf hinzuweisen, dass der Typus des sogenannten freien Schriftstellers seinerzeit nicht zuletzt vom Markt, auch vom Zeitungsmarkt, erfunden, konstituiert wurde. Der Markt hat das Freiheitspathos intus. Das spiegelt sich wider im Stolz mancher Schriftsteller, unabhängig zu sein, und das heißt, weder abhängig zu sein vom priva-
ten Mäzenatentum noch von staatlichen Subventionen – und, radikal ausgelegt, auch nicht vom Publikum. Bescheidener nimmt sich mein Stolz darauf aus, niemals in einem Medienbetrieb angestellt gewesen zu sein, das heißt, niemals Weisungen befolgt zu haben, die mehr im Arbeitsrecht als in der konkreten Arbeit wurzeln.

Beabsichtigt man, aus der eigenen Erfahrung heraus zu sagen, welche Konflikte in einer einschlägigen Karriere durchzustehen sind, so enthält meine Anekdote mit dem Chefredakteur ein klassisches, über Medienberufe weit hinausgehendes Modell, in dem sich die Frage stellt: Wie weit passt man sich gegebenen Anforderungen an, oder wie weit versucht man sich gegen solche Anforderungen durchzusetzen? Selbstbestimmung darf man nicht fetischisieren, es besteht stets die Möglichkeit, dass man den edlen Wert der Selbstbestimmung pervertiert, indem man nur auf der eigenen Eitelkeit, auf den höchstpersönlichen Eigenheiten beharrt. Aber grundsätzlich ist dies eine der Fragen: Nehme ich den Medienapparat, seine Hierarchien und seine Logik ernster als mich selbst, der ich doch auf meine Weise so viel zu sagen habe, und wie viel bin ich bereit zu lernen, auch in dem Sinne, dass ich, eines Besseren belehrt, von meinen Utopien Abstriche mache? Welche Lehren, die der Medienapparat, so wie er ist, mir zu erteilen versucht, lehne ich auf jeden Fall ab?

Soziologisch gesehen, hat diese Fragestellung wahrscheinlich etwas Unrealistisches. In den meisten Fällen nämlich stellen sich Fragen dieser Art gar nicht oder vielleicht erst hinterher, also an dem berühmten und beliebten Zeitpunkt, an dem es schon zu spät ist. Karrieren haben eine Eigendynamik, sie sind vonpersönlichen Entscheidungen höchstens ebenso sehr gepflastert, wie man umgekehrt mehr oder minder fraglos in so eine Karriere hineinwächst.

Ja, und dann die Meinungsmacht. An der Stelle, an der ich meine Meinung veröffentlicht habe, steht keine andere. Ich will hier nicht den Antrieb untersuchen, durch Meinungsmache Einfluss zu nehmen. Im Gegenteil, ich lasse den Verdacht ins Positive kippen, in eine Frohbotschaft. Der ideelle Grund, aus dem ein freier Schriftsteller, also einer, der weder vom Staat noch von einem Mäzen abhängig ist, sich teilweise vom Markt abhängig macht, heißt – Öffentlichkeit. An ihr teilzunehmen und sie mit herzustellen ist ein Privileg, ein demokratisches Privileg, um sogleich einen Widerspruch darin festzuhalten.

Gewiss, die Befunde, die dieser Öffentlichkeit ausgestellt werden, sind nicht günstig: Das ursprüngliche Konzept bürgerlicher Öffentlichkeit, die dadurch entsteht, dass Privatleute über ihre Angelegenheit öffentlich räsonieren, ist unterlaufen durch Professionalisierung und Kommerzialisierung. Professionalisierung heißt: Kaum ein Privatmann kann seine Angelegenheiten unmittelbar öffentlich machen, alles läuft über die Vermittlung von Profis, die allerdings Regeln beachten müssen, welche oft der Sache, die kommuniziert werden soll, zuwiderlaufen. Wer kennt die Politiker nicht, die darüber klagen, die Dramaturgie des Fernsehens zwinge ihnen eine komplexitätsvernichtende Rhetorik auf; und wer kennt die Politiker nicht, die sich darüber gar nicht beklagen, sondern die diesen Tatbestand der Begünstigung komplexitätsvernichtender Rhetorik zu ihren Gunsten ausnützen? Aber, und das ist die Frohbotschaft, man darf annehmen, dass sich hinter allem Strukturwandel der Öffentlichkeit von ihr genug erhalten hat, um – sagen wir einmal – weiterzumachen. Es ist aber keine nationale Öffentlichkeit mehr und noch keine europäische, es ist mit signifikanten Ausnahmen, die globale Belange betreffen, überhaupt keine einheitliche Öffentlichkeit mehr, es ist ein, wenn auch keineswegs idyllisches, Zusammenspiel von Suböffentlichkeiten. In diesemZusammenspiel, so dieThese, erhält sich, wiegefährdet auch immer,genug vom Prinzip der Öffentlichkeit. Für mich hat die Öffentlichkeit im Prinzip einen Doppelcharakter: Einerseits ist sie nicht bloß der Ort, an dem Gedanken ausgetauscht werden und auch aneinandergeraten; es ist dieses Austauschen und Aneinandergeraten in der Öffentlichkeit, das die Gedanken bereits im privaten Raum mitformuliert. Dogmatisch (und mehr oder minder frei nach Alexander Kluge) gesagt: ohne Öffentlichkeit auch kein Denken, zumindest keines, wie wir es bisher kennen und das wir, nicht zuletzt in Bezug auf den gesellschaftlichen Fortschritt, als lobenswert erachten.

