Diesseits von Gut und Böse

Zwar hat auch die Religion, die es nicht mit allem, aber mit dem Ganzen zu tun hat, ein bestimmtes Verhältnis zur Moral. Moral aber zu ihrem Kern zu erklären verkennt das Wesen von Religion.

Wer Ethikunterricht als Ersatzfach für den Religionsunterricht fordert, hat weder von Ethik noch von Religion etwas verstanden. Jedenfalls gilt das – zumindest nach evangelischer Lesart – für das Christentum. Religion ist weder mit Metaphysik noch mit Moral zu verwechseln und auch kein Mischmasch aus beidem, sondern Anschauung und Gefühl, Sinn und Geschmack fürs Unendliche. Sollte es stimmen, dass der Religionsunterricht heute über weite Strecken ohnehin nichts anderes als eine Art von Ethikunterricht ist, der in leicht erhöhtem Ton von der Moral handelt, spräche das eher gegen als für das Fach Religion. Im Ergebnis würde der Religionsunterricht zum Ersatzfach für den Ethikunterricht.

Schon Friedrich Schleiermacher rechnete es zu jenen „gemeinen Mitteln“, die Legitimität der Religion durch die Vorstellung zu rechtfertigen, „wie notwendig sie sei, um Recht und Ordnung in der Welt zu erhalten“. Heute lautet das Argument, die Religion sei die unersetzliche Quelle und Vermittlerin von Normen und Werten. Die frühen Christen sprachen freilich nicht von Werten, „weder von christlichen‘ noch von ,Familienwerten‘ und erst recht nicht von ,europäischen‘ oder ,nationalen‘ Werten“, wie der Philosoph Krysztof Michalski richtig bemerkt.

Zwar gibt es Ethik auch als theologisches Fach, ursprünglich aber handelt es sich um eine Disziplin der Philosophie. Wer Kenntnisse auf diesem Gebiet für unabdingbar hält, sollte einen verpflichtenden Philosophieunterricht einrichten. Zwar hat auch dieReligion, die es nichtmit allem, aber mit dem Ganzen zu tun hat, ein bestimmtes Verhältniszur Moral. Moral aber zu ihrem Kern zu erklären verkennt das Wesen von Religion. Weder bedarfMoral einer religiösenLetztbegründung, nochist Religion ein Epiphänomen der Moral. Sowohl Kant als auch Habermas, der an seiner religiösen Unmusikalität keinen Zweifel lässt, sind in dieser Frage schlechte Ratgeber. Habermas' freundliche Äußerungen in jüngster Zeit über Religion als Ressource gesellschaftlicher Werte mögen Weihnachtsgeläute in den Ohren mancher Theologen sein. Dabei sagt er doch nicht mehr, als dass Religion wichtige Funktionen erfülle und dass der abendländische Monotheismus nicht so leicht abgetan werden kann.

Das Christentum, wie ich es verstehe, ist nicht so sehr Moralbegründung als vielmehr Moralkritik. Sein kritisches Verhältnis zur Moral unterscheidet sich signifikant von der Moralkritik einer philosophischen Ethik, auch wenn es gelegentlich Überschneidungen geben mag. Während eine allgemeine Ethik fragt, worin das Tun des Guten besteht, gibt der christliche Glaube eine spezifische Antwort auf die Frage, warum wir faktisch oftmals nicht tun, was wir als richtig und gut erkennen. Seine Antwort lautet hierauf einerseits, dass der Mensch Sünder ist, der sich seiner Bestimmung als verantwortliches Handlungssubjekt in einer letztlich widersinnigen Weise verweigert, andererseits, dass ihm seine Sünde unverdienterweise vergeben wird. Gerade durch diese Erfahrung, die Paulus als Rechtfertigung des Sünders beschreibt, wird der konkrete Mensch als verantwortungsfähiges Subjekt neu konstituiert. Wenn die Würde des Menschen darin besteht, dass er nicht aufgrund seiner Werke oder seiner Moral, sondern allein aufgrund der Gnade Gottes gerechtfertigt wird, folgt daraus, recht verstanden, die Entmoralisierung der christlichen Religion wie die Begrenzung der Moral in der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft.

