Das kecke Alter

Wer heute geboren wird, hat gute Chancen, seinen Hunderter zu erleben. Wir entwickeln derzeit ein „Viertes Lebensalter“, und unsere Aufgabe ist es, herauszufinden, was wir in diesem hohen Alter noch lernen und schaffen können. Ein Plädoyer für das Leben.

Picasso war über 80, als er auf die Frage einer Journalistin, wie alt er denn sei, antwortete: „Je n'ai pas d'âge.“ Er habe kein Alter. Er wollte damit ausdrücken, dass er mitten im Schaffen sei, welches durch Jahreszahlen nicht charakterisiert werden könne. In einer solchen Haltung, äußerliche Begrenzungen zurückzuweisen, stecken große Entwicklungschancen. Der Alterungsprozess des Körpers muss nicht jenem des Gehirns entsprechen. Arbeiten unter gesteigertem Einsatz des Gehirns ist eine Art Aufrechterhaltung des Selbst. Die daraus entstehende eigene Leistung trägt viel zur weiteren Selbstermutigung bei, auch wenn der Körper schwächelt.

In den späten Lebensphasen verringern sich zwar wichtige Kräfte, es tun sich aber auch neue Möglichkeiten der Entfaltung auf – im Denken und Fühlen und durch kritische Rückblicke auf das gelebte Leben. Aber die Rückschau allein genügt nicht, sie schädigt, wenn sie selbstgefällig wird. Sie hat ihre größten Chancen im Spannungsfeld von der Gegenwart zur Zukunft. Es ist längst nicht mehr so, dass man im Alter keine Zukunft mehr hat, wie Simone de Beauvoir noch glaubte. Immerhin schleppte sie Nacht für Nacht den schon behinderten Jean Paul Sartre zu dessen Belebung um die Häuserblocks ihrer beider Wohnumwelt in Paris.

Wer heute geboren wird, hat gute Chancen, seinen Hunderter zu erleben. Wir entwickeln derzeit ein „Viertes Lebensalter“, und unsere Aufgabe ist es, herauszufinden, was wir auch in diesem hohen Alter noch lernen und schaffen können, was wir zu gewinnen vermögen an innerer Einsichtskraft. Jeder Mensch muss sich rechtzeitig klarmachen, wie er oder sie gewisse Kräfte erhalten kann. Dabei sollten wir uns keinen Illusionen hingeben: Anti-Aging oder „forever young“ gibt es nicht, da wir in jedem Moment unseres Lebens altern. Im späten Leben wird jeder Tag zu einem Rehab-Tag. Es wird notwendig, sich mit der eigenen Gesundheit neu auseinanderzusetzen und dabei doch die Gelassenheit nicht zu verlieren.

Damit etwas entstehen kann, muss sich etwas verändern, das war schon die Einsicht in der europäischen Antike, erstmals ausgesprochen durch Heraklit, dass alles in Fluss sei (panta rhei). Zwei grundlegende Tugenden, die Aristoteles in seiner Ethik beschrieb, gilt es, angesichts dauernden Wandels besonders zu entwickeln: Klugheit und Tapferkeit, um mehr oder weniger starke Einschränkungen im Lebensvollzug, aber auch Schmerzen ertragen zu können. Tun und Sein lassen – bei Schwierigkeiten nicht gleich aufgeben –, das sind die Ziele, die Aristoteles in seiner Ethik formulierte.

Wir haben heute im Schnitt in West- und Mitteleuropa 25 bis 30 Jahre nachberufliche Lebenserwartung und in dieser Phase ein mindestens 15- bis 20-jähriges Tätigkeitspotenzial. Dieses Potenzial ändert sich zwar von Jahr zu Jahr, aber bis zu einem gewissen Grad kann man dieses Potenzial trainieren, körperlich und geistig, und es dadurch teilweise aufrechterhalten.

Große Mängel in der Ermutigung

Wird vom „Vierten Alter“ gesprochen, von dessen Entwicklungsfähigkeit und sozialer sowie individueller Stärkung, so muss herausgestellt werden, dass der radikale Anstieg der mittleren Lebenserwartung beim Menschen und die dadurch erzielte hohe Rate des Überlebens jenseits des 80. Lebensjahres weder medizinisch noch sozial als eingebettet respektive rundum erlebnisfähig bezeichnet werden dürfen. Die Menschen leben länger, als sie umfassend betreut und mitmenschlich angesprochen werden. Die Lebenserwartung läuft uns davon. Die Kultur hat diese Langlebigkeit noch nicht erfasst. Wir müssen schon ab 70+ mit einer Rate von fast 30 Prozent mit Alzheimer und Parkinson in verschiedenen Graden rechnen.

