Die ungestillte Neugier

„Wie ist es, wenn man tot ist?“, fragte ich als Kind vorm Einschlafen meine Großmutter. Sie versuchte, mich zu beruhigen: „Das ist so, als ob man schläft.“ Aber ich war nicht beruhigt. – Neues vom Tod.

Wie ist es, wenn man tot ist?“, fragte ich als Kind vorm Einschlafen meine Großmutter. Sie versuchte, mich zu beruhigen: „Das ist so, als ob man schläft.“ Aber ich war nicht beruhigt. Offenbar hatte ich eine philosophische Ader: „Wie ist es, wenn man schläft und nicht mehr aufwacht?“ Da musste meine Großmutter nicht lange überlegen: „Wenn man tot ist, schläft man zuerst ein Weilchen und wacht dann im Himmel wieder auf.“ Ich kann kaum behaupten, dass mich diese Auskunft beruhigt hätte.

Stattdessen konnte ich nicht einschlafen, weil ich mir krampfhaft überlegte, wie ich in der Lage sein sollte, beim Erwachen im Himmel zu wissen, dass ich noch ich bin. Man hatte mir erzählt, im Himmel wäre ich nur Seele, „körperlos“. Also versuchte ich mich darauf zu konzentrieren, was von mir übrig bliebe, sobald ich meinen Körper abgestreift hätte.

Immerhin, mein Bewusstsein würde mir bleiben. Ich würde mich an das erinnern können, was mir bisher widerfahren war. Ich würde mich an mein Leben auf Erden erinnern und daher auch wissen, wer ich war... Und wer ich bin?

Das war eine jener kleinen tückischen Fragen, die typisch für schlaflose Kinder mit einer philosophischen Ader sind. Wenn man weiß, wer man zu Lebzeiten war – weiß man dann auch automatisch, wer man im Himmel ist? Wie sollte ich das feststellen? Hätte ich im Himmel einen Körper, dann wäre es mir möglich, mich selbst zu betrachten, zum Beispiel in einem Spiegel, den es hoffentlich im Himmel gibt. Und
so, durch die Verbindung meiner Erinnerungen mit meinem Körper, würde ich dann zweifelsfrei wissen, dass der, der sich im Spiegel betrachtet und an sein Leben erinnert, tatsächlich ich bin.

Doch ach, im Himmel bin ich ja körperlos; nachdem ich gestorben bin, werde ich himmlisch reiner Geist sein! Mit anderen Worten: Ich hatte, in meiner kindlichen Manier, eines der tiefen Probleme der Philosophie erahnt.

Wollte ich großspurig tun, würde ich sagen, mir hätte das Problem der „res cogitans“ den Schlaf geraubt (allerdings nicht lange, denn auch Kindern mit philosophischer Ader wird die Philosophie rasch langweilig). „Res cogitans“, so nannte René Descartes, 1596 bis 1650, die körperlose, sich selbst denkende Seelensubstanz, auf die wir uns beziehen, wenn wir „ich“ sagen. Und für Descartes war es eine ausgemachte Sache, dass das Ich den körperlichen Tod überlebt.

Heute hingegen: Was immer uns die Religionen lehren mögen, sie sind beim aktuellen Stand des Wissens außerstande, uns glaubhaft ein Leben nach dem Tod zu versprechen. Jedenfalls kein Leben im Himmel, wo wir, die reinen Bewusstseinswesen, uns als jene Personen wiedererkennen könnten, die wir, die irdisch-körperlichen Wesen, einst waren. Freilich, das verstärkt die Rätselhaftigkeit des eigenen Todes eher noch, als dass er dadurch zu einer schlichten Tatsache meines Lebens würde, die einfach darin besteht, dass mein Leben zu Ende ist.

Einerseits rührt die Rätselhaftigkeit des eigenen Todes aus seiner Unvorstellbarkeit. Mein Tod ist für mich kein innerweltliches Ereignis. Wo immer ich zeitlebens auf der Welt sein mag, bei meinem eigenen Tod bin ich nicht dabei. Ich nenne das „die starke Abwesenheit“.

