Im Speicher der Kindheit

Das O ist verlockend und rund, und das S hat einen eleganten Schwung, es klingt flüchtig, flüssig, flüsterbar. I und L wiederum tönen hell. Zur Erotik des Silos: eine Erkundung.

In Kärnten waren die Silos privat. Früher standen sie herum, heute liegen sie flach und heißen Fahrsilo, weil die Fülle nicht mehr geschüttet wird und durch den Fall gepresst, sondern in Bahnen aufgelegt und mit dem Traktor flachgewalzt, Schicht für Schicht, eine Esterházy-Torte, von der dann scheibchenweise die Portionen für das Vieh abgesägt werden.

Der Silo steht zwischen Bach, Mist und Stall. Der Hund schläft im Schatten des Silos. Eine Frau kommt über den Hof, wischt sich die Hände in der Schürze ab. Ruft: Moizi, Moizi. Und ein paar Stunden später streift Blaulicht über den Silo, und ein Rettungswagen steht vor der Leiter und ein Polizist auf dem Dach. Er inspiziert den Silo und steigt dann herunter und geht zum Brunnen. Ein Lichtkegel tastet den Brunnenschacht ab, und der Polizist ruft hinunter: Moizi. Und später wird in der Kalkgrube mit Bohnenstangen herumgestochert. Moizi blieb vom Hof verschwunden – sie lebt in der Stadt, sie hat sich von der Knechtschaft befreit.

Die Feuerwehrleute legen Atemschutzmasken an, bevor sie auch die Silos im Stall durchsuchen. Frisch geteerte Wände dünsten Gift aus, und die zehn Meter hohen Leitern reichen unter die oberste Luke, von der aus die Maische in den Stall geworfen wird. Die Betonsilos reichen unter das Dach der Tenne und sind mit einer Plane abgedeckt. Im Winter flüchten die Marder in den Stall, auf der Suche nach Wärme und Nahrung. Sie laufen im Gebälk herum, und wenn einer abrutscht und in die Silos purzelt, kommt er nicht mehr lebend heraus.

Mit der Gabel bewaffnet, steigt das Kind in den Bau. Kinder sind praktisch, geringe Körpergröße und Geschick machen sie zu wertvollen Silo-Arbeitern. Der Marder läuft im Kreis, fletscht die Zähne, faucht und bellt, dann greift er an, bevor ihn die Gabel aufspießt und bei der Luke hinausschleudert.

Das Kind ist Mardermörder und Futtergabler. Die Bauern verteilen die Maische in den Trögen. Draußen steht der andere Silo. An Hitzetagen ist das Heu dran. Sie holen den Häcksler, den Ladewagen und bereiten die Befüllung des Silos vor. Andere Leute gehen zum See und genießen den Tag bei Ausflügen. Dieses Wissen schafft Sehnsucht und Wut. Und wieso soll ein Silo erotisch sein? Erotik ist Triebsublimation – also Fantasie. Kein Zweckbau, Zweck erfüllend, nicht Triebabfuhr.

Von Jan Tabor befragt, ob ich zur Erotik der Silos einen Vortrag halten würde, stimmte ich aus Neugier zu, wohin mich die Beschäftigung mit dem Thema führen würde, und landete kurz darauf im Büro der Werkstatt der experimentellen Architektur. Unterröcke hingen an Kleiderbügeln und fuhren, von einer Seilwinde angetrieben, durch das Fenster, während das Foto eines vierkantigen Getreidesilos in der Umgebung Drosendorfs, an der tschechisch-österreichischen Grenze, geladen wurde und ich sogleich an die unterschiedlich gestaltete Landschaft der Grenze denken musste, die ich bald aufgesucht haben würde, blicken würde in die Bergwand der steil aufschießenden Karawanken, über der Baumgrenze zum Greifen nah, zumindest vom Persmanhof aus gesehen, der ein Museum geworden ist. Oder ein Erinnerungsspeicher. Erinnerung an die Ermordung der Bewohner am 25. April 1945. Elf Opfer, darunter sieben Kinder, aus Rache, aus Wut, weil dem SS-und Polizeiregiment die Partisanen entkommen waren.

