18, das bedeutet „Leben“

Kaffee mit Kardamom. 398 jüdische Frauen in der bildenden Kunst. Ein Pensionistenheim voller Handys. Und dazwischen Angst– oder Apathie. Israel: Versuch einer Annäherung.

Sie dürfen jetzt wieder lächeln“, sagt die Sicherheitsbeamtin der El Al am Flughafen Wien-Schwechat, nachdem ich eine halbe Stunde lang zu erklären versucht habe, warum ausgerechnet ich ausgerechnet nach Israel fliegen will. Israelis wirken zumeist cool und entspannt und lächeln viel, aber das weiß ich erst auf der Rückreise. „Was wollen Sie zwölf Tage in Jerusalem machen? Wollen Sie wirklich nicht andere Orte besuchen? Alle Touristen reisen herum“, bemerkt der Lehrling der Sicherheitsbeamtin entrüstet. „Warum wollen Sie überhaupt Israel besuchen?“ Diese Frage kommt in vorwurfsvollem Ton wieder und wieder, zuletzt bei der Passkontrolle um ein Uhr in der Nacht am Flughafen Ben Gurion. „Ich war wirklich nur ganz kurz in Polen und bin schon wieder zurück“, verteidigt sich ein Geschäftsmann am Nebenschalter.

Beim Anflug übers Meer leuchten Tel Avivs weiße Häuser wunderschön in der Nacht, jeder der hohen Bäume wurde der Wüste abgetrotzt. Ich stehe unter einem Betondach vor dem Flughafen. Eine junge Israelin sitzt auf einem metallenen Pfosten und telefoniert per Handy mit Wien. Ihre Eltern sind nach Wien übersiedelt, sie selbst will erst noch in Tel Aviv die Schule fertig machen. „Pass mit den Arabern auf“, erklärt mir die 17-Jährige. „Araber sind furchteinflößend. Sie wollen unheimlich sein. Ihre Fenster sind grün. Sie malen ihre Fensterscheiben grün an!“ „Du wirst dich umstellen müssen“, sage ich. „Die Wiener fürchten sich eher vor Afrikanern. Na ja, auch vor Frauen mit Kopftuch.“

Im Klub der österreichischen Pensionisten in Tel Aviv herrscht reges Treiben. Hier, in der Esther-Hamalka-Straße, treffen sich die vor den Nationalsozialisten geflüchteten österreichischen Juden und solche, die später emigrierten. Sonntags gibt es ein „Literaturforum“ mit anschließendem Blutdruckmessen, jeden Dienstag Seniorenturnen und „Essen in Gesellschaft“ und donnerstags „Bridge für Fortgeschrittene“. Die Holzstühle sind gepolstert, mit Blumenüberzug. „Ja, du darfst dich in die erste Reihe setzen“, sagt Yacov Stiassny, der die Veranstaltung koordiniert, zu einer der Damen. „Ich will hinten sitzen, wenn wir das dürfen“, ist die Antwort. „Nein, nicht in die erste Reihe“, winkt eine andere lässig ab. „Sie sitzen auf meinem Platz“, sagt noch eine, aber es wirkt nicht. „Wo ist mein Platz? Sitze ich hier oder sitze ich nicht hier?“ Die schicke Dame mit dem großen Hut rückt etwas zur Seite und umarmt die Skeptische herzlich.

Hedwig Brenner aus Haifa präsentiert ihre Neuerscheinung, „Jüdische Frauen in der bildenden Kunst“, es ist bereits der dritte Band. „Bitte erstmal alle die Handys ausschalten, damit wir ungestört sind“, sagt Yacov vom Podium herunter. „Die Veranstaltung wird zirka eine Stunde und zehn Minuten dauern. Wir sind um die hundert Leute. Bitte nicht untereinander reden.“ Arad Benkö, der Leiter des österreichischen Kulturforums, hält eine Rede. Satzfetzen wehen herüber: „. . . stehen für ein Österreich, das untergegangen ist, dessen Spuren aber bis heute reichen“ und „alte Wurzeln sprießen, junge Pflanzen blühen“. Der Herausgeber des Buches, Professor Wiehn, im grauen, dreiteiligen Anzug, schwenkt das Mikrofon hin und her: „In diesem unkonventionellen Kunstlexikon sind 398 Künstlerinnen und sieben Fuß- und Mundmalerinnen vertreten.“ Anschließend zählt er die Künstlerinnen nach Geburtsjahrgang durch und erwähnt, welche im vorvorigen Jahrhundert geboren sind. „Am stärksten ist der Jahrgang 1948 vertreten. Von 73 Frauen haben wir kein Geburtsdatum gefunden. Und 48 der hier veröffentlichten Frauen sind in den Todeslagern umgekommen. Die Malerei ist mit 184 Künstlerinnen am stärksten vertreten.“ Ein Handy läutet. „Täglich beginnen Neue mit der Kunst, daher erheben wir keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Hedi Brenner hat sich verdient gemacht! Beifall!“ Alle klatschen.