Andererseits folgt die Rätselhaftigkeit des eigenen Todes aus der Frage, wie stark und tief diese Abwesenheit denn nun eigentlich ist. Wie die Fische im Wasser, so leben wir im Medium unseres Bewusstseins. Und sowenig die Fische ihr Lebenselement verlassen können, so wenig können wir unser Bewusstsein verlassen, um quasi von einem Standpunkt jenseits unseres Bewusstseins aus zu begreifen, was das ist: unser Bewusstsein, in dem sich die Welt bei unserer Geburt für uns öffnet, um sich bei unserem Tod vor uns wieder zu verschließen.

Es ist die Weltöffnungsfunktion des Bewusstseins, die zu den die Philosophie der Neuzeit prägenden Annahmen gehört. Wenn wir ein typisch modernes Bild für den Tod suchen, sozusagen das Inbild des Todes in der Moderne, dann muss es in irgendeiner Weise an den Verlust der kindlichen Hoffnung auf ein persönliches Überleben anknüpfen. Es muss aber auch daran anknüpfen, dass das Bewusstsein die Welt nicht bloß widerspiegelt, sondern – wie soll man sagen? – grundiert.

Nicht, als ob es auf den Begriff ankäme. Denn worum es hier geht, ist ein Mysterium. Hinter den unzähligen Facetten und Tiefen des Unbelebten, die der wissenschaftliche Geist zutage fördert und durchdringt, muss sich – so die Vermutung der philosophischen Klassik und Romantik – ganz am Grunde des Weltseins etwas Geistiges auftun, eine absolute Quelle der Sympathie zwischen Bewusstsein und Welt. Denn dieser Quellgrund – so die Vermutung – würde erst verständlich machen, warum zwischen dem Licht der Augen und der Weltnacht, den geistbegabten Begriffen und den toten Fakten des Naturinneren nicht ein Abgrund an Nichtbegreifen klafft. Warum nicht totale Seinsblindheit herrscht.

Der Quellgrund – so könnte man sagen, und so hat man gesagt – ist das Göttliche. Am Grunde waltet nicht der Tod, sondern das Leben. Aber dieses Leben des Bewusstseins als weltlicher oder jenseitsweltlicher Quellgrund ist dann kein persönliches. Es ist nichts, worin ich, das sterbliche Individuum, nach meinem Tod eingehen könnte, ohne mich in eine Anonymität aufzulösen, die vielen von uns trostlos anmutet.

Das, dieses sich grenzenlose Ausweiten, dieses restlose Verfließen in die Unpersönlichkeit des Quellgrundes, erscheint vor einer Tradition des persönlichen Überlebens, ja der leiblichen Auferstehung von den Toten, als ob hier gar nicht vom ewigen Leben die Rede wäre, sondern im Gegen-teil: vom ewigen Tod. „Und ist denn nicht davon die Rede?“, fragt der religiös Enttäuschte, der mit der Aussicht auf eine ich-lose Jenseitsexistenz nur wenig anzufangen weiß. Aber aus Enttäuschungen lässt sich auch Kapital schlagen. Das ist eine Grundlehre der neuzeitlichen Enttäuschungsgeschichte.

Und Arthur Schopenhauer, 1788 bis 1860, ist ihr philosophischer Gewährsmann, was den Verlust der Hoffnung auf ein persönliches Überleben nach dem Tod betrifft.

Schopenhauer nämlich definiert moderne Religiosität geradezu als Rücknahmehoffnung. Rücknahme wovon? Von aller schmerzhafter Vereinzelung, Zerstückelung, in die der Urgrund der Welt bei dem Versuch geriet, sich seiner selbst bewusst zu werden. Indem der „Weltwille“ seiner ursprünglichen Ganzheit entsagte, war er gezwungen, sich in Myriaden Einzelseelen aufzusplittern. Deshalb hat jeder Mensch, belehrt durch die Leiden der Endlichkeit und Individualität, Sehnsucht nach seiner metaphysischen „Heimat“, dem glückselig unbewussten Einsseins mit dem Sein, dem er entstammt.

Damit beginnt sich das religiöse Empfinden des Westens durch eine eigentümliche Aneignung fernöstlicher Mystik buddhistisch aufzuladen.

Schopenhauers Weltwille – das zeitgemäß Göttliche – ist eine geistige, im Ursprung ihrer selbst unbewusste Macht. Ihr wohnt ein Trieb inne, der sie nicht im paradiesisch Weltvorgeburtlichen verharren lässt. Hier wird zum ersten Mal, nachdem die Aufklärung gerade erst triumphiert hat, Bewusstwerdung mit Selbstentfremdung gleichgesetzt.

