Bürokratie und Beletage

Ein Haus, drei Familien, unzählige Geschichten und noch viele offene Fragen. Das Palais Schwab, Weihburggasse 30: ein Wiener Gesamtkunstwerk – mit Happy End.

Wie viel Geschichte wohnt in einem Haus? Wenn es sich um ein Ringstraßenpalais handelt, sind sehr leicht die Grenzen von Raum und Zeit außer Kraft gesetzt, und eine vermeintliche Lokalgeschichte wird zum Prisma für die Zeit von 1870 bis heute. Das Palais Schwab in der Weihburggasse 30 steht nur geografisch nicht in der ersten Reihe der um 1870 erbauten Palais an der Ringstraße. Wo gibt es ein Palais, das im Souterrain einen Freimaurertempel aufweist? An welchem Haus kann die Kontinuität zwischen NS-Regime und Republik besser gezeigt werden? Immerhin ist dieses Haus auch das erste Objekt, das im Verfahren der Naturalrestitution an die Erben zurückgegeben wurde.
Wenn es um die Vergesslichkeit unserer Gesellschaft geht, gibt es viele Beispiele. Journalisten haben über den Sitz des Landesarbeitsamtes Wien in der Weihburggasse des Öfteren geschrieben, gelegentlich wurde auf die Diskrepanz zwischen dem Aufgabengebiet der Behörde und dem Ort hingewiesen. Was tut ein Arbeitsamt in einer Beletage? Warum und wie es dazu kam, hat bis zum Schluss niemand thematisiert. So gesehen ist die Weihburggasse ein Gesamtkunstwerk, ein zynisches, ein österreichisches. Und doch auch wieder nicht. Denn wie viele Objekte gibt es, bei denen der neue Eigentümer eine Studie zur gesamten Geschichte in Auftrag gibt? Ein Haus, drei Familien, unzählige Geschichten und trotzdem noch viele offene Fragen.
Als die Stadtmauer geschleift wurde, sollte auf dem Platz, wo heute das Palais steht, eigentlich das Wiener Rathaus gebaut werden, die Baugrube hieß sehr bald „Communalloch“. Für das Rathaus wurde der ehemalige Paradeplatz umgewidmet, Rathaus-Architekt Friedrich Schmidt war über die Verlegung nicht besonders glücklich. Um ihm die Trauer zu versüßen, wurde er an der Errichtung des Rathausparks beteiligt.
Wir schreiben das Jahr 1870, Österreich hat die Schlacht bei Königgrätz zwar verloren, aber der Wirtschaftsboom bringt Bewegung in die verkrusteten Strukturen und bietet neuen Akteuren eine Bühne. Das schnelle Geld an der Börse ist möglich, Inserate versprechen eine „Fructifizierung des Geldes“. Die Weltausstellung steht unmittelbar bevor. Wer baut, muss schnell bauen, denn die Bedingung lautet, dass innerhalb eines Jahres mit dem Bau begonnen werden muss und innerhalb von vier Jahren ein fertiges Wohnhaus auf dem Grund stehen muss.
Gottlieb Schwab besitzt mit seinem Bruder Adolf Textilfabriken in Böhmen. Er ist in Prag geboren und erst Ende der 1860er-Jahre in Wien gemeldet. Sehr rasch taucht sein Name auf den Spenderlisten auf. Zum Beispiel wenn es um das Israelitische Blindeninstitut geht oder wenn eine Organisation für israelitische Witwen und Waisen gegründet werden soll. Schwab unterstützt aber auch die Nordpol-Expedition. Und als ein Hochwasser weite Teile Wiens verwüstet, ist er im Wiederaufbaukomitee.
Gottlieb Schwab hat Geld und findet einen Architekten, Wilhelm Stiassny, einen der gefragtesten jüdischen Architekten der Zeit. Am 1. Juni 1871 kauft Gottlieb Schwab den Grund, wie lange genau gebaut wurde, kann nicht gesagt werden, weniger als vier Jahre auf alle Fälle. Der Hinweis auf die Arbeitsbedingungen der Maurer, Zimmerleute und Steinmetze sei hier angebracht. Der Prunk der Ringstraße ist eine Sache, das Elend eine andere, und das wird gerne ausgeblendet; in den einschlägigen Publikationen gibt es, wenn es hoch kommt, gerade einen Absatz für die Sklaven der Ringstraße.