Eine Dame hört mit dem Hörapparat ihr Handy ab. Alle machen ständig Bemerkungen, besonders als die Pianistin aus Czernowitz Chopin spielt („Schon wieder, das kennt doch jeder!“), die jüngeren Leute kichern. Äußerst lebhaft ist die Stimmung, beinahe ausgelassen. Bilder der Künstlerinnen werden gezeigt, „aber nur von denen, die hier sind“. Lea Dolinsky, ganz in Schwarz mit Spitzenhemd, arbeitete 18 Jahre als Architektin und ist nun schon seit 25 Jahren in der Bildhauerei tätig. Sie ist bekannt für ihre Skulpturen in Schulen und für Springbrunnen im öffentlichen Raum. Im Mai hat sie eine Ausstellung in New York, im November in Argentinien. „Schaut in meinem Tagebuch auf meiner Website vorbei!“, fordert Lea. „Bitte, danke, Applaus“, sagt Yacov und leitet zur nächsten Künstlerin über. „Wer in Israel lebt, muss Humor haben, denn wirklich kann nur ein Optimist hier leben, wo 70 Kilometer entfernt Raketen einschlagen.“ Ein Handy läutet laut: „Hallo!“ Yacov: „Wenn man einen Israeli fragt, wie es ihm geht, was sagt er? Gut. Und mit zwei Worten? Nicht gut.“ Die meisten hier haben Lachfalten. „Ich bin keine ausgesprochene Feministin, nur weil ich drei Bände mit mehr als 1000 jüdischen Künstlerinnen veröffentlicht habe“, vertraut mir Hedwig Brenner später mit einem freundlichen Lächeln an. „Aber bei den Männern, den jüdischen Künstlern, wäre es mir mit mehr als 10.000 zu viel geworden.“ Schließlich ist sie auch schon 90 Jahre alt.

Leicht ist es, sich in den engen Gassen der Altstadt von Jerusalem zu verlaufen. Man muss öfter schwarz gekleideten Männern mit Hüten ausweichen, die miteinander plaudernd rasant um die Ecke biegen. Auf der Treppe zur Klagemauer wird wie von Zöllnern oder Wegelagerern auf jedem Treppenabsatz bis hinunter um Geld gefragt. Weit ist der Blick über die Hügel, in der Ferne leuchtet die Kuppel des Felsendoms auf dem Tempelberg, unten stehen die Betenden vor der Mauer. Über dem Berg wirken die dunklen Wolken so, als ob eine freundliche Macht quer über dem Geschehen thront, obwohl hier in 3000 Jahren Ströme an Blut vergossen wurden. Dicht gedrängt stehen Frauen direkt vor den alten Steinen, während über ihnen Spatzen in der Sonne sitzen. Oben bahnt sich ein alter, schwarz gekleideter Mann mit Bart laut schimpfend seinen Weg durch eine afrikanische Touristengruppe.

In dem bunten Gemisch an Menschen, die die Altstadt bevölkern, lösen sich Zu- und Einordnungen auf. Es bleibt allein der optische Eindruck. Im Basar um die Ecke braut ein alter Mann einen nach Kardamom riechenden Kaffee auf einem Gaskocher. Das Steingewölbe ist kalt und feucht. Der Küchenbereich ist durch einen Duschvorhang mit Delfinen darauf vom Sitzbereich getrennt. 50 Jahre arbeitet der alte Jordanier schon im Basar, neun Kinder hat er, eine Tochter lebt in Kanada. Stolz zeigt er Fotos von sich in Kanada her. Man sieht einen Wald oder Schnee auf der Autobahn. Im Vordergrund steht der alte Jordanier, immer mit dem gleichen Blick in die Ferne. Dankesbezeugungen von amerikanischen Kunden sammelt er in einem Umschlag. „Your Kebab was great.“

Himmelbilder in Rosa und Blau

Ein paar Marktstände weiter liest ein Verkäufer Erfolgsstories muslimischer Menschen in einem englischen Magazin. Badawi repariert auch Laptops, und im Internet kann man auf Yahoo unter „fromjerusalem“ seine Fotos bewundern. Lauter Himmelbilder in Rosa und Hellblau. Manchmal mit schwarzen, scherenschnittartigen Konturen davor. Die Bilder ähneln einander sehr, nur die Bildunterschriften sind unterschiedlich. Ein paar Steinstufen höher kaufe ich mir einen silbernen Kettenanhänger, die schützende Hand mit den hebräischen Zeichen der Zahl 18, die „Leben“ bedeutet, darauf. Ein zweiter Anhänger, der genau gleich aussieht, hat statt den Schriftzeichen einen blauen Stein in der Mitte. Es ist die Hand Fatimas, ein muslimisches Schutzzeichen zur Abwehr des Bösen. Weil ich beide nehme, kriege ich von dem erfreuten Verkäufer einen Spezialpreis, zusammen kosten sie 100 Shekel. Der Wind bläst, als plötzlich die Dunkelheit hereinbricht.

„Die Situation in Jerusalem wird immer unheimlicher. Bezüglich der acht erschossenen Schüler vom 6.März: Wir sind alle schon ein bisschen apathisch geworden, was traurig ist. Diese Talmudschule ist ein Platz der religiösen Rechten. Die Getöteten waren alles Jugendliche“, schreibt eine Bekannte aus Jerusalem nach dem Attentat Anfang März per E-Mail. „Dieser arabische Täter stammte aus einer reichen Familie aus Ostjerusalem. Ich denke, ich kannte ihn vom Sehen. Es ist für mich noch trauriger, wenn Leute aus Ostjerusalem, deren ökonomische Situation ganz anders ist als die ihrer ,Brüder‘ aus dem Gaza-Streifen, so etwas tun. Aber der Hass ist so groß, dass es ihnen egal ist. Vor einigen Jahren war ein Selbstmordattentäter im Restaurant der Universität. Ich verließ das Gebäude wirklich nur fünf Minuten vor der Explosion. Der Mann war ebenfalls aus Ostjerusalem und arbeitete selbst in dem Restaurant. Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll, über uns, über sie, über unser Leben Seite an Seite.“

In Wien trage ich für meinen persönlichen Segen sicherheitshalber beide Hände an einer Kette. „Mit den zwei Händen kann man klatschen“, bemerkt ein Kind. Oder sich schlagen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.05.2008)

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