Das westbuddhistische Drama ist indes gut verständlich nur vom fantasierten Ende des Lebens her. Denn gut verständlich ist die Sehnsucht, dem Existenzschmerz zu entkommen, den Prozess der Individualisierung und seiner Folgen – Triebkonflikt, Schuld, Krankheit, Todesfurcht – zu stoppen, kurz: auf die Ebene eines Schlafes abzusinken, der gesättigt ist vom Leben, aber nicht durchdrungen von der Kälte des Leichnams. Entziffert man dieses Drama hingegen als eine Embryonal- und Geburtserzählung, als eine Theorie über die Entstehung der Welt, dann ergibt es bloß hässlichen Unsinn.

Doch das Lesen und Neulesen von Quellbildern ist ein kollektiver Vorgang, der ohnehin keiner Logik des Verstandes gehorcht. Das Rätsel des Bewusstseins wird mit vielerlei Begrifflichkeiten verknüpft, von denen manche esoterisch, manche obskur, manche poetisch sind. Vor allem entsteht auf diese Weise unsere Spiritualitätskultur. In ihr scheint die Innerlichkeit des in sich versunkenen, meditierenden Einzelnen, der am Rande seines Identitätsgefühls dahin- und seinem Ich davonschwebt, mit den jeweils neuesten Konzepten des Universums zu harmonieren.

Es herrscht die Vorstellung, dass durch die wissenschaftlichen Begriffe und Theorien uralte Weisheitslehren, die von der Unsterblichkeit des geistigen Weltgrundes handeln, nun endlich auf den Punkt ihrer Beweisbarkeit gebracht würden.

Mit dem tausendfältig gefältelten, feinst strukturierten kosmischen Feld, mit der fraktalen Schönheit des Ganzen, mit den Schmetterlingsflügeln des Zufalls, mit der Musik des Universums, die sich im mathematischen Formelwerk offenbart – mit all dem, so scheint es nun, schwingt das Einzelbewusstsein mit, das stets aus dem Ganzen heraus lebt. Darin, in diesem Schwingen über und unter dem schmerzhaften, egozentrischen, todverfallenen Kern des eigenen Ichs, soll die Überwindung des Todes liegen. Diese, sagen die neuen Weisheitslehrer, könne bereits hier und jetzt meditiert werden.

Zugleich jedoch hat man den Eindruck, dass mit der Spät- und Nachmoderne auch die Epoche der Spiritualität schon wieder zu Ende geht. Schenken wir den Auguren des Zeitgeistes Glauben, dann leben wir im Zeitalter des Naturalismus.

Das bedeutet, um es bündig zu formulieren: Immanenzverdichtung bis zum Äußersten. Transzendenz ist Humbug. Im Himmel und auf Erden geht alles mit natürlichen Dingen zu. Die Evolution bringt das Gehirn hervor, und das Gehirn erzeugt das Bewusstsein. Alles, was im Bewusstsein ist, dient dem Überleben der Gene; und vieles, was im Bewusstsein ist, dient direkt oder indirekt dem Überleben durch die Langzeitwirkung einer Illusion.

Dazu gehört besonders Gott. „The God Delusion“, der Gotteswahn, nannte Richard Dawkins seinen Bestseller aus dem Jahre 2006. Es gibt demnach weder eine postmortale Geborgenheit in Gott noch eine immerwährende Eingeborgenheit im Weltgeist: Das eine wie das andere sind Märchen aus alten Tagen. Der Naturalist lehrt, dass es kein Leben über den Tod hinaus gibt. Tot ist tot, sozusagen mausetot.

Doch der Naturalismus ist nur die eine Front einer Mobilmachung, deren andere sich durch den rabiaten Hang zur Remythologisierung, zur Verunglimpfung aufgeklärter, liberaler Religiosität auszeichnet. In den USA, aber auch in Europa zeigen sich verstärkt Tendenzen, die Bibel wieder beim Wort zu nehmen, apokalyptisch so zu denken, wie es uns die Offenbarung des Johannes vorbuchstabiert, ohne deren historische Gebundenheit anzuerkennen.