Der Persmanhof war ein Stützpunkt für den antifaschistischen Abwehrkampf, ein Widerstandsnest. Der Mann war zur Wehrmacht eingezogen, die Frauen hatten die alleinige Herrschaft über den Hof inne. Ihre Menschlichkeit war Bandenbegünstigung, und darauf stand Deportation, Verhaftung und Ermordung. Die Schande bleibt gespeichert in den Nachgeborenen der Täter. Die Geschichte wird verdrängt, aber sie spiegelt sich in jedem Gespräch wider. Menschen sind Speicher, bewusst oder unbewusst, so wie die Kärntnerin aus dem Rosental, die ich zufällig in einer Sprachschule in England kennenlernte. Auf die Frage, ob in ihrer Ortschaft zweisprachige Ortstafeln angebracht seien, sagte sie empört zu mir: Geh, heast, diese Slowener. Und auf die Frage, ob sie slowenenfeindlich sei, sagte sie: Du brauchst mir nix erzählen. Aber zweisprachige Ortstafeln brauch ma nit.

Auf dem Taborschen Silofoto ist ein Schild auszunehmen. Ein E steht drauf. E wie Erotik, laut Tabor. Ist ein E erotisch? Das Wort ökonomisch klingt in meinen Ohren erotischer. Das E ist ein erratisches Zeichen, gehört zu Ernst und Ernte und hat die Figur eines alten Rechens, der nur mehr drei Zähne hat, oder ist eine dreisprossige Leiter, der ein Längsbalken fehlt. Und die Leiter ist zu kurz für Silos. Das E sieht mir zu konkret aus, um es mit Erotik zu verknüpfen, nur weil es als Initiale vorkommt im Wort Erotik, ist weder das Wort noch das E erotisch.

Der Silo als Männerfantasie ist mir zu aufdringlich. Das Geschlecht des Silos ist nicht einmal eindeutig, denn man kann deroder das Silo sagen – ich habe es nachgeschlagen. Das Wort Silo finde ich erotischer als das E auf dem Monitor. Das O ist verlockend und rund, und das S hat einen eleganten Schwung, es klingt flüchtig, flüssig, flüsterbar, I und L sind hell. Das Silo. Der Silo. Ein E ist sperrig und verklemmt, das E ist der häufigst benützte Buchstabe in der deutschen Sprache, weswegen die Aufschrift auf der Tastatur meines Laptops weggetippt ist. Die E-Taste glänzt, glatt poliert und von Buchstabenschwärze gereinigt. Man muss wissen, wo die E-Taste sitzt. Mir ist das E in Fleisch und Blut übergegangen, ich tippe immer richtig. Könnte ich Slowenisch sprechen, würde ich vielleicht slowenisch schreiben, und da wäre das O der häufigst benutzte Buchstabe. Die massenhafte Verwendung des E . . . wenn das E ein Mensch wäre, ein erotischer meinetwegen, wenn diese Versalie wüsste, wie sehr sie gebraucht wird als Kitt, unbewusst und unbedankt als massenhaft zu benützender Buchstabe, dann wäre das E eine Frau.

Der wahre Silo, vielleicht mit erotischen Gefühlen grundiert, ist in meiner Kindheit angesiedelt. Es ist der Turm im Traum vom Schloss am Wörther See – den Vorabendserien-Kitsch hatte ich mir schon mit fünf ausgedacht. In meinem Kitsch war Roy Black ein Prinz – der versoffene, glücklose Barde hatte sich in meine Ohren mit dem Lied „Schön ist es, auf der Welt zu sein, sagt die Biene zu dem Stachelschwein“ eingeschmeichelt. Und heute ist er tot.

