Alle meine Bücher

Es heißt oft, heute würde weniger gelesen als früher. Fernsehen und Internet seien schuld. Dennoch: Die Leser, so scheint es, sterben nicht aus. Eine Selbsterfahrung von „Karlemann und Flederwisch“ bis zu Mira Valensky.

An den Moment, in dem ich das Lesen lernte, kann ich mich noch ganz genau erinnern. Ich lag auf dem Teppich in meinem Kinderzimmer auf dem Bauch und spielte Lesen, wie ich das bei den Erwachsenen gesehen hatte. Das Buch, das vor mir lag, hieß „Hans Eichhorn, der Lausbub“, handelte von einem Eichhörnchen und hatte einen grünen Einband. Die meisten Buchstaben kannte ich schon, aber lesen konnte ich noch nicht. Und siehe da, plötzlich formten sich die Buchstaben zu Wörtern und die Wörter zu Sätzen. Ich konnte lesen! Das Eichhörnchen-Buch war übrigens enttäuschend. Aber als ich meinen Eltern stolz von meiner neuen Errungenschaft erzählte, sagte mein Vater: Von jetzt an brauchst du dich nie mehr zu langweilen. Er hatte recht.

Nie mehr im späteren Leben liest man so intensiv, so viel und mit so viel Genuss wie in den Jahren zwischen dem Lesenlernen und dem Erwachsensein. In meiner Kinder- und Jugendzeit, als es noch kein Fernsehen und kein Internet gab, war man genauso lesesüchtig wie heutige Jugendliche computersüchtig sind. Anders als heute wurde man daher auch fürs zu viel Lesen nicht gelobt, sondern getadelt. Ich las stundenlang und ohne Pause, am liebsten auf einem stoffbezogenen Fußschemel, hinter dem großen Ofen zusammengekauert, bis mich irgendein Erwachsener aufscheuchte und mit den Worten „Du verdirbst dir ja die Augen“ an die frische Luft schickte. In jenen begnadeten Lesezeiten waren die Helden aus den Büchern wirklicher als die wirklichen Menschen, die gelesenen Abenteuer spannender als die erlebten.

Und was las ich? Alles, was ich kriegen konnte, wahllos durcheinander. In Erinnerung geblieben ist mir die Reisegeschichte „Karlemann und Flederwisch“ von Wilhelm Matthießen mit dem immer wiederkehrenden Vers: „Um die Erde proficiscere, durch die Lüfte obliviscere, Stiefel, Stiefel, folge mich“. Ich wusste nicht, was proficiscere bedeutet und warum es „folge mich“ hieß statt „folge mir“, aber zu einem guten Kinderbuch gehört immer auch ein Geheimnis. „Doktor Doolittle“ war wunderbar, „Alice im Wunderland“ mochte ich nicht. Wohl zu raffiniert für ein Kind. Grimms Märchen waren voller Grausamkeiten ebenso wie die deutschen Kinderklassiker „Max und Moritz“ und „Struwwelpeter“ , was seinerzeit niemanden störte. Auch mich nicht. Heute zögere ich, sie meinen Großneffen vorzulesen und lasse es lieber. Die im Backofen verbrannte Hexe mag noch angehen, aber die zu Schrot gemahlenen Kinder und die abgeschnittenen Daumen des Daumenlutschers sind zu viel.

Grausamkeiten gehörten zur kindlichen Erlebniswelt meiner Generation. Wie alle katholisch erzogenen Kinder war ich fasziniert von den Märtyrergeschichten und bewunderte schaudernd all die auf dem Rost gebratenen, aufs Rad geflochtenen und den Löwen vorgeworfenen Heiligengestalten, deren Bilder überall zu sehen waren. In der Bibliothek meiner Großeltern gab es eine Serie aus dem Französischen übersetzter Kinderbücher aus der Zeit der Jahrhundertwende. Sie handelten von tapferen französischen Missionaren, die in fernen Ländern Leute bekehrten. In einer Geschichte ließ ein böser Chinese den Missionar samt einem Chinesenjungen mit dem Ruf „Zu den Muränen“ in seinen Fischteich werfen. Der Missionar konnte den Knaben gerade noch rechtzeitig taufen, bevor die grässlichen Schlangenfische beide bis aufs Skelett abnagten.