Man will Gott wieder einen starken Mann sein lassen. Der Gott der neuen Fundamentalisten und Wiedererweckten hat die Welt in kreativen Schüben hervorgebracht. Er straft die Evolutionstheorie Lügen, indem er selbst Hand anlegt, wenn es darum geht, seinen Geschöpfen ein intelligentes De-
sign zu verpassen. Dieser Gott rüttelt unsere dumpfe Ungläubigkeit durch Naturkatastrophen, durch Fluten, Stürme, Erdbeben, wach. Er bestraft Homosexualität durch Aids. Er richtet souverän über Heil oder Verdammnis jeder Einzelseele.

Das ganze Inventar des – wie der Ägyptologe Jan Assmann formuliert – „exklusiven Monotheismus“ wird erneut in Stellung gebracht. An die Stelle des Gottes aller Menschen, einer verachtenswerten philosophischen Kopfgeburt, tritt abermals der parteiische Gott, der zwischen den Rechtgläubigen und allen anderen, den Ungläubigen, Heiden und Gottlosen, ungnädig trennt.

Die alten Freund-Feind-Schemata werden scharfgemacht. Schon hat sich im Westen die politische Theologie zurückgemeldet. Allgemein, so ist aus Kreisen des Gottesrittertums zu hören, seien Säkularismus und Laizismus Krankheitssymptome einer demokratischen Staatsform, die am Fehlen jedweder göttlichen Ordnungsidee zugrunde gehen müsse.

Das alles ist für die Psychologie des eigenen Todes bedeutsam. Denn zwischen dem naturalistischen und dem neumythologischen Weltbild besteht eine ungewollte, verhängnisvolle Wechselwirkung. Der rabiate Naturalismus, der gegen jede Form von Transzendenz mobilmacht, führt zu einer metaphysischen Ängstigung, die sich als „Innerweltlichkeitsphobie“ beschreiben lässt.

Je umfassender man sich in der Welt, der Immanenz des Daseins, gefangen fühlt, desto stärker wird die rabiate Sehnsucht nach Jenseitigem. Sie wird zum Hoffnungssymbol des gelingenden Ausbruchs, dessen praktische Werkzeuge das Dogma und der Sprengstoff sind.

Es scheint also, als ob heute der Druck auf den Einzelnen, sich zwischen irrationalen Lebens- und Todesmetaphysiken zu entscheiden, stärker geworden sei, verglichen mit den typisch modernen Formen der Religiosität, von der Negativen Theologie über das Spiritualitätsdenken bis hin zum ethisierten Gott aller Menschen. Entweder man ist atheistischer Naturalist oder theistischer Neumythologe, Innerweltlichkeitsfanatiker oder Jenseits-Dschihadist. Das sind Extreme, gewiss, aber sie liefern zurzeit den Stimmungsbogen, um den herum sich die Bilder, Ängste und Hoffnungen des eigenen Todes anlagern.

Dabei wird dieser existenzielle Bogen im Westen ergänzt durch zwei Phänomene, die eine Folge unserer Medizinverfallenheit aufgrund der hochkapitalisierbaren Verknüpfung von Lebensgier, Glücksstreben und Gesundheitswahn sind. Ich fasse die beiden Phänomene unter die Begriffe des „virtuellen Patienten“ und der „Banalisierung des Todes“.

Die Perspektive des Menschen als virtueller Patient besteht – zugespitzt – darin, dass er lebt, um nicht krank zu werden. Durch verfeinerte Diagnosemethoden und niedrigere Toleranzschwellen für möglicherweise krankheitsauslösende Faktoren treten zunehmend Personen in immer jüngeren Jahren in den Kreis derer ein, die sich bereits halbwegs als Patienten fühlen, sozusagen als Patienten „in spe“.

Ganze Industriezweige profitieren heute davon, dass sich Menschen, statt als gesund, als „noch nicht krank“ definieren und dementsprechend ihr gesundes Leben als eine Krankheitspräventions-Existenz führen, vom Essen über die Freizeit bis hin zum Sex.

Auf diese Weise kann der eigene Tod nicht mehr als Vollendung des Lebens begriffen werden. Er ist stattdessen das endgültige Urteil, das besagt, man habe als virtueller Patient sein Ziel verfehlt. Man ist gescheitert. Und da wir am Schluss alle tot sein werden, liegt jetzt über jedem Leben eine nur schwer verdrängbare Sinnlosigkeitsanmutung, man mag so positiv denken, wie man will. Einzig nicht zu sterben wäre gesund und daher sinnvoll.