Andererseits aber ist die Öffentlichkeit ein artistischer Raum, ein Ort der Spiegelungen, der Entlarvungen und der Verstellungen; ein Ort des Protests und der Zustimmung, also ist sie eine Art virtuelle Wiederkehr von Straßen und Plätzen einer Stadt, also hat sie etwas Urbanes, auch wenn eine Suböffentlichkeit wie die dörfliche in ihrer Macht nicht unterschätzt werden darf. Aber um diese Differenz geht es hier nicht, ich will nur auf diesen sozusagen zweiten Charakter der Öffentlichkeit, auf ihren performativen Charakter aufmerksam machen, und wenn es etwas gibt, das ich als älterer Ausübender ei- nes Medienberufs jüngeren mitteilen möchte, so ist es Respekt vor Öffentlichkeit, den man nicht zuletzt dadurch zollt, dass man in seiner Arbeit sowohl ihre intellektuellen als auch ihre performativen Ansprüche berücksichtigt.

Meine These war, Öffentlichkeit lasse sich nur als ein Zusammenspiel unterschiedlicher Öffentlichkeiten (und damit auch der unterschiedlichen Medien) fassen. Ja, und der Ort, an dem unterschiedliche Medien sozusagen fröhliche Urständ feiern, ist derComputer. Ich begebemich – aus besagtemGrund meiner Zugehörigkeit zur Schriftkultur – auf dünnes Eis, aber dort wage ich mich bis zu der bekannten Behauptung vor, dass nicht wenigesoziale Phänomene heute analog zur digitalenDatenverarbeitung gedacht und dargestellt werden müssten. Soziologisch gesehen, will ich sagen: In einem Medienberuf stößt das Freie an der Freiberuflichkeit nicht nur an ökonomische und organisatorische Grenzen (oder auf ökonomische und organisatorische Partner), sondern wie in vielen anderen Berufen auch gibt es radikale, berufliche Veränderungen, die auf Technik gründen. Das ist ein Gemeinplatz, der sich mit dem Hinweis glücklich erweitern lässt, dass es ein folgenreicher Gemeinplatz ist.

Mit dem Computer hat man andere Möglichkeiten, die Realität zu entschlüsseln, sie zu zerlegen und zusammenzusetzen als mit der Handschrift. Bilder, Rhythmen kann die Schrift andeuten, die Maschine kann sie realisieren; es ist klar, dass diesem Andeuten eine interessante geistige Würde innewohnt; jedenfalls liegt in diesem Bereich der Digitalisierung eine radikale Veränderung. Der von mir zitierte Chefredakteur arbeitete einst mit einem handgezeichneten Satzspiegel – ein Satzspiegel, das ist ein Modell eines Blattes, wie es erscheinen wird, und wenn Änderungen erforderlich waren, gab es ein großes Radieren und Neuzeichnen.

Ich habe immer gerne für das Radio gearbeitet, für diesen Film ohne Bilder, und meine erste große Radioarbeit war das Umschneiden und Kommentieren der „Letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus. Der österreichische Rundfunk hatte das gesamte Drama aufgenommen und wollte es bei ei- ner Zweitausstrahlung anders, kürzer proportionieren als beim ersten Mal. Da saß man damals in einem Hinterzimmer bei gestapelten Tonbändern, war also nicht nur in der Zeit, sondern auch im Raum tätig; man hatte es mit einer ziemlich unnachgiebigen Materie zu tun: Ein einmal aufgetrenntes Band musste händisch wieder zusammengesetzt werden, falls man die richtige Stelle nicht erwischt hatte oder eine andere für besser erachtete. Diese Arbeit mit der Hand, so sagen es Erfahrene, hat ein eigenes Verhältnis, ein eigenes Bewusstsein zum Ton, zum Tonwerk hervorgebracht, denn man lernt ja an den Widerständen, die ein Material einem entgegensetzt. In der virtuellen Welt, wo der Bildschirm grafisch, in Kurven, den Tonverlauf anzeigt und man die möglichen Schnittstellen, die man früher hören musste, jetzt auch sehen kann, in der virtuellen Welt kann man blitzschnell in den Verlauf eingreifen und diese Eingriffe ebenso schnell rückgängig machen. Das heißt: Man kann besser experimentieren, während man im alten System oft erst nach der Fertigstellung des Bandes wusste, wie man es hätte richtig machen sollen. Das Resultat erteilte einem die Lehre, wie man es hätte machen müssen, nämlich auf jeden Fall anders. Anders kann man es virtuell sehr schnell machen, und es besteht vielleicht die Gefahr, dass diese Schnelligkeit zum letzten Inhalt, zur Botschaft der Arbeit wird: Der spezifische Widerstand des Materials wird ausgetrickst, und die Trickser kennen am En- de, anders als der händisch Bänder schneidende Mensch, keinen Widerstand mehr. Man darf glauben, dass die Technik kein unschuldiges Mittel ist, sondern dass sie die Inhalte, das Zugelassene und das Ausgeschlossene, selektiert, mit auswählt.

Ja, das ist letztlich eine Zukunftsfrage der Medienberufe: die technisch ermöglichte Automatik einerseits und andererseits die alte, nicht überholte Selbstreflexion der Menschen in ihrer Gesellschaft, das, was so schön Öffentlichkeit heißt. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.03.2008)

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