Die Hände tauchen in Sand und vermischen das Wasser. Die Kinder machen aus dem Silo ein Schloss. Sie formen die Zinnen und legen sie zum Trocknen in die Sonne. Die Blumen sind gepflückt, die Kränze geflochten. Vom Hügel aus ist die Straße einzusehen. Ein unasphaltierter Feldweg, der vom Dorf schnurgerade über die Felder führt und im Wald verschwindet, hinter dem das Rosental liegt. Von dort unten kommt der Silo. Der wolkenlose Tag ist ideal für seine Lieferung. Das Gras glitzert noch vom Tau. Am späten Vormittag, wenn es getrocknet ist, beginnen die Grillen zu zirpen. Hinter dem Mist, neben dem Stall und dem Bach, liegt das Fundament des Silos. Eine kreisrunde Betonfläche, mit Wasserwaage eben gemacht, jede Unebenheit wurde austariert. Der Beton ist so glatt, dass man mit einem Tuch die Fläche abwischen kann und keine Faser hängen bleibt. Mit einem zahnlosen Rechen wurde die Betonmasse glattgestrichen. Das Gerät lehnt an der Stallmauer und sieht aus wie ein T. Andere Baumaterialien, Schutt und Zementsack, Mischmaschine und Kelle und Schaufel sind weggeräumt. Selbst der Mist wirkt geputzt an diesem Tag. Je mehr Silos bei einem Bauernhof stehen, umso reicher ist der Hof.

Auf dem Hügel sitzen und warten, bis das Symbol des Reichtums kommt. Die Drau glitzert, und das Himmelblau wird immer heller, je greller die Sonne scheint. Die Grillen. Das Gras und der Feldweg. Dann blitzt das Blau zwischen den Fichten. Es ist also wirklich so weit. Aus dem Wald kommen zuerst zwei weiße VW-Käfer, weiße Mäuse im Volksmund genannt, Polizeiautos mit Blaulicht drauf. Die weiße Karosserie sticht mit blauen Lichtschweifen aus dem Wald heraus und hebt sich gegen das Braun, das Grün und das Gelb ab. Im Schritttempo bewegt sich die Eskorte auf den Feldweg zu, der ins Dorf und zum Hof führt. Einige Meter dahinter schiebt sich die Schnauze des Trucks aus dem Wald. Die Schnauze ist schwarz, und das Huprohr und der Grill glitzern silbrig. Das Brummen und Dröhnen des Motors klingen kraftvoll und schwer, und beim Pfeifen, wenn die Luft aus der hydraulischen Gangschaltung zischt, kann man sich vorstellen, was diese Zugmaschine leisten muss. Auf dem Anhänger liegt der Silo. Eine Röhre. Weißes Plastik. Vier Meter Durchmesser. 20 Meter lang. Weiße, dünne Haut, die mit Gras fürs Vieh gestopft werden wird.

Das Gras wird an Sonnentagen geschnitten und in Ladewagen gesammelt und zum Silo gebracht werden, und in einem Tag ist die Röhre befüllt, und die Kinder kommen auch in den Silo und stampfen das Gras bloßfüßig fest.

Wenn das Gras durch die Dachluke herunterfällt, ist das Rieseln leicht wie bei Flocken, und die Büschel streifen die an die Plastikhaut gepressten Körper der im Silo steckenden Kinder, wie eine Feder. Sie stampfen die Büschel nieder. In den Pausen ist nur das Atemecho zu hören, weil die Angst, dass die Luke zuklappen könnte, stumm macht. Alle Viere von sich streckend, wird die kreisrunde Fläche ausgemessen, und hier oder dort könnte ein Himmelbett stehen, wäre der Silo wirklich ein Turm und hätte er ein Zimmer. Zimmer machen keine Angst. Dafür Kammern, Löcher, Gänge und Räume, die zum Stauen gedacht sind. Speicher und alle Abenteuerräume.

Eine Reihe Bullaugen verlief die Wand abwärts, auf den Stall, vor der bewaldeten Böschung, am Fuße des Humitzberges gerichtet. Fuhre für Fuhre arbeiteten sich die Kinder hinauf, das Gras mit kleinen Füßen niedertrampelnd, bis zum letzten Bullauge, bis dorthin reichte das Gras, das sie auf Augenhöhe mit dem Türmchen der Kapelle auf dem Humitzberg brachte. Dass die Bullaugen sich nicht von innen öffnen ließen, daran durfte nicht gedacht werden, aus Angst.

