Es waren doch nur Gutachten

Seinen Anhängern galt er als liberal und offen: Igor Caruso, Psychologe, Professor, Charismatiker. Archivfunde belegen nun seine Verstrickung in das Euthanasie-Programm der Nazis.

Im Mai und Juni dieses Jahres überrollte eine Lawine von Zuschriften die Redaktion der „Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis“. Da ich diese Zeitschrift seit sieben Jahren herausgebe (zusammen mit Betty Raguse in Basel und Erika Kittler in Freiburg), waren die meisten Briefe an mich gerichtet; sie kamen aus Salzburg, aus Innsbruck, Klagenfurt und Wien, von psychoanalytischen Kolleginnen und Kollegen, und alle waren sich einig: Die Publikation eines biografischen Aufsatzes zu Igor Caruso in der letzten Ausgabe war ein schwerer Fehler gewesen, wenn nicht gar ein extremer Schaden „für die Psychoanalyse“ entstanden war. Wer ist dieser Mann, dass er so heftige Verteidiger auf den Plan ruft?

Igor Graf Caruso (1914–1981) war in der katholisch geprägten Öffentlichkeit Österreichs der Sechzigerjahre eine bekannte Gestalt, sein Wort hatte Gewicht, und seine Anhängerschaft war zahlreich. Seit 1972 hatte er den Lehrstuhl für Psychologie in Salzburg inne, und viele meiner Kollegen aus dem psychologisch-psychiatrisch-psychoanalytischen Bereich waren direkt oder indirekt seine Schüler. Er galt als „Linker“, suchte den Dialog mit der Studentenbewegung, hob sich in seiner Liberalität für die Studenten wohltuend von den konservativen bis rechtsradikalen Professoren ab, mit denen man es damals oft zu tun hatte. Er umgab sich mit der Aura des Besonderen, der Eleganz und der Romantik, eine attraktive Mischung für die mehrheitlich kleinbürgerlich ehrgeizigen Studenten, die sich von den Ideen Marcuses, Adornos, Blochs und Marx' anstecken ließen. Ihnen galt Caruso als einer von denen. Seine Bücher, vor allem „Die Trennung der Liebenden“, waren wichtig, vielleicht mehr als Zeichen denn als Inhalt, als Gefühlsbinder und intellektuelle Trophäe denn als Bericht über psychoanalytische Befunde und Überlegungen.

Caruso ist, außer bei seinen Anhängern, inzwischen nahezu vergessen, seine Arbeitenhaben sich im Kontext von Sozialpsychologieund Psychoanalyse nicht gehalten. Er hatte allerdings für die Entwicklung der Psychoanalyse in Österreich eine wichtige Funktion, da er ab 1948 mehrere „Arbeitskreise für Tiefenpsychologie“ gründete, zuerst 1948in Wien, dann in Innsbruck und schließlich auch in Salzburg, wo er ab 1967 an der Universität lehrte. Caruso war die Mitgliedschaftin der 1947 wiedergegründeten Wiener Psychoanalytischen Vereinigung verwehrt worden, weil er die Ausbildungserfordernisse nicht erfüllt hatte. Die Gründung der „Arbeitskreise“ mag seine Antwort auf diese Zurückweisung gewesen sein; er war jedenfalls – institutionshistorisch – damit ziemlich erfolgreich: Die „Arbeitskreise“ vertraten eine katholisch inspirierte Tiefenspsycholgie, die sich offen und pluralistisch präsentierte; für viele heutige Psychoanalytiker ging der Weg über Caruso, der immerhin den Kontakt mit Freud und seinen Schriften ermöglichte und sich – in Abgrenzung zu der als konservativ und „orthodox“ erlebten klassischen Psychoanalyse – politisch liberal, offen und flexibel zeigte. Das ist lange her.

Strukturell sadistisches System

In diesem Frühjahr wurde wieder über ihn gesprochen, als im winzigen Wasserglas der psychoanalytischen Öffentlichkeit Österreichs ein biografischer Aufsatz über Caruso einen Sturm auslöste. Eveline List, Historikerin an der Universität Wien und Psychoanalytikerin im Wiener Arbeitskreis für Psychoanalyse, hatte in einem Aufsatz die Vita von Igor Caruso beleuchtet. List wollte aus Anlassdes 60. Geburtstags des Wiener Arbeitskreises Klarheit über die Gerüchte schaffen, die sich um die Gründergestalt rankten. Gerüchte bezogen sich auf seinen Werdegang, seine privaten Verhältnisse zu Studentinnen und Analysandinnen, seinen analytischen Ausbildungsweg und vor allem auf seine Rolle im Nazi-Euthanasie-Programm.