Freimaurertempel im Souterrain


Gottlieb Schwab hat nur kurz Zeit, sich über sein Palais zu freuen. Bereits 1875 scheint als Besitzer die Familie Liebieg auf, ebenfalls Textilfabrikanten, die es innerhalb weniger Jahrzehnte geschafft haben, einen der größten Betriebe Mitteleuropas zu errichten. Was wäre geschehen, wenn Gottlieb Schwab, der möglicherweise nach dem Bankenkrach 1873 einen Finanzengpass hatte, sein Palais nicht so schnell hätte verkaufen müssen? Vielleicht hätte die Geschichte eine andere Wendung genommen.
Doch der Freimaurertempel im Souterrain des Hauses wäre sicherlich eingeweiht worden. Als Schwab den Baugrund kaufte, wurde in Prag von einigen Persönlichkeiten ein Versuch unternommen, die Freimaurerei zu legalisieren. Der Statthalter hätte einer Reaktivierung der Loge „Zur Wahrheit und Einigkeit“ zugestimmt, wenn sich die Freimaurerbrüder unter das Vereinsgesetz gestellt hätten, welches eine gelegentliche Überwachung der Vereinstätigkeit durch Polizeibeamte vorsah. Das konnten sich die Brüder in Prag nicht vorstellen. Vielleicht wollte Gottlieb Schwab einen geheimen Treffpunkt in Wien schaffen mit einer geheimen Treppe, die im Zuge der kürzlichen Renovierung freigelegt wurde.
Nach Gottlieb Schwab beziehen Freiherr Johann Liebieg und seine Freiin die Beletage. Der Textilfabrikant hatte Österreich erfolgreich bei der Weltausstellung in Paris vertreten. Da die Schlacht von Königgrätz zum Teil auf den Besitztümern der Familie ausgetragen wurde, sah es der Vater des Besitzers der Weihburggasse als seine vaterländische Pflicht an, auf eigene Kosten Spitäler zu errichten und die Verwundeten zu versorgen. Der Dank des Kaisers in Form eines Adelstitels war die Folge.
Freiherr Johann Liebieg war nicht nur ein guter Geschäftsmann, sondern verstand auch etwas von PR, und so dokumentierte er in den Broschüren, in dem die Unternehmungen dargestellt wurden, wie wichtig ihm das soziale Gewissen war. Häuser für die Arbeiter, Kindergärten und Schulen ließ er zum Beispiel errichten. Dass dies nur eine Seite der Medaille war, kam 1870 zutage, als Arbeiter der Liebiegschen Fabrik in Svartov streikten und die Polizei den Aufstand mit Waffengewalt niederschlug. Dieses brutale Vorgehen erregte die Öffentlichkeit weit über die Grenzen hinaus, und dass in unmittelbarer Folge im Reichsrat das sogenannte Koalitionsgesetz beschlossen wurde, was als Geburtsstunde der Gewerkschaftsbewegung gilt, kann auch in Zusammenhang mit diesem Streik gesehen werden, zumindest bereitete die Berichterstattung dafür den Boden vor. Die Geschichte eines Palais in Wien und historische Bezüge ohne Ende.
Der Weg der dritten und letzten Familie, die in diesem Haus wohnte, war länger und führte über den Umweg von Rudolfsheim-Fünfhaus und Altmannsdorf in die Weihburggasse. Die Familie von Herrman Schnabel war im Häutehandel tätig. Der Weg aus dem Ghetto in Trebic führte nach Wien, obwohl es Juden noch nicht überall in der Residenzstadt erlaubt war zu wohnen. Jüdischen Fabrikanten war dies in Rudolfsheim-Fünfhaus möglich. Als der Vater von Herrman Schnabel in Trebic 1853 stirbt, vermählt sich der Sohn kurze Zeit später bereits in der Synagoge in diesem Vorort von Wien. Dass die Familie auf zwei jüdischen Friedhöfen begraben ist, nämlich auf dem Währinger Friedhof und auf dem Zentralfriedhof, weist auf diesen Wandel und Aufstieg. Wie hatte doch der Vorsteher der Israelitischen Kultusgemeinde, Adolf Jellinek, bei der Eröffnung des Zentralfriedhofes gesagt? „Die stummen Leichensteine weisen einen Weg in eine neue Zeit der vollkommenen Gleichberechtigung.“
Im Jahr 1907 kauft Heinrich Schnabel die Altmannsdorfer Lederfabrik, und als Liebieg stirbt, sind auch die Schnabels längst im Zentrum der Stadt angekommen, 1917 erwerben sie das Palais Schwab. Die Söhne von Heinrich haben sich bereits 1916 taufen lassen. Mit der weit verzweigten Familie der Schnabels, Herrman und Fanni Schnabel hatten neben Heinrich noch zehn weitere Kinder. Damit kommen weitere kulturgeschichtliche Bezüge auf die Bühne der Weihburggasse, denn eine Tochter ist mit Ferdinand Schmutzer, dem Maler und Fotografen, verheiratet, eine andere mit Josef Broch – und somit Mutter des Dichters Hermann Broch.
Heinrich Schnabel stirbt 1936 und muss nicht mehr erleben, wie die Nazis an die Macht kommen. Bereits im Juni 1938 wird das Palais „arisiert“. Die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung übernimmt das Haus. Das gesamte Inventar wird katalogisiert, ein Teil verkauft und ein Teil auf Lager gelegt. Dank der NS-Bürokratie kann die gesamte Einrichtung der Beletage rekonstruiert werden, vom Tabernakelschrank bis zu den Barocksesseln, den Nippes und Figuren und den neun Rehköpfen, die die Besucher im Eingang empfingen.
Da die Nazis dem Raub einen legalen Anstrich geben, werden auch Rechtsanwälte benötigt, die die jüdischen Familien vertreten. Für die Familie Schnabel wird ein Dr. Albrecht Alberti aktiv. Der niederösterreichische Heimatschützer hatte im April 1938 seine Männer vom Heimatschutz aufgerufen, jetzt mit den Nazis zu marschieren, da eine neue Zeit angebrochen sei. Alberti wickelt die Arisierung des Palais und der Lederfabrik ab. Sein Honorar beträgt mehr als 100.000 Reichsmark. Dies scheint den Behörden in Berlin übertrieben, doch auch auf die Hälfte muss er warten, und so schlägt er vor, einige wertvolle Möbelstücke, Bilder und Teppiche aus dem Palais Schwab zu übernehmen. Wo stehen die Möbelstücke heute? Sind sie tatsächlich alle bei der Zerstörung des Heinrichshofs, in dem Alberti eine jüdische Rechtsanwaltskanzlei „übernommen“ hatte, vernichtet worden?

