Aber schlafen darf man öffentlich

Durch die Glaswand das scharfe Licht, das vom Meer kommt. Die Passanten, die mir auffallend gleichförmig zu gehen scheinen. Und der Portier, der vor mir steht und sagt, Sie rauchen gern, Sie trinken gern, Sie schreiben, das können Sie im Appartement tun. Tokio: eine Begegnung.

Nach dem Nachtflug über Asien, über ein Landmaß, in dem der Amur ein Regenwurm, der heilige Berg eine Kuppe, das Meer vor der Riesenstadt wie ein Tümpel und der Einflug wie über die Felder vor Schwechat war, fühlte ich mich wie zu Hause. In der Ankunftshalle war alles wie immer. Kein Hinweis auf die Stadt, die den Fremden nicht zeigt, was sie erwartet. Der Chauffeur trug weiße Handschuhe und setzte mich, trotz markiertem Stadtplan und Zettel mit Bezeichnung und Adresse und Reden und Deuten und Gestikulieren und Flehen, konzentriert und zielstrebig und zum Handlungsabschluss sich verneigend, vor einem anderen Gebäude ab.

Schmeiß die Nerven nicht weg, auf den Gehsteigen sind keine Abfallkübel, notierte ich am Beistelltisch im Foyer des Appartementhauses in einer Nische, vor deren Glaswand zur Straße alle paar Minuten Einzelne oder kleine Gruppen, schwarz gekleidet, mit Aktentaschen oder kleinen schwarzen Rollkoffern vorbeigingen. Ist es eine Straße oder eine Gasse, mir fehlt der Maßstab in der Ortlosigkeit eines Zentrums, das wiederum kein Zentrum ist, sondern sich als ein Netz von Zentralitäten ausbreitet. Die Metapher „Weiter als das Auge reicht“ ist lächerlich, ebenso wie „Häusermeer“ falsch ist und „Dschungelgefühl“ genau das Gegenteil trifft, auch eine unüberschaubare Addition von Bauten und Zwischenräumen ist es nicht.

Da ich nach jeweils höchstens vier Stationen einiger Metro- und Japan-Rail-Linien (bei richtigem Umsteigen) alle mir wichtigen Sehenswürdigkeiten erreichte und an Fassaden demonstrativen Konsums und an Schwellen von Headquarters und Botschaften entlangging, war ich im Zentrum, aber wenn Zentrum etwas Abgrenzbares ist und eine Mitte hat, und selbst wenn es keine Mitte hat (der berühmte leere Palast), wo endet dann das Zentrum, das sehe ich nicht. Schnell (empor)gewachsene Stadt. Direktes Nebeneinander und Hintereinander niedriger und hoher Bauten, durch sehr schmale Abstände, fast Lichtschlitze, getrennt, reizvolle Staffelungen und kristalline Formen, die sich aus zusammengefügten Einzelbauten unterschiedlicher Höhe bilden. Und je höher diese entlang einer Straße sind, desto schlanker wirken sie, weil die Grundfläche auch der hohen Gebäude nur in Ausnahmen größer als die der niedrigen Nachbarschaft ist.

In der an sich gut fußläufig benutzbaren Stadt (aber diese Distanzen!) ging ich entlang und gefangen von einer Praxis, die unvergleichlich diskret und dennoch wie ein Korsett spürbar ist, und man kann, als Ankömmling, alles ganz praktisch und zugleich alles in einem Rausch von Zeichen sehen.

Müder Rausch angesichts der Vielfalt

Und es geht gar nicht anders als in einem müden Rausch, angesichts der Vielfalt der Bauten und der Differenziertheit der Figurationen, des Spektrums der Farben mit viel Weiß und sehr hellem, glänzendem Grau, der Ordnung und Buntheit der schmalen Reklamebänder, der ruhigen Abläufe der Großstadt, in der die Autos und die wenigen Fahrräder sanfter zu gleiten scheinen, der kleinteiligen Vielfalt der Erdgeschoßzonen, deren kommerzielle Nutzungen sich nicht selten in den Gebäuden – basarartig – weiter nach oben erstrecken, der Materialien der Bauten (Kombinationen und Variationen aller Elemente der klassischen Moderne, mit gelegentlich älteren Partikeln), der (woanders längst verlorenen) Normalität urbaner Bodenbeläge und lässig geführter Gehsteige, der fast nicht vorhandenen „Möblierung“ des Straßenraums, der subtilen – manchmal krassen – Stile der Passanten, der Stauung und Entladung von Massen an bestimmten Kreuzungen.