Caruso war von Februar bis Ende Oktober 1942 an der „Kinderfachabteilung“ der Landesnervenheilanstalt Wien, genannt „Am Spiegelgrund“, beschäftigt und hat in diesen acht Monaten etwa 100 Gutachten über dort untergebrachte Kinder geschrieben. Psychologische Gutachten waren Teil des bürokratisch-medizinischen Prozesses, der für 789 Kinder im Rahmen des Auftrages „Ausmerzende Maßnahmen“ der Abteilung „Erb- und Rassenpflege“ des Hauptgesundheitsamtes mit ihrer Ermordung endete. 14 der Kinder, die er begutachtet hat, wurden umgebracht.

Caruso erwähnte seine Zeit „Am Spiegelgrund“ in einem Radiointerview aus dem Jahr 1979, das auch das einzige derzeit bekannte autobiografische Dokument Carusos ist. Er erscheint darin als zwar nicht ahnungslos („ich bin ja nicht dumm“), aber ganz unschuldig: „Ich als Psychologe, politischer Ausländer, war gar nicht eingeweiht,selbstverständlich.“ Und das kann man dochbezweifeln. Caruso bedient hier die Idee, dass Gutachten etwas Neutrales sind, das keinem Zweck dient, sozusagen objektive Beschreibungen. Es kann ihm, eingebunden in den Stationsalltag, nicht entgangen sein, was mit den Kindern geschah, wie sie gequält und bestraft wurden, zu Tode kamen durch die immer gleiche „Lungenentzündung“, welches strukturell sadistische System „Am Spiegelgrund“ herrschte und welche Funktion im schrittweisen bürokratischen Ablauf der „geordneten“ Tötung eben auch Gutachten hatten. Beschönigung ist dasMindeste, was einem einfällt, wenn man diese vagen Andeutungen hört, Verstrickung ist wohl schon näher an der Wirklichkeit.

Caruso hat nicht, wie der Psychiater Heinrich Gross, der sich bis zu seinem Tod im Jahr 2005 dem Zugriff der Justiz entzogen hat (wobei ihm namhafte Kollegen jahrzehntelang behilflich waren), die Spritze mit dem Luminal selbst appliziert. Das hat er sich als „Psychologe“ erspart (er war ausgebildeter Pädagoge), er hat auch geschaut, dass er schnell mit Hilfe seiner guten Nazi-Kontakte wegkam aus diesem schrecklichen Haus, das ihm keine Karrieremöglichkeiten bot, und konnte am neurologischen Krankenhaus Maria-Theresien-Schlössel, das unter der Leitung des SS-Mannes Alfred Prinz Auersperg stand, gut unterkommen. Damit war er, wie Eveline List schreibt, „wieder unterseinesgleichen“. – Wie überall hat es auch in diesem gesellschaftlichen Feld, der Medizin, lange gebraucht, bis endlich Klarheit über Schuld und Verstrickungen sein durfte, und so war das Interview von 1979 zwar bekannt, aber niemand hatte genau hingehört,gefragt oder gar die Archive besucht.

In den Archiven und bei Gesprächen mit Schülern Carusos kam noch mehr zum Vorschein, das die Reputation, die Caruso in akademischen und liberalen Kreisen genoss, im Nachhinein relativiert. So behauptete er, nach 1945 an die psychiatrische Uni-Klinik in Innsbruck „gerufen“ worden zu sein („Ich sage nicht berufen, denn ich war nur Assistent“, behauptet er im Interview von 1979). Der Akt der Universität Innsbruck besagt aber, dass er abgelehnt wurde, weil er die Anstellungsvoraussetzungen nicht erfüllte. Hinterfragt wird nun auch seine psychoanalytische Ausbildung, über die sich nichts Genaues finden lässt und für die die Daten, die er angibt, nicht stimmen können.