Hinzu kommt, dass der eigene Tod durch seine Einbindung in das institutionelle Gefüge der Massenmedizin einem Prozess der Entwertung, der Banalisierung, unterliegt. Stets ist man einer unter vielen – und stets sind es viel zu viele –, die von der Bürokratie des Heilens mit professionellem Gleichmut als Wartefälle, akute Fälle, Rettungsfälle und immer wieder eben auch als Exit-Fälle verbucht werden.

Vom Standpunkt des Systems aus, das die größten Anstrengungen unternimmt, uns am Leben zu erhalten, ist unser Ende nur eine Phase: die Exit-Phase. Sie verbindet uns mit allen anderen Exit-Kandidaten, macht uns einander ähnlich, und zwar akkurat in dem, worin wir uns metaphysisch absolut unterscheiden: im eigenen Tod. Und so hat der heute Sterbende das oft moralisch gefärbte Empfinden, sein Aus-der-Welt-Scheiden gar nicht als existenzielle Sondersituation namhaft machen zu dürfen.

Dabei weiß das System durchaus um die Besonderheit des Sterbens. Es weiß darum und reagiert darauf, indem es versucht, der viel zitierten „Würde des Sterbenden“ gerecht zu werden, sei es durch Schmerzfreistellung, sei es durch psychologische und, wenn gewünscht, geistliche Zuwendung. In manchen Ländern darf, zur Wahrung der „Würde“, aktive Sterbehilfe in Anspruch genommen werden. Wer könnte sich da beklagen? Niemand. Außer eben jener, der darauf bestehen wollte, dass sein Tod nichts ist, was mit dem Tod irgendeines anderen vergleichbar wäre, und zwar einfach deshalb, weil sein Tod sein Tod ist. In dieser Tautologie, die sich zu keinem informativen Satz entflechten lässt, steckt die ganze Wucht der Einmaligkeit jenes Ereignisses, das für den Einzelnen tatsächlich und rechtens sein eigener Tod sein sollte.

Ja, es handelt sich hier um ein Sollen. Als der bestimmte Mensch, der ich bin, habe ich nur eine Welt, „meine“, und meinen Tod gibt es nur als das Ende meiner Welt. Wenn ich nicht mehr imstande bin, dafür eine Sprache und ein Gefühl zu finden, weil der Kontext meines Sterbens das Höchstpersönliche des Sprechens und Fühlens neutralisiert – das System versteht abstrakt sozusagen immer bloß „Würde“ –, dann bin ich entmenschlicht.

Banalisierung des Todes bedeutet: die durch Stimmungsaufheller und Betäubungsmittel „entdramatisierte“, höchstens aus den Augenwinkeln bemerkbare Auflösung des zuinnerst Menschlichen meiner Existenz. Damit ist eine äußerste Grenze der Trostlosigkeit erreicht. Oder?

Ich setze dieses „Oder?“ abschließend mit Bedacht. Denn vielleicht ist meine Missgestimmtheit am Ende ja nur ein später Reflex jener frühen Neugier, die das Kind am Einschlafen hinderte, weil es sich allzu sehr vom Gedanken an den eigenen Tod faszinieren ließ.

Vor einiger Zeit erreichte mich eine Postkarte aus Usbekistan. Sie stammte von dem Zoologen Prof. em. Dr. Dr. h. c. Friedrich Schaller, Jahrgang 1920, Träger des Ernst-Jünger-Preises für Entomologie: „Lieber Herr Koll. Strasser! Auf den roten und schwarzen Sanden (Kizilkum u. Karakum) zwischen Aralsee, Jaxartes u. Oxus erfährt man über unsere Art mehr als sonst wo. Ein gutes Dutzend großer Völker hinterließ Millionen Schädel, Ziegel, Scherben, Gemäuer, überzogen mit ihren jeweiligen Hirngespinsten von Alexander über Mohammed, Dschingis Khan bis Stalin. Das musste der Alte noch gesehen haben, ehe er – seine Neugier – ungestillt endet.“

Obwohl die Nachricht deprimierend schien, stimmte sie den Leser doch heiter. Wir wissen, dass wir beim eigenen Tod nicht dabei sein werden und dass er, summa summarum, unerheblich ist. Und dennoch erfüllt uns gerade dieses Wissen mit Leidenschaft für unser Schicksal, für das Abenteuer unseres Lebens und Sterbens, und eben auch mit jener Neugierde, die ungestillt endet. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.10.2008)

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