Ein Plastiksilo muss nicht ausgekalkt werden, und die Silogase sind nicht so gefährlich wie die Gase in den betonierten Stallsilos. Trotzdem ließ die Vorstellung, lebendig begraben zu werden, den Schauer über den Rücken laufen, wenn das Gras auf einen fiel.

Als der Truck im Schritttempo die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte, hupte der Fahrer. Zum Gruß. Hinter ihm kroch ein Polizeiwagen mit Blaulicht daher.

Und nun liefen die Dorfbewohner zusammen, und die Frage wurde diskutiert, ob es dieser Transporter überhaupt um die Kurve schaffen könne, um zum Bauernhof zu gelangen. Die Berechnung der Lieferfirma war korrekt, und so konnte der Truck problemlos den Hof erreichen und sich neben der vorbereiteten, glatt betonierten Kreisfläche positionieren. Monteure in blauen Arbeitsanzügen stiegen aus dem Truck. Sie wurden begrüßt wie Könige und gemeinsam mit den Polizisten zum Mittagstisch gebeten. Nach dem Essen begann die Montage. Bewunderndes Staunen war aus den zahnlosen Mündern der Alten zu hören, und die jungen Bauern kamen immer wieder vorbei, um zu sehen, wie weit der Silo sei. Erst am nächsten Morgen wurde der Kran ausgefahren und der Haken gesenkt und mit dem Silo verankert. Der Fahrer des Trucks legte seine Finger um den Hebel auf einem Schaltpult an der Rückseite des Trucks, und dann hob sich der Silo, langsam, im Schritttempo.

Zu Mittag war der Silo fertig. Höhe 20 Meter, das Blaulicht, die Neugier, die Bewunderung, die Anerkennung für die präzise Arbeit der Monteure, erfüllten die Kinder mit Stolz. Der Erste, der den Silo bestieg, war der Käufer. Dann folgten die Kinder. Und als sie leichtfüßig hinaufkletterten, sich für schwindelfrei erklärten und hinaufschwirrten wie bunte Kolibris hinter den Gitterstäben einer einem Käfig ähnelnden Schutzhülle rund um die Leiter, die vom Boden bis auf das Plateau reichte, summte unter ihren Füßen das Metall, verstärkt durch den hohlen Resonanzraum des Silos. Oben war dann die Aussicht. Ein Erlebnis, auf dessen Wiederholung man wartet. Vielleicht ist Wiederholung erotisch, auf jeden Fall war der Anblick erfüllend, um nicht zu sagen befriedigend. Der Anblick der abziehenden Kohorte, der Truck, die weißen Autos, nun ohne Blaulicht, parallel zur Drau fahrend, der Blick auf das Gebiet ergaben die Gewissheit, in gesicherten Verhältnissen aufgehoben zu sein. Und der Silo war wie ein Thron. Die Zinnen zerfielen in der Sonne, sie waren nicht mehr wichtig. Die Krone waren die Kinder selber. Die Dachluke stand offen, und der Blick stürzte in die Tiefe. Der weiße Tunnel, ganz sauber und doch wie eine Gruft. Die Haut des Silos ist anfällig und so dünn, dass man sie mit der Mistgabel anritzen kann – also Vorsicht im Kampf mit den Mardern.

Das aufkeimende Wissen, dass nichts geschenkt ist, auch nicht das Glücksgefühl, das sich nicht speichern lässt wie eine Ressource, trübte nicht die Aussicht, dieser gerasterten Ebene in den Reifefarben des Getreides, Maises, der Erdäpfeln, der Drau, dem Pumpwerk an der Drau, dem Staudamm und dem Rosental entsagen zu müssen. Um es auf den Punkt zu bringen: Die Gegend rund um den Silo ist paradiesisch, doch haust hier das Schweigen von der Sünde und der Schande. Mir ist durch die Beschäftigung klar geworden, dass die Missgunst xenophober Eiferer hier nistet wie eine Ursünde, wie etwas ödipal Archaisches, und das erklärt, weshalb ich nun sage, weil Ödipus in Theben sein Unglück erschauen musste, Theben liegt nicht, wie ich einst in Hollywood im Winter schrieb, an der Themse, Theben liegt an der Drau. E. Wie Theben. Ende. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.10.2008)

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