„Geehrter Herr Geheimer Rath“

Die Erinnerung an Ulrike von Levetzow ist fixer Bestandteil der Familiengeschichte meiner Mutter. Auch ich, laut Taufschein Ulrike Amélie, bin damit aufgewachsen. Die letzte Liebe Goethes: was nicht bei Martin Walser steht.

Vor mir auf dem Tisch liegen verschiedene Gegenstände: ein Spitzentischtuch, das immer nur zu Geburtstagen verwendet wird, biedermeierliche Stickvorlagen mit Papageienmotiven, fein säuberlich aufgerolltes Chenillegarn, winziges gläsernes Puppengeschirr, ein Kerzenleuchter, eine silberne Nachtglocke, ein Foto mit eigenhändiger Unterschrift: „Zur freundlichen Erinnerung Ulrike von Levetzow“. Und als Prunkstück ein mit Perlmutt eingelegtes Nähzeug, ein Geschenk Goethes an Ulrike.

Die Erinnerung an Ulrike von Levetzow ist fixer Bestandteil der Familiengeschichte meiner Mutter. Das kunstvoll gerahmte Porträt Ulrikes hing immer im Wohnzimmer. Auch ich, laut Taufschein Ulrike Amélie, bin damit aufgewachsen. Es sind Erinnerungen damit verknüpft an eine alte resolute Gutsbesitzerin, in kerzengrader, aufrechter Haltung, die sich noch über 90-jährig über Zeitmangel beklagt, in ihren Briefen nicht von Goethe, sondern vom Sauschlachten, der Ernte, den angemieteten Gastarbeitern und dem Wetter schreibt und die sich über die neue Eisenbahn beklagt, weil sie quer über ihre Zwetschkenwiese, durch den Apfelgarten und die Fasanenzucht gebaut wird und die Gutsidylle stört.

Ulrike von Levetzow lebte vermutlich seit 1848 ständig auf Schloss und Gut Triblitz (Trebivlice, Trziblitz, Trieblitz – ich folge aber der Schreibweise meiner Großmutter), im Südwesten des böhmischen Mittelgebirges, in einer idyllischen Landschaft, in der Nähe der Stadt Brüx (Most), die durch den unsäglichen Braunkohlenabbau weitgehend ausradiert wurde, nicht weit von der Elbe entfernt. Sie lebte dort mit Mutter, Stiefvater und Schwester, später dann allein, aber familiär mit immerhin 13 Bediensteten – der Zofe Marie Schäfer, die erst 1943 auf Triblitz starb und immer neue Geschichten über Goethe und Ulrike erfand, Nanette, der sie viele Briefe diktierte, dem Kutscher Pleß, der ihr 60 Jahre diente, und dem Gutsverwalter Ludwig Wanderer, meinem Urgroßvater eben, der im selben Jahr wie Ulrike, 1899, in Triblitz starb und mit dem sie in unendlichen Listen und Notizen jedes Detail des Gutsbetriebes erörtert hat.

Eine Zeichnung meiner Urgroßmutter zeigt meine Großmutter Amélie, 1879 auf Triblitz geboren, als Schulmädchen im Park vor dem Palais, so, wie es heute im Wesentlichen noch existiert. Als ich Anfang der 1960er-Jahre zum ersten Mal nach Triblitz kam, konnten sich Dorfbewohner noch an die alte Gutsbesitzerin Ulrike von Levetzow erinnern.

Wie lässt sich das Bild der nicht besonders schönen, robusten, nicht gerade musisch, eher praktisch und nüchtern veranlagten Gutsbesitzerin Ulrike, die Pferde, Hunde, Tauben, Schwäne und Fasane liebte und zugegebenermaßen ihre weit verzweigte Familie, aber vielleicht nie einen Mann, mit der anmutigen, Gitarre zupfenden, Texte rezitierenden Grazie einer „letzten Liebe Goethes“ verbinden?

Unbedarftheit? Natürlichkeit?

