Vielleicht geht sich's ja doch aus?

Drei Problemfelder: Einkom- mensschere, Überalterung der Gesellschaft und Ökologie. Utopisches Potenzial wäre erwünscht! Notizen zum Kapi- talismus.

Betrachten wir den Ist-Zustand der Industriegesellschaften, springt alsErstes der nicht zu verachtende Grad des Errungenen ins Auge, vorab der allgemeine Wohlstand, den man sich etwa hierzulande noch vor 50 Jahren nicht hätte träumen lassen. Dazu ein relativ gut funktionierendes Gesundheits-, Sozial- und Bildungssystem. Es kann also beim Stand der Dinge nicht verwundern, dass kaum utopisches Potenzial vorhanden ist, dass alles auf Bewahrung ausgerichtet ist, auf Reform allenfalls da und dort.

Wo finden sich in diesem vergleichsweise idyllischen Gesellschaftsbau problematische Stellen, Unruheherde gewissermaßen, von denen Krisen ausgehen könnten oder gar eine allgemeine Destabilisierung – oder einfach nur Veränderungen in größerem oder kleinerem Stil? Drei solcher Problemfelder lassen sich leicht ausmachen.

Unübersehbar ist erstens, dass sich die Einkommensschere geöffnet hat: zwischen Reich und Arm; zwischen qualifizierter und unqualifizierter Arbeit.

Zweitens sehen sich fast alle Industriestaaten mit einer gravierenden Überalterung ihrer Gesellschaften konfrontiert – und damit mit der Frage, wie denn die Finanzierung der bestehenden Versorgungssysteme zu garantieren, ja auch nur notdürftig aufrechtzuerhalten sein wird.

Drittens zwingt die ökologische Situation des Planeten zu drastischer Vorgangsweise. Schauen wir uns etwa die erst unlängst ins Auge gefassten Abgasnormen der EU-Kommission für die Fahrzeugindustrie an, können wir, legen wir den Vorgang auf die gesamte Industrie, den gesamten Verkehr um, uns leicht vorstellen, dass diese Absichten, so nötig und „gut“ sie auch sind oder immer sein mögen, doch zu einer schweren Beeinträchtigung der eben aus einer – zumindest relativen – Freiheit heraus so wunderbar funktionierenden Märkte führen könnten. Behördliche Regulierungen tun den Märkten nicht gut. Ein Hineinregieren zeitigt meist problematische Folgen.

Die von der Überalterung auf uns zukommenden Schwierigkeiten werden wohl ähnliche Regulative zeitigen wie die Umweltfrage, werden also ebenfalls das für den Markt grundlegende, freie Spiel der Kräfte einengen und belasten. Man stelle sich nur einmal das Ausmaß der Transferzahlungen vor, wenn die Zahl der Netto-Empfänger sprunghaft zunimmt, was geschehen wird.

So seltsam es klingen mag: Von der ungleichen Verteilung der erarbeiteten Güter erwarte ich mir primär noch die geringsten Friktionen – es sei denn, es gelingt nicht mehr, die herrschende Mischung aus tatsächlicher Bedürfnisbefriedigung und schönem Schein, wie ihn die Werbung erzeugt, aufrechtzuerhalten.

Gesellschaftsvertrag im Wanken

Im Gegensatz etwa zu den meisten linken Theorien glaube ich für den Augenblick also nicht an ein Momentum, das etwa aus dieser krassen – ja, so muss man es wohl nennen – Ungleichgewichtigkeit in Akkumulation und Verteilung der Güter entspringen könnte. Ich glaube viel eher daran, dass die Folgen von Regulierungen, wie sie aus den Problemfeldern Überalterung und Umwelt resultieren und resultieren werden, geeignet sein könnten, das installierte ökonomische System in Schwierigkeiten zu bringen.

Ob der Generationenvertrag, bei Fortbestand heutiger Standards, von Bestand sein kann, ist angesichts der manifesten Verschiebung der Proportionen zwischen Jung und Alt mehr als fraglich. – Inwieweit die von der Umweltfrage diktierten Regulative für die Industrie den durch soziale Vorstellungen ohnehin „belasteten“ Marktmechanismus nicht außer Tritt bringen werden, ist die zweite Frage. Kann und wird es gelingen, die Produktion auf eine „sanfte“ und also sozial verträgliche Weise umzuorganisieren?