Für die Qualität der Pflegeleistungen bestehen durch zu geringe Ausbildung sowie zu geringe soziale und ökonomische Anerkennung der Pflegehilfe große Mängel in der Aktivierung und Ermutigung der Hochbetagten. Die Familienhilfe für Pflegeleistungen kann für die Hochbetagten, besonders wenn sie nicht im Familienverband leben, als stark eingebrochen bezeichnet werden.

Die große deutsche Alterspsychologin Ursula Lehr meinte, es sei möglich, die Kompetenzen der Daseinsbewältigung im späten Leben zu erhöhen. Sich keine Illusionen zu machen, sich aber um einen wachen Geist zu bemühen, so kann man im Alter tätig bleiben oder werden. Der wache Geist drängt darauf, sich den Herausforderungen des Alterns zu stellen und sich immer wieder mit geänderten Bedingungen auseinanderzusetzen. Dazu muss der Mensch sich Ruhe und Überlegungszeit gönnen.

Ich möchte den Begriff des Lebens für das Alter in den Vordergrund stellen. Im Sprachwörterbuch fand ich zu meinem Erstaunen einen Gedanken, der weiterführt: Dass „bios“ im Griechischen „Leben“ bedeutet, wissen wir alle, wir wollen natürliche und lebensfreundliche Bio-Waren kaufen. Die indogermanische Grundform, aus der „bio“ hervorging, ist „qui“. Das daraus abgeleitete lateinische Wort war „vita“. Die Goten sagten „quek“, und im Althochdeutschen wurde das zu „keck“. Dieses althochdeutsche Wort entspricht einer zeitgemäßen Einstellung zum Altern. Das Leben ist im Grunde Widerstand gegen Verfall und Ordnungsverlust.

Jeder Mensch kann im Alter keck werden – wenn er die Lebenskräfte der Erneuerung wahrnimmt und sie in einer an sich selbst angepassten Weise einsetzt. Im Grunde des Herzens spüren wir alle ein Leben lang die Sehnsucht, uns zu ändern, etwas Neues kennenzulernen, das eigene Dasein zu erweitern. Das wäre eine alternsgerechte Grundhaltung.

Der durch die Behinderung im Lebensalltag eingeschränkte Mensch bringt allerdings die Begeisterung für Änderung oft nicht auf. Lustvolles Altern verlangt die Bereitschaft zur Veränderung und auch die Fähigkeit und den Willen, sich zu wandeln. Wandlung heißt, Fantasie zuzulassen, etwas Neues zu erleben und auch zu schaffen. Dazu braucht es eine „kecke“ Haltung, um den Schwächen des Alters nicht zu erliegen. Keck zu sein, das heißt, seinen Alltag sorgfältig zu ordnen, Verluste im Kurzzeitgedächtnis so gut wie möglich zu vermeiden und dagegen anzugehen.

Sigmund Freud betonte in seinem Spätwerk „Die endliche und die unendliche Analyse“, wie zentral wichtig es sei, Einstellungen (auch sich selbst gegenüber) immer wieder zu überprüfen und einer „Ichumarbeitung“ zu unterziehen. Ich folgere daraus: Das Ich muss im späten Leben mehr und mehr zur Selbsterneuerung beitragen. Dazu muss man das Ich ausdrücklich stärken. Sonst bleibt das Ich, leider auch das „aufgeklärte“, in einem Gefängnis von „Wiederholungszwängen“ stecken oder wird von Es-Impulsen, Schüben von unkontrollierter Triebhaftigkeit, ins Eck gedrängt. Schöpferisches Altern braucht Mut zum Experiment bei begleitender kritischer Wahrnehmung und Beobachtung der eigenen Fähigkeiten. In jedem Menschen schlummern unzählige Möglichkeiten, ein anderer zu werden, als er tatsächlich geworden ist. Das heißt allerdings, Verhalten nicht nur zu optimieren, nicht nur zu kompensieren, nicht nur zu versuchen, wie man sich besser den Gegebenheiten anpassen kann, sondern auch gezielt Wagnisse einzugehen. Es ist schwer, Risikobereitschaft und Achtsamkeit sich selbst gegenüber und der Umwelt, besonders geliebten Menschen gegenüber, zu verbinden. Es ist in unserer schnelllebigen Welt besonders wichtig, sich stets zu korrigieren. Wir können nicht früh genug damit anfangen, das zu üben.

