Kein Penis, kein Leben

„Expedition Europa“: wie Nathan Verhelst zu Tode kam. Vergangenes Jahr ließ sich ein belgischer Transsexueller euthanasieren, nachdem der Aufbau eines künstlichen Penis gescheitert war.

Vergangenes Jahr ließ sich ein belgischer Transsexueller euthanasieren, nachdem der Aufbau eines künstlichen Penis gescheitert war. Als Katholik hatte ich gleich eine Meinung parat: Zuerst erzählt man den Leuten, wenn euch euer Geschlecht nicht zusagt, dann nehmt euch ein anderes. Und wenn die Operation nicht hinhaut, dann könnt ihr euch die Todesspritze setzen lassen; auch da habt ihr die freie Wahl. Und doch ging ich dem Fall nach. Nathan Verhelst, verstorben mit 44, erscheint auf Aufnahmen ausgeprägt männlich, als eleganter Herr, der auf seiner Abschiedsparty genussvoll an einer Zigarre zieht. 2003 ließen sich in Belgien 235 Personen euthanasieren, 2013 waren es schon 1816. Das Gesetz erlaubt Euthanasie auch bei unheilbaren psychischen Leiden. Etwa zehn Prozent der Fälle sind, wie Verhelst, körperlich gesund.

Ich fuhr hinter den Brüsseler Autobahnring, nach Wemmel, ins „LevensEinde InformatieForum“. Die Euthanasieberatung wirkte wie ein Wohnhaus. In der offenen Garage des Einfamilienhauses gegenüber bügelte eine Mama, das blonde Töchterchen hüpfte um sie herum. Ich betrat den Flur. Auf einem Prospekt eine weißhaarige Oma, lächelnd. Mir war unheimlich. Einer der zwei Mitarbeiter vom „LevensEinde“ führte mich in einen Besprechungsraum. Der Euthanasieberater, um die 40, früher Krankenpfleger in der Palliativmedizin, in einer Leinenhose, das Hemd aufgekrempelt. Er musste in meiner Anwesenheit zwei Mal hinaus, und er nahm vier Anrufe entgegen. Ab dem dritten Anruf blieb er sitzen. Er pflegte mit leicht gedämpfter Stimme zu telefonieren, empathisch, aber entschieden.

Die beste Selbstmordprävention

Die allermeisten Patienten würden von ihrem behandelnden Arzt euthanasiert, erklärte er. Nur etwa 200 Menschen kommen pro Jahr in die Euthanasieberatung, „um ihre Geschichte zu erzählen“: „Sie kommen, weil sie verzweifelt sind.“ Das Gespräch verlief wegen der Anrufe stockend, kurz vor Feierabend brachte der Berater aber sein stärkstes Argument unter: 78 Prozent der Beratungen, sagte er, enden nicht mit Euthanasie: „78 Prozent bekommen eine Alternative. Die beste Selbstmordprävention ist, wenn man den Leuten die Möglichkeit gibt zu reden.”

Als ich aus der Euthanasieberatung trat, leuchtete die Laterne im Vorgarten, vier Stunden vor Sonnenuntergang. Die anderen Laternen in Wemmel leuchteten nicht. Ich sah den Berater nach Hause fahren, in seinem Kleinwagen, mit seinem einfachen Krankenpflegergehalt. Die Arbeit erfüllte ihn, er wollte sie bis zur Pension machen. Ich war überzeugt, dass er seinen Kindern ein guter Vater war.

Ich fuhr nach Antwerpen. Die Kindheit der Nancy Verhelst ging mir durch den Kopf. Die Mutter hartherzig, die älteren Brüder vergewaltigten Nancy über Jahre. Ich traf einen Videoreporter, der Verhelst mit der Kamera begleitet hatte. Als ich mich daran gewöhnt hatte, dass der flapsige Familienvater die traurigsten Dinge mit einem Dauergrinser erzählte, stieß er mich mit einem Geständnis ab: „Ich weiß, es ist ziemlich gestört – ich habe Nathans Sterben gefilmt.“

Ich fragte ihn: „Hatte Nathan Schwierigkeiten, drei Ärzte zu finden, die ihm laut Gesetz ein unheilbares Leiden attestieren müssen?“ Er schüttelte entschieden den Kopf: „Nein.“ In Flandern findet man schnell drei Ärzte, 80 Prozent der Euthanasiefälle entfallen auf Flandern. „Das Leben ist mehr als ein Penis“: So wurde Nathan vom Arzt getröstet, als der Körper den künstlichen Penis abstieß. Verhelst empfand das anders. Er war im Übrigen nicht der einzige Transsexuelle, der den Tod sucht. Da ist noch Nathans Freundin Dora, 54, die vor 33 Jahren die zweite Geschlechtsumwandlung in der Geschichte Belgiens bekam. Doras Euthanasie ist längst bewilligt. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.07.2014)

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