Tecumseh und Trotzkopf

Von meinen älteren Brüdern übernahm ich die obligaten Indianerbücher. Ich war kein besonderer Fan von Karl May, wohl aber von einem Autor namens Fritz Steuben und seinen Büchern. In deren Mittelpunkt stand der Huronenhäuptling Tecumseh, Freund eines deutschen Geschwisterpaars, das ebenso gut reiten und bogenschießen konnte wie die Indianer. Aus diesen Bänden konnte man auch lernen, wie man einen Wigwam baut und was Pemmikan ist, der Reiseproviant der Indianer. Ich legte Wert darauf, beim Lesen dieser Bücher mein Taschenmesser bei mir zu haben. Aber auch die Mädchenbücher wie „Trotzkopf“ hatten ihren Reiz. Meistens folgten sie dem Muster „Wildfang wird Dame“. Die Heldin kommt ins Pensionat und landet irgendwann in den Armen eines Leutnants oder Referendars, der seine Angebetete mit „Gnädiges Fräulein“ anredet. Die Lektüre war wohlig wie Schokolade.

Alle diese Bücher stammten aus der Zeit der Großelterngeneration und hinterließen bei mir einen nachhaltigeren Eindruck als die zeitgenössischen Jugendbücher. Das größte Leseerlebnis war aber zweifellos „Ein Kampf um Rom“ von Felix Dahn, eine dicke Schwarte über die Goten in Italien. Ich kann mich erinnern, dass ich als Zwölfjährige das Buch, als ich es beendet hatte, sofort wieder zurückblätterte und noch einmal von vorne anfing. Weil es gar so schön war. Als ich es kürzlich irgendwo liegen sah und hineinschaute, schüttelte ich den Kopf. „Wohl gesprochen, Witichis, Waltaris Sohn“, spricht da der alte weise Hildebrand. „Sagt euren Weibern, dass sie keinen Römer umarmen sollen und keinen Römling.“ Und dieser Vor-Nazi-Kitsch hatte mich so bewegt? Plötzlich erinnerte ich mich, dass ich seinerzeit ein schlechtes Gewissen verspürt hatte, weil mir der kultiviert-zynische Römer Cetegus insgeheim besser gefallen hatte als die ehrlich-knorrigen Gotenhelden.

Meine Prager Kindheit fiel in die Nazizeit, und natürlich wurden wir damals reichlich mit germanischen Heldensagen versorgt. Mein Vater schenkte mir als Gegengewicht die griechischen Sagen in der Version von Gustav Schwab. Da wie dort liebte ich die Verlierer mehr als die Gewinner, Hektor mehr als Achilles und den grimmen Hagen mehr als den etwas einfältigen Siegertyp Siegfried. Aber Helden mussten es sein, ohne Helden lohnte sich keine Lektüre.

In der Oberstufe kam ich ins Ursulineninternat nach Salzburg. Für meine beste Freundin und mich, beide unersättlich im Lesen, wurde die Stadtbibliothek im Schloss Mirabell die unentbehrliche Bücherquelle. Niemand beriet uns, und das Angebot in jenen Nachkriegsjahren war, soweit ich mich erinnere, ziemlich einseitig volks- und heimatlastig. Viel Ina Seidel, Gertrud Fussenegger, Paula Grogger. Die jüdischen Autoren waren entweder „ausgemerzt“ oder nie dagewesen. Aber wir entdeckten immerhin Dostojewski und verschlangen alles, was wir von diesem Autor finden konnten. Langsam kamen wir in das Alter, in dem wir die für die frühe Jugend so typische Kitschvorliebe verloren. Man soll den literarischen Kitsch nicht verdammen, er gehört, so meine ich, zur Entwicklung dazu. Wer über „Vom Winde verweht“ nicht Tränen vergossen hat, war nie jung.

Geld hatte ich in dieser Zeit natürlich keines, Bücher zu kaufen war ausgeschlossen. Daher war es ein unerhörtes Glück, als mir eine Tante in Deutschland ein kleines ihr in Österreich zustehendes Honorar „für Bücher“ übereignete. Nach langem und intensivem Überlegen wählte ich schließlich vier Bücher aus, die mir damals als die Allererstrebenswertesten erschienen. Ich habe sie heute noch: die „Gedichte und kleinen Dramen“ von Hugo von Hofmannsthal, den „Malte Laurids Brigge“ von Rilke, „Auf den Marmorklippen“ von Ernst Jünger und den Roman „Der Großtyrann und das Gericht“ von Werner Bergengruen.