Zentral wichtig ist, Einstellungen gegenüber der Partnerin, dem Partner, den Menschen, die man liebt, den Freunden, den Kindern, den Schwiegerkindern, den Enkeln zu überprüfen – nicht nur einmal, sondern immer wieder. Das ist leichter gesagt als getan! Aber lieber Änderungen durchstehen als stecken bleiben. Besonders dort, wo durch Flexibilitätsverluste die körperliche Bewegungsfähigkeit eingeschränkt wird, ist geistige Wandlungsfähigkeit erforderlich. Es wird mit Recht gefordert, dass die Gesellschaft ältere Menschen besser integrieren solle. Aber die Älteren und Ältesten müssen sich auch in sich selbst integrieren. Es ist ein Ringen um Vervollkommnung. Das Ringen um die eigene Integration ist ein innerer Kampf, um einander Widerstrebendes miteinander zu verbinden, auch wenn dadurch Spannungen und Paradoxien entstehen. Ein solcher Kampf setzt voraus, dass man auf Verschiedenes verzichtet, zum Beispiel auf Meinungen, die man früher hatte. Es ist kühn, sich von Früherem zu distanzieren, um dadurch einen inneren Veränderungsprozess einzuleiten. Manches fällt weg, manches kommt neu dazu.

Die drei L: Laufen, Lernen, Lieben

Als Leitgedanke mag dienen, von den „drei L“ zu sprechen: Laufen, Lernen und Lieben. Vielleicht ergibt sich daraus eine letzte Versöhntheit durch Lachen oder Lächeln. Das „Laufen“ steht nicht nur für sportliches Joggen, sondern ganz allgemein dafür, in Bewegung zu bleiben – man kann ja auch spazieren, Treppen steigen, wandern oder walken gehen. Auf das Mitnehmen des Körpers kommt es an und auf dessen stete Förderung. Wenn das Gehen schwer zu fallen beginnt, muss man es üben, auch wenn man nur um einen Häuserblock herumgeht. Je mehr Defizite er hinnehmen muss, desto mehr Zuwendung braucht der Körper. Søren Kierkegaard sah gegenüber dem Unzureichenden Humor als Ausdruck tiefster Lebenseinsicht.

„Lernen“ bedeutet, sich auch im Alter stets mit Neuem auseinanderzusetzen. Lernen war schon für den Philosophen und Politiker Solon das Geheimnis des Alterns. Die körperliche und die geistige Beweglichkeit – beide sind Voraussetzungen für die „Liebe“. Lieben zu können ist die höchste persönlich und direkt ausübbare Kunst des Menschen. Im Alter können wir uns nochmals in der Fähigkeit üben, Beziehungen zu vertiefen. Wir können üben, uns im anderen wiederzufinden, und auch dazu beitragen, dass der andere mit unserer Hilfe zu sich selbst findet. Wer sich ändert, gibt dem anderen, auch dem vertrauten und dem geliebten Menschen, Veränderungs- und Selbstwerdungs-Chancen. Lernen heißt auch, neu sehen zu lernen. Dazu ist es nötig, sich aus dem Mittelpunkt zu rücken. Menschen, die einem ganz nah sind, gilt es neu zu erkennen: Beziehungen können sich glücklich entwickeln, wenn ich den anderen in seiner Andersartigkeit anerkenne und entdecke und wenn ich beginne, mich neu um ihn oder sie zu bemühen.

Wenn man für jemanden da sein will, dann muss man für die Art des anderen da sein wollen. Lieben bedeutet, dem anderen das geben zu wollen, was er oder sie tatsächlich braucht – und nicht das, wovon ich glaube, dass er oder sie es braucht. Man kann sich auch im Alter neu verlieben, auch in den Menschen, mit dem man vielleicht schon lange zusammenlebt. Teilnehmende Liebe ist ein großartiges Geschenk. Körperlicher Liebesausdruck ist, wie in allen anderen Lebensphasen, auch im Alter wichtig. Eine zärtliche Liebesbeziehung kann in hohem Maße zu unserer Lebensfreude und Gesundheit beitragen. Körperliche Nähe unterstützt nicht nur das konstruktive Nachdenken über sich selbst. Nähe ermutigt und fördert ganz entscheidend die Bemühungen um den eigenen und den geliebten anderen Körper. Beziehungen können während aller Lebensphasen ein wesentlicher gesundheitsfördernder Faktor sein. Sie ermutigen und stützen entscheidend die Bemühungen um den eigenen Körper, von der Gehfähigkeit bis zur Bewältigung des Alltags, und ermutigen zum konstruktiven Nachdenken über sich selbst. Dazu gehören eben auch zärtliche und erotische Beziehungen – auch im hohen Alter. Die Fähigkeit dazu sollte aufrechterhalten werden. Man sollte aber akzeptieren können, dass sexuell vieles nicht mehr in derselben Form möglich ist wie in früheren Jahren.