Ein „Supermarkt“, in zwei Stockwerke über eine schmale Treppe gestaffelt, in einen engen Grundriss gefaltet, durch Regale x-fach geteilt, bis zur Decke vollgestellt, gestopft voll würden wir sagen, auf einem Bruchteil der in europäischen Städten für Supermärkte üblichen Fläche, distanzlos gegenüber den Waren, Dutzender Champagnerflaschen in einem riesigen, rohen Karton, der direkt vom Containerhafen abgestellt scheint, einer exorbitant teuren, rundum perfekten Melone mit wenig mehr Umraum und Beleuchtung, unzähliger, variierter, fein verpackter Produkte aus Reis, Algen und Fisch, Etuis, die so schön und kostbar sind wie ihr Inhalt. Das Gefühl ist dasselbe wie in den engen Lokalen – ebenfalls Futterale – angesichts der kleinen Schalen, neben denen die ausgelegten Essstäbchen unverhältnismäßig groß erscheinen, der Löffel geformt als (Gabe an den) Kirschmund.

Die Prägnanz der elegant schwarz gekleideten Einzelnen und Gruppen in der U-Bahn, Stehende, Sitzende über Handys gebeugt, träumend, blickversunken, minutenschlafend, dösend in allen Schattierungen und Positionen, Schauspieler und Artisten einer Zirkulation, die müde macht und verschleißt, um das für mich Lächerlichste zu sagen, denn ich dachte den ganzen ersten Tag lang, so kleiden sich die japanischen Männer (Frauen waren die berühmte verschwindende Minderheit, Kinder und Alte sah ich nicht, Behinderte, wie man sagt schon gar nicht), und erst am nächsten Tag verstand ich, das waren die Business People,wie sie in allen Städten und schon in vielen Dörfern der Welt auftreten (aber dieses Schwarz verband sich besser als in den USA und in Europa, abgesehen von Kellnern der alten Schule, mit der Physiognomie und dem Habitus ihrer Träger und mit dem gesamten Stadtbild).

Nie zuvor habe ich in irgendeiner Stadt, auch nur annähernd, eine solche Hegemonie eines artifiziellen Stils in einem hoch frequentierten Stadtraum dieser Dimension erlebt, was zumindest die Rede von einer wahrhaften Global City bekräftigt, die in der Agglomeration, im unmittelbaren Einzugsgebiet, über 35 Millionen verfügt. Ein paar Dutzend dieser Eingespeisten, über Nachrichten und Bilder aus dem Handy gebeugt, Zeitung studierend, ein kleines (zweites?) Frühstück einnehmend, im Separee rauchendoder blicklos blickend, immer schweigend, jede Person für sich, in einer perfekten Verlängerung des Zustands in der U-Bahn, hatte ich im Café nah dem U-Bahn-Ein- und -Ausgang erlebt.

Bei längerem Fahren und genauerem Beobachten hätte ich wahrscheinlich Linien noch massierteren Auftretens und besonders hoch frequentierte Ziele herausfinden können, im Stadtrelief zu vermuten in jenen Objekten, die, häufig in Gruppen, in der Ferne wie kleine Gebirge (Japan liebt die Natur), über der – gustiert von der Panoramablickindoorplattform des Rathaushochhauses: tief unten – ausgebreiteten Stadtlandschaft sich massiv und gelegentlich schön designt erheben.

Die sich abschließenden und Mischung ausschließenden Hochhauscluster der inneren Stadtentwicklung negieren das Prinzip der Stadtstraßen und bilden die innere Antistadt. Überfliegermentalität entsteht, wenn man durch Panzerglas vor sich den Luftraum sieht (ein bisschen Smog) und tief unten, gestochen scharf, die riesige Stadtfläche ausgebreitet liegt, schlanke Verkehrsbänder gespreizt, moosige Flecken zwischen feinsten Reliefs aus Gips und Balsa, dazwischen höhere Skulpturen – Highways, Parks, einzelne Towers, Hochhauscluster – und über dem Horizont der weiße Mond und, so prächtig wie in jeder Hafenstadt, die schwarze Offenheit des Meeres (und was für eines!), bald nur noch Lichtgesprengsel und Dunkelheit (die man unten niemals sieht).

