Life Begins at Forty

Sophie Tucker und Barbra Streisand: von großen Mädchen, die ihren Koffer allein tragen.

Unter den wenigen Habseligkeiten, die meine damals noch sehr jungen Eltern aus der englischen Emigration nach Wien mitbrachten, waren ein Teapot, ein bemaltes Milchkrüglein für den Frühstückstisch mit der Aufschrift „Take a little Cream“, das besitze ich noch, wenn auch ohne Henkel, und drei Krüge, von denen einer nach wie vor seine Dienste tut. Alles aus rahmfarbenem Steingut, fast unzerstörbar. Und einige Brunswick Schellacks mit Aufnahmen von Sophie Tucker.
Mit „Some of These Days“ im Ohr, ihrem größten Erfolg, bin ich aufgewachsen. Später kam noch eine 45er dazu, auf dem Cover eine imposante Lady mit ausladendem Dekolleté und viel Schmuck um den voluminösen Hals. Im Radio spielten sie Lale Andersen und Caterina Valente, daheim schwang Sophie Tucker ihr Zepter. Lange bevor Elvis in mein Leben kam, war da Sophie und der Swing der Zwanziger- und Dreißigerjahre, „The Man I Love“, „Life Begins at Forty“ und „Aren't Women Wonderful“. Aren't women wonderful, aren't women grand / Aren't they the rulers of this happy land? / They fly the Atlantic, wild countries explore / Where lions and tigers and savages roar / Then they faint dead away when they see a little mouse on the floor! / Women, women, women, aren't women grand!
Sie war der feministische Stern am amerikanischen Musikhimmel, geboren 1884 noch in der Ukraine auf dem Weg ihrer Mutter nach Amerika, aufgewachsen in Hartford, Connecticut, „no class“, wie sie singt, „but with a yiddishe hunch“, mit einem jüdischen Gespür. Ihr Selbstbewusstsein war ebenso überwältigend wie ihre Selbstironie. Sophie machte sich zum Subjekt ihrer Songs, sie sang über den harten Weg nach oben als dickes, komisches, widerspenstiges Mädchen mit großer Klappe und unverhohlenem Interesse an Männern, die sie liebte, sich aber ihnen nicht auslieferte. Den hübschen selbstverliebten Mr. Louis Tuck, den sie heiratete, um aus der Restaurantküche ihrer Eltern herauszukommen, verließ sie bald, behielt aber seinen Namen, als Sophie Tucker, „denn Tuck hörte sich nicht gut an für eine Sängerin“. Mit 19 ging sie nach New York, um als „Red Hot Mama“ ein großer Star zu werden, und sie hat bis zum Schluss die Bühne nicht verlassen.
Als mein Vater erfuhr, dass sie gestorben war, sie wurde 82, legte er „My Yiddisha Mama“ auf, das Lied, das sie berühmt gemacht hat, in English und Jiddisch. Bis heute gibt es keine schönere Version. Er konnte es nicht hören, ohne dass ihm die Tränen kamen. Er hat seine eigene Mutter zuletzt mit 14 Jahren gesehen, vielleicht liebte er Sophie Tucker deshalb so innig.
Für mich ist sie nach wie vor pures Empowerment. In den 1970er-Jahren fand ich ihre Autobiografie in einem Londoner Antiquariat. Darin erzählt sie, dass sie in New York zunächst mit schwarz geschminktem Gesicht und grotesk gemalten Lippen auftreten musste, als „Black Face Coon Shouter“, weil sie, wie die Theateragenten fanden, zu groß, zu dick und zu hässlich war, um anders auf die Bühne gelassen zu werden. Sie war eine der wenigen Singlefrauen im Showbusiness. Ein großes Mädchen mit rauer, lauter Stimme, das seinen Koffer allein trug, sich seine Bahnkarten selbst kaufte, seine Zimmer selbst mietete und für sich selbst zuständig war, unabhängig wie ein Mann, und sich abends das Gesicht schwärzte. Zehn Jahre später war sie einer der populärsten Bühnenstars Amerikas.
1964, zwei Jahre, bevor sie von uns ging, schrieb „Twen“, damals die avantgardistische Jugendzeitschrift, einen langen Artikel über einen neuen Stern am Bühnenhimmel von New York: Barbra Streisand. Neben ihren künstlerischen Qualitäten wurde besonders hervorgehoben, dass sich Barbra, die mit Silberblick und einer großen, für das Showbusiness eindeutig als ungeeignet angesehenen Nase gesegnet ist, standhaft weigerte, einen Schönheitschirurgen an ihre altösterreichische jüdische Erbmasse heranzulassen. Barbra, die damals am Anfang ihrer Weltkarriere stand, ist in jeder Hinsicht die würdige Nachfolgerin von Sophie: So bin ich, und so bleibe ich. Die Nase ist bis heute ihr Markenzeichen, so wie für Sophie ihre massiven Rundungen. Beide verfügen neben einer großen Stimme über Witz, Klugheit, Durchsetzungsvermögen, Frauenpower und „a yiddishe hunch“. ■
Am 19. Oktober startet im Jüdischen Museum Hohenems die Ausstellung „Jukebox. Jewkbox! Ein jüdisches Jahrhundert auf Schellack und Vinyl“. Der Katalog enthält 40 „Schallplattengeschichten“: Erinnerungen an „die Schallplatte, die mein Leben verändert hat“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.10.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.