Nächste Lesestation: England. Ich betreute als Au-pair-Mädchen die Kinder des Schriftstellers Evelyn Waugh und stürzte mich sofort auf die unglaublich witzigen Bücher dieses Autors. Waugh war für sein vitriolisches Temperament berühmt, und als ihn eine seiner Schwägerinnen einmal bei Tisch fragte: „Evelyn, wie kannst du nur so ekelhaft sein, wo du doch so katholisch bist?“, entgegnete er ungerührt: „Liebe Bridget, was glaubst du, wie ekelhaft ich erst wäre, wenn ich nicht so katholisch wäre.“ Nicht nur Waugh gehörte zur kostbaren Frucht dieses England-Jahres, sondern auch die übrige so reichhaltige englische Literatur des 20. Jahrhunderts, von Aldous Huxley bis George Orwell.

Als Studentin in Wien in den Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren eröffnete sich mir die österreichische literarische Moderne. Als zugereistes Flüchtlingskind war die Literatur mein eigentlicher Zugang zu meiner neuen Heimat. Meine Integration fand über Arthur Schnitzler und Karl Kraus statt, über Robert Musil und Joseph Roth, über Heimito von Doderer und Friedrich Torberg. „Die letzten Tage der Menschheit“ und den „Gaulschreck im Rosennetz“ von Herzmanovsky-Orlando konnten meine Freunde und ich damals seitenweise auswendig. Österreich – ein ganzer literarischer Kontinent. Ich war damals glühend österreichisch. Das hat sich später einigermaßen gelegt.

In den politisch bewegten Jahren um 1968 war es praktisch Pflicht, die große Suhrkamp-Taschenbuchausgabe von Bertolt Brecht zu haben. Brecht war der Klassiker aller Klassiker. Dazu las man die deutschen Autoren der Gruppe 47. Von Hans Magnus Enzensberger kaufe und lese ich übrigens auch heute noch jeden Text, den dieser publiziert.

Als Erwachsener liest man anders als in der Jugend. Lesen ist immer noch wichtig, aber nicht mehr ganz so wichtig wie früher, und man erwartet und erhofft nicht von jedem neuen Buch, das man aufschlägt, gleich den Weg in eine neue Welt. Und wie liest man im Alter? Man hat einerseits mehr Zeit, andererseits weniger Ausdauer. Ich bewundere die (allerdings noch nicht alte) deutsche Literaturexpertin Elke Heidenreich, die vor Kurzem von sich sagte: „Mein Vater hat acht Stunden im Tag Autos repariert. Ich lese acht Stunden im Tag Bücher.“

Immer wieder: Kriminalromane!

Bei mir hat mit zunehmendem Alter das Interesse an neuen Romanen nachgelassen. Die Dichter sprechen zu ihrer eigenen Generation, die vorangegangene erreichen sie nicht mehr. Ich lese weniger „Ausgedachtes“, mehr Historisches, Biografisches, Autobiografisches. Und ich lese immer häufiger Bücher, die ich schon kenne. Dabei erlebt man manchmal Überraschungen. So haben für mich im Abstand von 50 Jahren Thomas Manns „Buddenbrooks“ ihren Zauber behalten, aber „Lotte in Weimar“ legte ich nach einigen Kapiteln wieder weg. Zu umständlich, schien es mir, für unsere Zeit.

Und was ist mit der sogenannten Trivialliteratur? Was ich immer lese, sind natürlich Kriminalromane. Der klassische Krimi hat in den vergangenen Jahren seinen Charakter gewandelt. Immer mehr Autoren wie etwa Henning Mankell verpacken „richtige“ Romane in das Krimigenre, mit mehr oder weniger Erfolg. Der Krimi lebt davon, dass man das Ambiente und das Personal schon kennt. Man macht es sich mit Elizabeth Georges Inspector Thomas Lynley oder Donna Leons Commissario Guido Brunetti gemütlich wie bei einem Besuch bei alten Freunden. Mira Valensky, die Detektivin der Österreicherin Eva Rossmann, kann da übrigens durchaus mithalten. Die Großmeister des Kriminalromans sind für mich der Engländer Eric Ambler und der Amerikaner Raymond Chandler, beide schon tot, von denen es leider nicht genug Bücher gibt. Von mir aus dürften es Hunderte sein.

Es heißt oft, heute würde weniger gelesen als früher. Fernsehen und Internet seien schuld. Aber gedruckt wird nach wie vor eine Menge, die Buchmessen beweisen es. Wird es auch gelesen? Ja, sagte mir neulich eine langgediente Buchhändlerin. Nach ihrer Erfahrung bleibt die Zahl ihrer treuen Kunden immer gleich, die alten verschwinden, neue kommen nach. Die Leser, so scheint es, sterben nicht aus. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.12.2008)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.