In letzter Konsequenz könnten meiner Einschätzung nach die Folgen dieser beiden zu meisternden Probleme, die „Ausgleichsbewegungen“, die sie dem Markt aufzwingen, auch derart gravierend sein, dass der bestehende Gesellschaftsvertrag – man könnte es auch Grundkonsens in Fragen wie Freiheit, Solidarität und Wohlfahrt nennen – insgesamt ins Wanken kommt.

Ist es die eine Frage, ob der Kapitalismus in seiner heute bestehenden Form überleben kann, so ist die andere, was an seine Stelle kommen könnte oder was wir uns wünschen sollten, das da kommt.

Marktwirtschaft und Demokratie treten, so weit wir sehen, weithin gemeinsam auf; ja, es gibt Theoretiker, die der Ansicht sind, das eine könne ohne das andere gar nicht bestehen. Bewegen wir uns auch nur auf der Linie der Einschätzung Churchills, der die Demokratie als das kleinste der möglichen Übel bezeichnete, so erscheint uns selbst dann die demokratische Ordnung als unverzichtbares Gut.

Sozialismus könnte man definieren als Demokratie, kombiniert mit Gemeineigentum und also Abschaffung privaten Besitzes, realisiert in einer klassenlosen Gesellschaft. Nachdem uns die Geschichte gezeigt hat, welche Folgen die Einführung des Gemeineigentums gezeitigt hat – es waren keine guten –, könnten wir es billiger geben, uns etwa einen Sozialismus nach englischem Wunschbild vorstellen: Demokratie in einer klassenlosen Gesellschaft.

Wer von einer humanen Gesellschaft spricht, wird, ob er es so benennt oder nicht, zum Ziel haben, eine andere Geschichte zu schreiben, als die Natur es uns vorgibt. Versucht der Kapitalismus den menschlichen Eigennutz als Antriebsrad für ein gedeihliches menschliches Fortkommen zu instrumentalisieren, will Sozialismus ebendiesen Eigennutz aufheben oder zumindest relativieren zugunsten einer Ordnung, die zuallererst auf das Gemeinwohl abstellt und es, unter Oberaufsicht des Staates, auch herstellen will.

Wie wir bei Betrachtung der gegenwärtigen Situation sehen, hat es sich als eher unmöglich erwiesen, die Vorstellungen eines frei und ungehindert agierenden Marktes allein auf die Ökonomie zu beschränken; vielmehr haben aus dem Markt herstammende Gesinnungen die Gesellschaft insgesamt durchwirkt und durchtränkt. Das Konkurrenzprinzip triumphiert, auch in Bereichen, wo es absolut nicht „zu Hause“ ist, wie etwa im kulturellen Bereich oder in den Wissenschaften.

Was könnte uns also dazu berechtigen, anzunehmen, im Sozialismus mit seinen Idealen könnte es anders sein? Im ökonomischen Bereich jedenfalls – gegängelt von einer Bürokratie, „die es besser weiß“ und die in der Planwirtschaft die Ziele vorgibt – wäre es wohl die unausweichliche Folge, dass der gesamtgesellschaftliche Prozess von einer Art Regulierungswahn ergriffen würde. Ob da freiheitliche Vorstellungen von Bestand sein könnten, ist mehr als fraglich.

In Relativierung dieser Ansätze könnten wir etwa einwenden, dass eine weitere Verfeinerung und Verbesserung aller Arten von Gesellschaftswissenschaften – also Ökonomie, Soziologie, Statistik, um nur einige zu benennen –, dass die Optimierung dieses Instrumentariums es uns vielleicht tatsächlich ermöglichen könnte, die soziale Maschine friktionsfreier – und zum Besten aller – zu warten: gerade und speziell in einer Planwirtschaft.

Wollen wir – pessimistisch – annehmen, dass Freiheit in unserer bestehenden Welt bloß das ist, „was übrig bleibt“, müssen wir doch die Frage stellen, was aus ihr in einer allfällig sozialistisch geordneten Welt würde. Ich gebe es zu: Die Vorstellung, von in der Hauptsache durch ihre Moral legitimierten Menschen geführt zu werden, gefällt mir wenig. Moral ist nur schwer messbar und – so wichtig sie für das Zusammenleben der Menschen auch ist – ein, wie wir aus der Geschichte wissen, höchst problematischer Wegweiser für alle übrigen Belange.

