Der Lehrer Gerber

(c) Die Presse (Michaela Bruckberger)
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Sie machen sich gut als Sündenbock unserer Bildungsmisere: die Lehrer. Aber sind sie wirklich das Problem? Über Schule als Ort der Widersprüche, des Buckelns und Durchlavierens.

Unlängst im Kaffeehaus: Ein älterer Herr, der sich beklagt, in Österreich werde seit Jahrzehnten öffentlich über das Schulsystemdiskutiert, augenscheinlich ohne dass sich je etwas verbessern würde, meint, es sei hoch an der Zeit, Österreichs Lehrer endlich flächendeckend zu evaluieren. Es dürfe nicht länger Zufall sein, in die Hände welchen Lehrers ein Schüler gerate. Ein populärer und am Puls der Zeit liegender Vorschlag, zweifellos.

Nun sind Schule und Beurteilung bekanntlich ein heikles Themengemisch. Leistungsbeurteilung an Schülern wurde historisch massiv problematisiert – und ist bis heute problematisch geblieben –, als im ausgehenden 19. Jahrhundert ins öffentliche Bewusstsein sickerte, welch tyrannischem System Schüler in Deutschland und Österreich ausgeliefert waren. Die sogenannte Schulliteratur, die sich in dieser Periode herausbildete, war dafür keine zu unterschätzende Vermittlerin: Angefangen bei der 1889 erschienenen Novelle „Der erste Schultag“ (Arno Holz), über Frank Wedekinds Stück „Frühlings Erwachen“ und Marie von Ebner-Eschenbachs „Der Vorzugsschüler“ bis hinzu Emil Strauß' „Freund Hein“ und Heinrich Manns „Professor Unrat“ zeichneten Schriftsteller Schule als Raum des Schreckens, durchden sich eine Blutspurvon alleingelassenen undunter Leistungsdruck geschundenen oder in den Tod getriebenen Schülern zog. Ein verspäteter Ausläufer dieses Genres, Friedrich Torbergs „Der Schüler Gerber“, ist derin Österreich heute wahrscheinlich populärste Zeuge der Problematik.

Zu den wichtigsten Schritten der Reformpädagogik zu Beginn des 20. Jahrhunderts zählten infolge der öffentlichen Debatte Lockerungen in der Prüfungsdurchführung undformale Änderungen in der Beurteilung. Im Ganzen, so der damalige Tenor, sollte Schule den Schwerpunkt vom Prüfen aufs Unterrichten verlegen, es sollte weniger um ein Überwachen der Aneignung von Kenntnissen, mehr um Geistesentwicklung und Persönlichkeitsentfaltung gehen. – Mit der Leistungsbeurteilung an Lehrern nun verhält es sich strukturell interessanterweise genau umgekehrt: Sie wird zu einem Zeitpunkt, wo längst offenbar sein könnte, in welch widrigem System Österreichs Lehrer stecken, erst propagiert. Qualitätssicherung und Transparenz sind zwei der hehren Ziele, die in diesem Zusammenhang immer wieder genannt werden.

So entspann sich also neulich in jenemKaffeehaus eine Diskussion über Nutzen und Nutzengrenzwert der vorgeschlagenen Maßnahme. Zusammengefasst die Bedenkenund Einwände: Fraglich dürfte sein, ob sich Kriterien überhaupt finden lassen, mit denen sich die Qualität von Unterricht objektiv bewerten ließe. Überdies wurden ganzgrundsätzliche Zweifel an der Sinnhaftigkeit und Schlagkraft von Evaluationen angemeldet: Evaluiert wird etwa an Österreichs Universitäten seit Jahren mit Elan. Dass sich dadurch je etwas gebessert hätte, ist hingegen unverbürgt. Evaluation ist ja ein wunderbares Mittel, Kritik nicht nur zu bündeln, sondern auch gleich zu dämpfen und zu ersticken. Es ist eben immer die Frage, was in ei- nem System evaluiert wird und was mit dem von der Evaluation erbrachten Ergebnis anschließend geschieht. So kenne ich Schulen, wo einerseits eine intern geführte Bewertungsmaschinerie („Selbstevalua- tion“) mit Feuereifer betrieben wird, andererseits Schüler, die abseits der vorgesehenen Fragebögen Kritik üben (etwa an laufenden Schulversuchen), munter abgestraft werden. Das reichtbis zu in toto durchgestrichenen und alsnegativ beurteilten Deutsch-Schularbeiten, deren kritikreicher Inhalt der Lehrerin nicht passt.

Evaluation kann also auch ein Instrument des Herrschaftszynismus sein. Und in analoger Weise zynisch ist es auch, wenn Österreichs Bildungsministerin neuerdings strengere Aufnahmekriterien für die Lehrerausbildung verspricht. Aus mehreren Gründen: Erstens wird damit suggeriert, das heimische Schulsystem könne sich die besten Arbeitskräfte aussuchen – während genau das Gegenteil der Fall ist. Aus Mangel muss in manchen Sparten gegenwärtig in Dienst gestellt werden, wer sich nur anbietet, sodass an Österreichs Schulen längst reihenweise Ungeprüfte unterrichten. Zweitens legt Claudia Schmieds Ankündigung nahe, der Kern der Bildungsmisere sei in der Zusammensetzung der Lehrerschaft zu suchen. Auch hier stimmt das Gegenteil: Wie jeder Fisch stinkt auch der Bildungsfisch vom Kopfe her. Primär zu fordern wären daher allenfalls strengere Aufnahmekriterien auf höchster Ebene der Bildungspolitik. Dass diese für die Zukunft nicht zu erwarten sind, entspricht aber eben den Grundgesetzen der Evaluation.