Ulrike war 17, als sie Goethe im Palais Klebelsberg in Marienbad, das auch das Haus ihrer Großeltern Broesigke war, vorgestellt wurde. Ihr Großvater Friedrich Johann Leberecht von Broesigke, ein märkischer Adeliger, kannte Goethe aus Studentenzeiten. Ulrike kam gerade aus ihrem Straßburger Internat, war also französisch erzogen und kannte Schriften Voltaires. Dass Goethe auch ein berühmter Dichter war, wusste sie nicht. Gerade aber diese Unbedarftheit oder – freundlicher ausgedrückt – unwissende Natürlichkeit beflügelte den 72-Jährigen. Goethe war auch ein alter Freund und Bewunderer von Ulrikes brillanter und ausnehmend schöner Mutter Amalie, die er 1806 in Karlsbad kennen und womöglich lieben gelernt hatte, was in der Folge sicher eine Rolle spielte. Im Festspiel, das Goethe ein Jahr später schreibt, ist Amalie die „Pandora“, das Ideal weiblicher Anmut. Ihre Büchse enthält nicht Gefahr und Verderben, sondern (umgedichtet) Liebe und Schönheit.

Später schreibt Goethe an Ulrike, ihre Mutter sei der „glänzende Stern meines früheren Horizonts“. Amalie von Levetzow hatte damals schon eine bewegte Zeit hinter sich, hatte mit 14 den mecklenburgischen Kammerherrn Joachim Otto Ulrich von Levetzow geheiratet, mit 15 ihr erstes Kind – Ulrike eben – und mit 16 ihre zweite Tochter Amélie geboren, wurde 1806 geschieden, heiratete ein Jahr später wieder einen Levetzow, einen Vetter ihres Mannes, einen allzu schneidigen Dragoner in englischen Diensten, der alles verspielte und 1815 in der Schlacht von Waterloo fiel.

In der Folge, um die Schulden ihres Mannes zu begleichen, wurde das elterliche Gut Löbnitz, der Geburtsort Ulrikes, versteigert, und man entschloss sich, mit dem Rest des Geldes im aufstrebenden böhmischen Kurort Marienbad zu investieren. Hier kommt der dritte Mann von Amalie ins Spiel, der österreichische Adelige Franz Graf Klebelsberg-Thumburg. Klebelsberg war Mitbegründer des „Vaterländischen Museums in Böhmen“, später „Nationalmuseum“, einer der zahlreichen Sammlungsgründungen, die national ausgerichtet, aber politisch ungefährlich waren. Goethe war Ehrenmitglied.

Steine und Mineralien spielten im böhmischen Leben Goethes eine große Rolle. Ulrike hatte kein Interesse daran, und Goethe versteckte einmal ein Pfund Wiener Schokolade unter seiner Steinsammlung, um Ulrike geneigter zu machen. Sie machten lange Spaziergänge zusammen, Goethe erklärte ihr dies und das, sie saßen stundenlang auf einer Bank vor der Tür, und Goethe erläuterte ihr seine Bücher, sie nahmen an Bällen und Gesellschaftsspielen teil, Goethe genoss den Familienanschluss. „Es fiel auch sicher niemandem und auch meiner Mutter nicht ein, in dem vielen Zusammensein etwas anderes als das Wohlgefallen eines alten Mannes, welcher mein Großvater hätte sein können nach den Jahren zu einem Kind, welches ich ja noch war, zu finden“, schreibt Ulrike in ihren dürren, distanzierten Aufzeichnungen über diese drei Sommer mit Goethe in Marienbad und Karlsbad, die sie erst im Alter um die 90 herum geschrieben hat, hauptsächlich, um der lästigen Fragerei von Goethe-Schwärmern entgegenzutreten. Nur: Ulrike war mit 19 kein Kind mehr und Goethe nicht der wohlgefällige alte Mann.

Goethes Beziehung als liebender alter Mann ist in mehreren Romanen unterschiedlicher Qualität beschrieben worden, zuletzt in Martin Walsers „Ein liebender Mann“. Goethe sah nach einer überwundenen Krankheit, dem Tod schon nahe, in Ulrike die Verkörperung einer neuen Jugend, und er erlitt und genoss seine wiedergewonnene Fähigkeit zur leidenschaftlichen Liebe (übrigens nicht nur zu Ulrike). Geniale Naturen „erleben eine wiederholte Pubertät, während andere Leute nur einmal jung sind“ (Goethe zu Eckermann). Ulrike genoss Goethe anfangs vielleicht wirklich als Vaterersatz (sie war ja ohne Vater aufgewachsen), aber im dritten Sommer, der in einer gemeinsamen Geburtstagsfeier in Elbogen (Loket) einen Höhepunkt fand – der Anlass, Goethes 73.Geburtstag, durfte nicht ausgesprochen werden –, spürte Ulrike sicher Goethes ungeheure Leidenschaft. Ein Paar Damenhandschuhe mit dem Datum des Ausflugs fand sich in Goethes Schreibtischlade.