Schlechte Zeiten für Propheten! – So viel kann trotzdem gesagt werden: Entweder wir finden uns ab mit der Vorstellung von der Undurchschaubarkeit der Welt und folglich der unseres Schicksals – mit all den Konsequenzen, die ein solches Konzept hat oder hätte. Oder wir versuchen, immer wieder aufs Neue, „das unmögliche Problem“ zu lösen: wie es nämlich gelingen könnte, ökonomisch erfolgreich zu sein und solcherart, ohne uns mit dem aus dem ökonomischen Apparat herüberdrängenden Vorstellungen „zu infizieren“, die Grundlage zu legen für eine, schlicht gesagt, menschengerechtere Welt.

Eine schwere ökonomische Krise, verbunden mit Massenarbeitslosigkeit oder etwa einem Zusammenbruch der Sozialsysteme mangels Finanzierbarkeit, könnte einen Absprungsversuch in „den Sozialismus“ möglich machen. Sehr plausibel erscheint das nicht. Neben den Mechanismen von Werbung und Propaganda, die jederzeit „abfedernd“ eingesetzt werden können, ist es doch auffällig, dass heute jedes utopische Wünschen in den sogenannten Massen fehlt, es sei denn das nach einem noch risikoloseren und womöglich materiell noch besser ausstaffierten Leben.

Was allerdings nicht heißt, dass explosive Lagen ganz auszuschließen sind. (Eher ist wohl damit zu rechnen, dass gerade die herrschende „Duldsamkeit“ Nährboden sein könnte für irrationale Ausbrüche.) – Es gäbe ja allerdings nur zwei Möglichkeiten, eine „große Krise“ zu meistern zu suchen: ideologische Korrektur – also „Sozialismus“ (eventuell auch faschistoide Entwürfe) – oder öffentliche Finanzierung auf Teufel komm raus, unter der Devise: Vielleicht geht sich's ja doch (noch) aus.

Die Lage ist nicht ganz undurchsichtig; jedenfalls nicht undurchsichtiger als „immer“. Die Alternativen sind freilich insbesondere dadurch problematisch, dass sie einander, oberflächlich betrachtet, zu ähneln scheinen. (Die Freiheit etwa, sich über Bildung selber zu definieren, wie es heute möglich ist, Freiheit der öffentlichen Meinung et cetera werden allzu gern als Selbstverständlichkeiten angesehen.)

Ach, die epikureischen Schweine!

Utopische Aufbrüche sind jedenfalls nicht zu erwarten, die ideologische Unschuld, wenn man es so nennen kann, ging im 20.Jahrhundert verloren, der Rückgriff auf noch radikalere Vorstellungen wie beispielsweise den Anarchismus ist gänzlich auszuschließen.

Mag also gut sein, dass bei einem Weiterlaufen der Dinge im gelegten Geleise nebenher und subkutan auch eine Epoche anbrechen könnte, in der die Devise des Epikur vom Leben im Verborgenen so manchem wieder freundlich einleuchten könnte. Die „epikureischen Schweine“ – eine höchst heterogene Mischung in dem Fall aus biedermeierlich konstituierten Familienmenschen, aus reinen Hedonisten und den Restposten der Anarchie – dürften dann, zumindest für ein Weilchen, fröhlich sein und inhaltlich, was Letztere angeht, dem alten und unerfüllten Traum vom polyvalenten Menschen weiter nachhängen, von Selbstversorgung, von sinnvoller Bescheidung und Nachhaltigkeit, und so – im Verborgenen und Abseitigen, im Kehrwasser der Geschichte eben – glücklich zu werden versuchen.

Abschließend angefügt: Dass Demokratie und Markt gewisserweise aus derselben Wurzel wachsen und einander bedingen – wie oft zu hören ist –, halte ich für ein Märchen. Die Beispiele China oder Vietnam etwademonstrieren eindrucksvoll, dass auch ein diktatorisches System marktwirtschaftlich erfolgreich sein kann. Wozu braucht es aber eine (allmächtige) Kommunistische Partei, wenn sie dann marktwirtschaftlich antritt? Noch einmal sei gesagt: Der Markt funktioniert nicht auf Grundlage humanistischer Ideale – eher schon aus dem Gegenteil.

Die Vorstellung Walter Benjamins schließlich, dass im Kapitalismus eine Religion zu erblicken sei, hat einiges für sich. Man könnte auch sagen: Er ist eine Lebensform. Ihre Grundlage ist die gemeinsame Schuld – die der Reichen nämlich, der „Ausbeuter“, gegenüber den Armen.

Insbesondere meine Skepsis in Hinsicht auf die mögliche Entstehung eines „kritischen Potenzials“ erhält im Licht dieser Vorstellungen eine neue und, möglicherweise, dynamische Dimension. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.08.2008)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.