Unten lag die mehrfache Einwohnermenge und Wirtschaftskraft von Nationalstaaten in einem Funktions- und Lebensraum wie ein oder als Modell wofür? Wie viele und welche Schichten und Altersgruppen wohnen in der Kernstadt? Man sieht sie nicht als Bewohner. Der Lebensalltag heißt wahrscheinlich überwiegend „Pendeln“. Was auch die große Müdigkeit der „Gäste“ der U-Bahn- und Japan-Rail-Linien erklärt.

Durch die Glaswand das scharfe Licht (das vom Meer kommt) und die Passanten, die mir jetzt auffallend gleichförmig zu gehen scheinen, und der Portier, der vor mir steht und sagt, Sie rauchen gern, Sie trinken gern, Sie schreiben, das können Sie im Appartement tun, sind Sie Schriftsteller? Alles schien entspannt und freundlich, daher antwortete ich in unveränderter Haltung, zum Schreiben über den Beistelltisch gebeugt, warum dies nicht möglich sei und ich nicht Schriftsteller sei und jetzt schreiben müsse, worauf er lächelte, sich verbeugte und ging.

Dieses Piktogramm: „Do it at home“

Gleich danach erinnerte ich mich an ein Piktogramm in der Metrostation, das eine Flasche über Lippen geneigt zeigte, durch die ein breiter signalfarbener Balken schräg nach oben ging, während unten „DO IT AT HOME“ stand. Aber schlafen darf man öffentlich, dachte ich und fing an, über die riesigen Homelands zu grübeln, deren Dachlandschaft ich im Schnellzug nach Yokohama, der in diesen Zonen über Galerien fährt, unscharf gesehen hatte, großflächige Wohngebiete, synchrone Produktionen des Personals der Stadt, vermutlich in einer Härte und Genauigkeit, die jene im Stadtraum erst ermöglicht.

Der Lieferanteneingang sind die Japan-Rail- und U-Bahn-Stationen, öffentlich zu benutzen und ergänzt durch die an den Hochleistungsliften arrangierten Tiefgaragen für die, verhältnismäßig wenigen, Drive-in-Angestellten, fiel mir plötzlich ein. Und warum entlang der Straßen des Central Business Districts keine Parkstreifen sind, was das Stadtbild elegant und angenehm macht.

Und dann der Taxifahrer, der mich an der richtigen Adresse, außerhalb der Kernstadt, abgeliefert hatte, in einem Erholungsort (ein informelles, elegantes Pflegeheim, ein Sanatorium der japanischen Tradition, die Rückzugsgelegenheiten nötig hat) für die gelegentlich von Frauen begleiteten Männer mit schwarzen Anzügen, weißen Hemden und perfekten Krawatten, über Rituale (und Schwellen) betretbar und begehbar, betreut von Lächeln und Gesten und Verbeugungen und Knien und Kimonos, umgeben von Geometrien, Farben, schlichtem Raum, Flüstern, Schweigen,Schiebewänden, Matten, Perspektiven, aufschiebbaren Fenstern, Vogeltönen, Lichteinfall, Transparenz, Opakheit, Holz, Textilien, Reispapier, Stille, eingehüllt in und bedient von derselben Aufwendung und Genauigkeit, mit der die Energie der Global City permanent abrollt, auf einem Tablett etwa 15 Schüsselchen (und Stäbchen, die das Durchgängige sind), die platziert, gerückt, gedreht und, nachdem man mich beim Essen mir selbst überlassen hatte, in der Rückwärtsbewegung (ein Film) wieder weggebracht wurden.

Von einem wie von der Bühne kommenden Trippeln (die Relation war natürlich umgekehrt) der Gastgeberin, die mir im alten Gehwerk, als ich nach dem Abschied in die falsche Richtung ging (und mich verloren hätte), nachrief und nachlief, ein Stück begleitet, war es (für alle) eine große Freude, als ich in die richtige Richtung verschwand. ■

Geboren 1950 in Schwaz, Tirol. Architekturstudium in Innsbruck, Städtebau- und Planungstheoriestudium in Aachen, an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule. Forschungsarbeiten zur Stadtentwicklung Wiens, langjährige Beratungstätigkeit für die Stadt Wien. Zuletzt bei Sonderzahl erschienen: „Maria hilf! Eine Straße geht ihren Weg“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.05.2014)

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