Man muss auch den Kulturgesichtspunkt einführen, wenn man das Altern verstehen will. Denn das Altern verändert sich auch geschichtlich. Wir können Generationen in Geschichte und Gegenwart nicht eins zu eins als statistische Größen miteinander vergleichen. Die heutige Generation 50+ denkt und verhält sich ganz anders als die über 50-Jährigen vor 20 oder 30 Jahren. Der Wandel der Zeit bringt immer soziale Veränderungen, die sich wiederum durch neue Errungenschaften, Heilungsmöglichkeiten und Stützungen durch Wissen und Kompetenz auf das Verhalten der Menschen auswirken.

Noch nie zuvor gab es in der Geschichte so viele Menschen wie heute, die nach Ende ihrer beruflichen Tätigkeit noch 20, 25 oder mehr gesunde und aktive Jahre vor sich haben. Die zunehmende mittlere Lebenserwartung erlaubt und verlangt es, Fähigkeiten der Lebensbewältigung im Alter, aber auch die durchschnittliche Lebensarbeitszeit in unserer technologisch und informatisch bestimmten Welt zu verlängern. Dafür müssen viel mehr Anreize und wohldurchdachte Modelle neuen Lernens und neuer sozialer Rücksichtnahme in der Arbeitswelt geschaffen werden.

Derzeit werden viele Ältere aus wirtschaftlichen Gründen in fantasieloser Weise aus dem Beruf hinausgedrängt. Im unkontrollierten Wettbewerbskapitalismus wendet man sich prinzipiell nur dem jeweils Neuen, Schnelleren, Jüngeren, scheinbar Besseren zu. Zusammenfassend lässt sich sagen: Wir brauchen eine neue Kultur des Alterns. Die „Frühpensionitis“ gilt es zu überwinden! Wirtschaft und Gesellschaft müssen Schluss machen mit der Verweigerung der Anerkennung der Älteren und Alten. Unterschätzungen und das Zur-Seite-Drängen der Älteren tragen zum Niedergang von Mitmenschlichkeit bei.

Können die Alten Erfahrungen vermitteln? Wer seine eigenen Lebenserfahrungen weitergeben will, braucht innere Kritik und die Fähigkeit zur Reflexion. Die Alten haben Jüngeren gegenüber oft ihre eigene Art, sich aufzudrängen. Fragen ist daher überhaupt, zusammen mit Sich-aufeinander-Abstimmen, eine zentrale Tugend. Sie ist notwendig zur Entwicklung von Solidarität.

Eigenerfahrung ist für die Selbstfindung jedes Menschen unersetzlich. Und wenn man gute Ratschläge gibt, dann sollte man sein erworbenes Wissen nicht zur Selbsterhöhung einsetzen, sondern versuchen, eine Brücke zwischen den Generationen zu schlagen. Das ist eine gute Grundlage für jeglichen Altruismus.

Die demografischen Veränderungen in den Gegenwartsgesellschaften machen auch neue Sozialformen und Freundschaftsnetzwerke notwendig. Sie ermöglichen und fordern eine andere Kultur des Alterns, nämlich jene der Langlebigkeit. Das bedeutet aber, die Verweigerung von Anerkennung der Älteren und Alten aufzugeben, sie nicht wegen ihrer Einschränkungen oder Behinderungen, zum Teil auch wegen ihrer sozialen Inkompetenz und Kommunikationsunfähigkeit, zu verachten. Solche Unterschätzungen zerstören den Aufbau von Mitmenschlichkeit. Sie vergeuden die sozialen und kulturellen Chancen der Langlebigkeit und so auch der Gegenwartskultur. Aber es gibt Alternativen dazu: das sowohl „kecke“ als auch einfühlsame Leben, das nicht aufhört um Anerkennung zu kämpfen. Das macht das Alter lebenswert. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.09.2014)

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