Schließlich wird er 1972 ohne Habilitationordentlicher Professor in Salzburg, wo er schon seit 1967 einen Lehrauftrag hat, auch das ein zumindest ungewöhnlicher Vorgang.Caruso muss viele romantische Projektionen auf sich gezogen haben, und das Charisma, von dem viele berichten, mag sich zusammengesetzt haben aus dem Bedürfnis der Studenten nach einer Figur, die man bewundern kann, und dem Bedürfnis des Professors, bewundert zu werden. Vor allem war er wohl ein guter Netzwerker in Kreisen ehemaliger Nazis und der katholisch geprägten Psycho-Szene, die mit der Psychoanalyse Freuds nichts am Hut hatte und eherin der Kontinuität der Psychotherapieaufassungen stand, die die Nazimachthaber explizit gegen die „zersetzerische“ Trieblehre Freuds im sogenannten „Reichsinstitut für Psychotherapie“ propagiert hatten.

Nach dem Krieg ging es, mit denselben Protagonisten wie zuvor, um eine christliche, „ganzheitliche“ Psychologie, ein Amalgam von Ansätzen Heideggers, Max Schelers, Viktor von Weizäckers und C.G. Jungs. Caruso schreibt etwa 1952, der Psychotherapeut solle einer Berufung folgen, die sich vom „Christusarchetyp“ leiten lässt. Freuds unbestechliche Religionskritik wurde dementsprechend in Carusos Kreisen abgelehnt, und die Psychoanalyse im Freudschen Verständnis als „orthodox“, streng und altmodisch abgelehnt.

Auslassungen, Beschönigungen

Im Kern geht es dabei immer darum (auch heute noch in ähnlichen Diskussionen), ob man den Menschen als Triebwesen denkt, das, der Biologie unterworfen und ausgeliefert, sich die Zivilisation und Kultur mühsamabringen muss und ständig vom regressiven Rückfall in barbarische Zustände – innere und soziale – bedroht ist. Oder ob man ihn als ein Wesen denkt, das mit seiner Triebhaftigkeit eigentlich nichts zu tun hat, weil es erst über der Gürtellinie beginnt und sich spirituell, geistig, religiös bestimmt. Die Versuche des Erzbischofs von Wien, die Evolutionstheorie erneut zur Disposition zu stellen, stehen durchaus in dieser Tradition.

In Deutschland hatte Alexander Mitscherlich eine ähnlich zentrale Funktion für die „junge Szene“ der psychoanalytisch interessierten Intellektuellen wie Caruso in Österreich; und auch in seiner Vita finden sich interessanterweise Auslassungen, Beschönigungen und Umdeutungen, wie sein Biograf Martin Delhi in einem 2006 erschienenen Buch zeigte. Diese Koinzidenz, aber auch die Berichte über Nazi-Zugehörigkeiten anderer „moralischer Instanzen“ wie Günther Grass oder Walter Jens werfen die grundsätzliche Frage auf, ob es für diese Generation mit ihrer Erfahrung von Totalitarismus und Gewalt so etwas wie eine eigene, innere „Beschönigungserlaubnis“ gegeben hat, durchaus nicht unähnlich der Lügenhaftigkeit, die sich hinter dem Schweigen der „echten“ Nazis verbarg, das das Selbstverständnis der österreichischen wie der deutschen Gesellschaft bis in die Achtzigerjahre hinein beherrscht hat. Und tatsächlich haben ja erst die Töchter und Söhne hinterfragt und nachgeschaut. Dabei sind die guten Väter – wie Caruso und Mitscherlich – fürs Erste verschont geblieben und glaubten sich ihre biografischen Biegungen wohl auchselbst. Heute allerdings, nochmals eine Generation später, müssen auch sie sich genauere Befragungen gefallen lassen.

Das geht nicht ohne Emotionen ab, wie die empörten Reaktionen von Schülern und ehemaligen Mitarbeiterinnen zeigen, die der Aufsatz zu Caruso nach sich gezogen hat. Psychoanalytiker wissen ein Lied davon zu singen und sind diesen Emotionen selbst unterworfen. Wir wissen nun mehr über Caruso als vor dem Gang in die Archive. Und einzig darauf kommt es an. ■

CARUSO: Aviso


Eine Chronologie des Falles Igor Caruso – samt Mitschnitt der Radiosendung von 1979 – ist auf der Website der „Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis“ zu finden: www.zptp.eu.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.09.2008)

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