Rechtsstreit um die Rückgabe


Einigen Mitgliedern der Familie Schnabel gelingt die Flucht aus der „Ostmark“ nicht, sie werden ermordet. Die Söhne von Heinrich Schnabel und ihre Familien entkommen nach England, Zagreb und Buenos Aires.
Als die Nazis besiegt und vertrieben sind, übernimmt die Republik die Büroräumlichkeiten in der Weihburggasse. Aus dem deutschen Reichsarbeitsamt wird das österreichische Arbeitsamt. Für die Erben beginnt ein Rechtsstreit um die Rückgabe, der neuneinhalb Jahre dauert. Enttäuscht und ohne Hoffnung, jemals zu ihrem Recht zu kommen, schließen sie einen Vergleich: eine günstige Gelegenheit für die Republik Österreich. Das Vergessen beginnt. Was sucht ein Arbeitsamt in einer Beletage?
Es ist Ironie, dass es einer schwarz-blauen Koalition bedurfte, um ein Restitutionsgesetz zu beschließen. Es trat mit dem Entschädigungsabkommen von Washington in Kraft. Das Palais Schwab war das erste Objekt, das an die Erben zurückgegeben wurde und bei dem die Kommission eine extrem ungerechte Entscheidung in den 1950ern feststellte. Im Jahr 2003 fällt die Kommission diese für Österreich historische Entscheidung. Bis zur tatsächlichen Rückgabe sollte es aber noch weitere zwei Jahre dauern.
Jetzt ist die Renovierung abgeschlossen, die ersten Mieter ziehen in das vorbildlich revitalisierte Haus ein, die Betreiber sind unter anderem auch stolz auf das „Greenbuilding-Zertifikat“. Die Geschichte ist erforscht, eine Tafel wird Hinweise auf die ereignisreiche Geschichte liefern. Ein zuweilen zynisches Gesamtkunstwerk mit einem Happy End, die Weihburggasse 30, in unmittelbarer Nähe des Stadtparkes. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.05.2014)

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