Alle Moral operiert mit dem Basiscode von „gut“ und „böse“. Nach biblischer Überlieferung verhieß die Schlange Adam und Eva im Paradies, sie würden wissen, was gut und böse ist, sobald sie von dem verbotenen Baum äßen. Ihr Versprechen sollte in Erfüllung gehen. Moral ist also die Folge der Sünde, mehr noch: ihre Signatur und nicht etwa ihr Gegenmittel. Scharfsinnig hat Dietrich Bonhoeffer notiert: „Das Wissen um Gut und Böse scheint das Ziel aller ethischen Besinnung zu sein. Die christliche Ethik hat ihre erste Aufgabe darin, dieses Wissen aufzuheben. Sie steht mit diesem Angriff auf die Voraussetzungen aller sonstigen Ethik so allein, dass es fraglich wird, ob es einen Sinn hat, überhaupt von christlicher Ethik zu sprechen. Wenn es doch geschieht, so kann das nur bedeuten, dass die christliche Ethik den Ursprung aller ethischen Fragestellung zur Sprache zu bringen und somit als Kritik aller Ethik allein als Ethik zu gelten beansprucht.“

Auf den ersten Blick scheinen Gut und Böse wie Feuer und Wasser voneinander geschieden zu sein. Das Böse und das Gute schließen einander aus und liegen in ständigem Kampf. Nun sagen wir aber nicht nur von einer Tat, dass sie böse sei, oder von ei- nem Menschen, dass er eine böse Gesinnung habe, sondern mitunter von uns selbst, dass wir böse sind oder böse werden – und kommen uns dabei sehr gut vor. Wir alle kennen Fälle, in denen wir glauben, mit höchstem moralischen Recht auf jemanden böse sein zu dürfen. „Gleich werde ich aber böse“, droht die entnervte Mutter ihrem quengelnden Kind. Oder wir sind erbost über das gemeine Verhalten eines Menschen uns selbst oder anderen gegenüber. Das Wort „böse“ steht in solchen Fällen für unseren Zorn, der uns unter Umständen gerade nicht moralisch böse, sondern gerecht, um nicht zu sagen heilig, erscheint.

Sprachanalytisch betrachtet, drücken Prädikate wie „gut“ oder „böse“ keine objektiven Tatbestände, sondern ein subjektives Werturteil aus. Eine Hermeneutik des Verdachts stellt aber nicht nur sprachphilosophisch, sondern auch religionskritisch die Frage, ob das Böse überhaupt eine seinshafte Realität oder nicht vielmehr das Resultat einer ideologischen Deutung der menschlichen Wirklichkeit ist. Schon Nietzsche hat behauptet, es gäbe keine moralischen Phänomene, sondern nur eine moralische Interpretation dieser Phänomene. Nicht was das Gute und das Böse sind, sondern woher das Interesse an diesen Begriffen und ihrer Anwendung rührt, wäre demnach die entscheidende Frage. Läuft alsodie Analyse der Sprache der Moral auf eine „Entbösung“ des Bösen hinaus? Entpuppt sich die Rede vom Bösen letztlich als Böses in der ursprünglichen Bedeutungdes Wortes, nämlich als eine Beule – mit Wittgestein gesprochen: ei- ne Beule, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache geholt hat? Dass wir nach dem Sündenfallmythos der biblischen Genesis diesseits von Gut und Böse stehen, bedeutet jedenfalls nicht nur, dass wir zu wissen meinen, was gut und böseist, sondern auch, dass die scheinbar so klaren Grenzen im wirklichen Leben ständig verschwimmen. Es ist darum weniger mit der Evidenz als vielmehr mit der Verborgenheit des Guten zu rechnen, die ethische Entscheidungen oft so schwer macht.

Moral trägt nicht unbedingt dazu bei, die Grenzen zwischen Gut und Böse wieder klar hervortreten zu lassen, sondern sie zeitigt ambivalente Folgen, welche die Frage aufwerfen, ob sie das Böse letztlich nur fördert, statt es einzudämmen. Moral ist die Kommunikation, in der über Achtung und Missachtung entschieden wird, die Personen zusteht. Wo die Achtung oder Verachtung der Person als solcher auf dem Spiel steht, liegt Streit in der Luft. Gegenüber der vorherrschenden, allzu friedlich gestimmten Moralauffassung hat der Soziologe Niklas Luhmann auf die Streit entfachenden Züge der Moral aufmerksam gemacht. Werden zum Beispiel politische Konflikte zu moralischen erklärt, nehmen sie zwangsläufig an Schärfe zu. Interessengegensätze werden ins Grundsätzliche gesteigert, dem Gegner wird die moralische Integrität abgesprochen.