Drei Briefe sind erhalten

Drei Briefe von Goethe an Ulrike sind erhalten, er nennt sie „mein Töchterchen“, „meine Theure“, „meine Liebste“, „mein Liebling“. Einen vierten Brief, der von einem Traum mit ungewissem Ausgang erzählt, hat Goethe nicht abgeschickt. Später korrespondiert er nur mehr mit Ulrikes Mutter. Ulrike bleibt gleichmäßig kühl und lieb und schreibt „Geehrter Herr Geheimer Rath“. Das Original des „holden“ Neujahrsbriefs 1823, des einzigen, den Ulrike allein an Goethe geschrieben hat, ging verloren – wie die meisten Briefe der Familie aus dieser Zeit. Dass sie kurz vor ihrem Tod ihrer Zofe befohlen haben soll, geheime Briefe von Goethe an sie zu verbrennen, damit sie die Asche mit ins Grab nehmen könne, passt gut zur späteren Legendenbildung. Goethe wollte Ulrike heiraten. Großherzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach, der ebenfalls im Palais Klebelsberg abgestiegen war, erschien hochoffiziell, in Frack und Orden – mit oder ohne Wissen Goethes, das sei dahingestellt – bei Ulrikes Mutter, hielt für Goethe um Ulrikes Hand an und zeichnete ein glänzendes Leben in Weimar. Einem Fürsten konnte Amalie nicht gut Nein sagen, aber, sagte sie, sie wolle Ulrike die Entscheidung überlassen. Goethe selbst hat sich offenbar schriftlich an Amalie gewandt, gesprochen hat er nie darüber, weder mit Amalie noch mit Ulrike.

„Das Paradies, die Hölle“

Ulrike schreibt, sie hätte Goethe genommen, wenn er ganz allein gewesen wäre, wollte der Familie in Weimar aber nicht in die Quere kommen. Mit Recht, Goethes Schwiegertochter Ottilie verfiel anlässlich des bloßen Gerüchts in Krämpfe, und sein Sohn August machte ihm eine Szene. Amalie redete ihrer Tochter nicht zu, möglicherweise bewegten sie auch andere als mütterliche Gefühle – Eifersucht, Gekränktheit? Wer weiß. Vielleicht hat die Mutter es später bereut, noch Jahre danach schreibt sie Goethe, wie lieb, sanft und jedermanns Freund Ulrike sei.

Der Abschied Goethes 1823 war aber ein endgültiger: von der böhmischen Landschaft und von Ulrike. Sie haben sich nicht wieder gesehen. Noch in der Kutsche begann Goethe die „Marienbader Elegie“ zu schreiben. Diese „Urschrift“, ein altes Notizbuch mit hineingekritzelten Strophen, kam erst 1980 aus englischem Privatbesitz wieder an die Öffentlichkeit: „Was soll ich nun vom Wiedersehen hoffen... / Das Paradies, die Hölle steht dir offen . . .“ Dieser ekstatische Gegensatz Paradies–Hölle, die ungestillte Sehnsucht einer unerfüllten Liebe rückt Ulrike in eine Sphäre, die nichts mehr mit ihrer realen Person zu tun hat. Vielleicht war gedanklich das Konzept zur „Elegie“ schon vor Ulrike da und Ulrike als Person nur Zufall.

Ulrike lebte danach mit ihrem späteren Stiefvater, dem Hofkammerpräsidenten Klebelsberg, ihrer Mutter und den zwei Schwestern in einem Palais in Wien und nahm ausgiebig am gesellschaftlichen Leben teil. 14 Ehekandidaten hat sie angeblich abgewiesen. Der Letzte, Leopold von Rauch, der ihr schon ins Straßburger Pensionat glühende Liebesbriefe geschrieben hatte, heiratete in seiner Verzweiflung, erst mit 40 Jahren und gegen den Willen der Mutter, die 20-jährige Schwester Amélie.

Ulrike überlebte Goethe um 67 Jahre. Für sie wurde Goethe zum Mythos. Sie umgab sich in ihrem Schloss Triblitz mit Erinnerungsstücken an die gemeinsam verbrachte Zeit. Auf dem Foto von ihrem Schlaf- und Sterbezimmer sieht man eine Büste Goethes und über dem Lehnsessel eine Porträtzeichnung von ihm. Und lange bewahrte sie ein getrocknetes Sträußchen Vergissmeinnicht mit Goethes Widmung. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.07.2008)

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