Diese Zweideutigkeit ist auch der Ethik eigentümlich, die von der Moral als deren selbstreflexive Theorie zu unterscheiden ist. Auch wenn die Ethik zur vorgängigen Moral ein kritisches Verhältnis einnimmt, ist sie doch als deren normative Theorie selbst wieder moralhaltig. Daher ist auch der Ruf nach Ethik, sei es in der Wissenschaft, in der Wirtschaft, in der Politik – oder eben auch in den Schulen –, eine zweischneidige Angelegenheit. Auf die Verwissenschaftlichung der Ethik folgt die Ethisierung der Wissenschaften, auf die Politisierung der Moral die Moralisierung der Politik.

Gefordert wird die Rückbesinnung auf gemeinsam „Werte“. Nicht nur national, sondern auch international, etwa gesamteuropäisch, wird eine „Wertegemeinschaft“ beschworen. „Werte“, so warnt Michalski zu Recht, „verbinden nicht, Werte trennen.“ Dieentscheidende Frage lautet darum nicht, wie viel Moral und Ethik die moderne Gesellschaft braucht, sondern wie viel sie davon überhaupt verträgt.

Im besten Fall erfüllt Ethik als kritische Theorie der Moral die Aufgabe, vor zu viel Moral zu warnen. Darin trifft sie sich durchaus mit der Moralkritik eines recht verstandenen Christentums, das zwischen Gesetz und Evangelium zu unterscheiden weiß. Einechristliche Ethik, die sich gegenüber der Forderung nach vermehrter ethischer Reflexion nicht kritisch verhält, bleibt unserer Gesellschaft den wichtigsten Beitrag schuldig, den sie ihr vielleicht leisten kann, nämlich in den ethischen Konflikten von heute das zur Sprache zu bringen, was formelhaft als Evangelium bezeichnet wird. Wenn dies nicht gelingt, verkommt christliche Ethik zum unausgewiesenen Appell, der das Stimmengewirr der bloßen Meinungen und Interessen lediglich um einige weitere, in leicht erhöhtem Ton vorgetragene Behauptungen vermehrt.

Als reine Pflichtenlehre oder Gebotsethik wäre christliche Ethik unterbestimmt, gleich ob es sich um den Appell zur unableitbaren Gewissensentscheidung oder um die Ableitung moralischer Normen aus Gottes geoffenbartem Willen handelte. Wie alle Ethik gründet auch eine christliche Ethik in der praktischen Vernunft, die aber vom Geist dergöttlichen Liebe geleitet wird. Christliches Ethos besteht im Kern darin, aus Liebe zu handeln. Darum geht auch eine tugendethische Deutung des biblischen Liebesgebotes in die Irre. Der Begriff des Transmoralischen ist von Paul Tillich verwendet worden, um ein Gewissen zu bezeichnen, „das nicht aus Gehorsam gegenüber einem moralischen Gesetz urteilt, sondern auf Grund der Partizipation an einer Wirklichkeit, die den Bereich moralischer Gebote transzendiert. Ein transmoralisches Gewissen verleugnet nicht den moralischen Bereich, aber es wird durchdie unerträglichen Spannungen in der Sphäre des Gesetzes darüber hinausgetrieben.“ Was aber das Gewissen über das Gesetz hinaustreibt, ist nach biblischem Zeugnis die Liebe, die das Gesetz als Struktur verantwortlichen Lebens zwar nicht verachtet, jedoch über dem Gesetz steht und sich zu ihm in Freiheit verhält.

Wohl lebt der Glaube aus einer letzten Gewissheit des Heils. Doch darf diese Heilsgewissheit nicht mit der Sicherheit und Eindeutigkeit ethischen Urteilens und moralischer Handlungsanweisungen verwechselt werden. Der Moralisierung des Christentums gilt es zu wehren. Ist das nicht auch die Aufgabe des Religionsunterrichts? Ethikunterricht bietet darum ebenso wenig Ersatz für christlichen Religionsunterricht, wie ein Philosophie- und Ethikunterricht nicht durch Religionsunterricht überflüssig wird. Falsche Alternativen führen nur in theologische und bildungspolitische Sackgassen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.08.2008)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.