Es folgt eine Binsenweisheit: Ein Grundübel des österreichischen Bildungswesens ist, dass das Schulsystem hierzulande primär als Polit-Spielball betrachtet wird. Ideologische Fragen und politisches Kleingeld zählen in diesem Spiel jederzeit mehr als die Qualität der Bildung, die man Kindern und Jugendlichen angedeihen lassen will. Vielleicht schlimmer noch als diese Tatsache ist der Umstand, dass sie, obwohl sie, wie gesagt, eine Binsenweisheit ist, in bester österreichischer Tradition immer noch gilt.

Auch dass Schuldirektionen bis heute parteipolitisch Farbe tragen, ist bekannt. Unerschließbar bleibt angesichts dessen, wozu man etwa Unsummen an Geldern aufwendet, um die Vergabe vonDirektorsposten in Assessment-Centers „objektivieren“ zu lassen. Objektiv ist in diesem Bereich nämlich nur eines: dass anstatt einer Entpolitisierungin jüngerer Vergangenheit noch eine weitere Politisierung Platz gegriffen hat. War es früher Aufgabe eines Schuldirektors, für die Bildung der Schüler den nötigen Rahmen zu organisieren und zu optimieren, so scheinteine neuere Arbeitsaufgabe darin zu liegen, für erwünschte Rahmenwechsel gemäß den Vorstellungen der jeweiligen politischen Partei den Boden zu bereiten. Die Vorgänge in zahlreichen Wiener Gymnasien, wo so lange beackert und gedüngt und wieder und wieder abgestimmt wurde, bis die für Schulversuche wie die Modulare Oberstufe oder die Neue Mittelschule nötige Mehrheit endlich beisammen war, zeigen es. Am Ausgang des Brettspiels „Schulautonomie“ bemaß sichder Erfolg des jeweiligen (selbst unter Druck stehenden) Spielleiters.

Dass Lehrer, denen die Aufgabe anvertraut ist, jungen Menschen kritisches Denken und politische Bildung beizubringen, solche Spiele mit sich treiben lassen, mag ernüchternd sein, ist aber ein Ausdruck der einfachen Tatsache, dass Schule nie der Ort für kritisches Bewusstsein gewesen ist, als den manche Pädagogen sie heute gern sehen. Schule ist kein Ort des Widersprechens, sondern ein Ort des klaffenden Widerspruchs. Auf der einen Seite wird traditionell – zu Recht – Stoff vermittelt, der nicht auf unmittelbare praktische Zwecke gerichtet ist, sondern auf Geistesformung und Lebenssinn abzielt; auf der anderen Seite herrschen Lernzwang und ein Klima der Angst. Echte Qualität eines Lehrers wäre herkömmlich wahrscheinlich im Gelingen zu bemessen gewesen, diesen Widerspruch im Wecken von Interesse und Freude aufzulösen. Gegenwärtig jedoch verschärft das System die Widersprüche noch: Einerseitsgerät der Lehrstoff in der Schule zusehends unter Druck, seine zukunftstaugliche praktische Verwertbarkeit erweisen zu müssen; andererseits unterliegt die praktische Brauchbarkeit von Wissen aufgrund der Schnelligkeit der Entwicklung einer immer kürzeren Halbwertszeit. Einerseits soll Schule ein geschützter Raum sein, derDenken und Besinnung ermöglicht; andererseits herrscht nicht nur eine Invasionvon sozialen Problemen, sondern auch ein gezieltes Bombardement mit Technologie und Wirtschaft.

Damit ist man bei der Realsituation, in der sich die Lehrerschaft befindet. Auch sie ist ein Grund für deren attestierte Biegsamkeit. Grob gesprochen, lassen sich zwei Gemeinden unterscheiden: Die jüngeren Lehrkräfte befinden sich in Arbeitsverhältnissen, wie sie zum Schicksal einer ganzen Generation zu gehören scheinen. Sie stecken in unsicheren Verträgen und bangen Jahr für Jahr um Unterrichtsstunden. Während also die Überlebensstrategie dieser einen Gruppe fast zwangsläufig Folgsamkeit sein muss, ist die der anderen Durchlavieren: Die Älteren sind über die Jahrzehnte zwischen schwierigen Schülern, fordernden Eltern, aufgebürdeter Sozialarbeit, ausuferndem Verwaltungskramoft so weit aufgerieben, dass die Vision von der baldigen Pensionierung näher liegt als die von einer besseren Schule.

Ist es schon ein selbstmörderisches Unterfangen – mindestens aber ein Experiment, das Abstand von etwaigen Niveauansprüchen erfordert –, im Alleingang die gesellschaftlichen Versäumnisse etwa im Sozial- oder Integrationsbereich wettmachen zu wollen, so müssen Lehrer, denen im Schulalltag kaum noch Zeit und Kraft auch nur für einen klaren Gedanken bleiben, erst recht überfordert sein, wenn sie der offiziellen Bildungspolitik die Entscheidung abnehmen sollen, ob ein Schulversuch wie die Neue Mittelschule nun pädagogisch zu befürworten ist oder nicht. So heißt ihr Ja bei einer solchen Abstimmung oft nicht mehr als: Schlimmer kann es ohnehin kaum mehr werden.

Die natürliche Aufgabe der Bildungspolitik wäre es, an der Beseitigung der herrschenden Widersprüche zu arbeiten. Die gegenwärtigen schulpolitischen Maßnahmen – von den zahlreichen Schulversuchen bis zur sogenannten Qualitätssicherung durch Aufnahmekriterien, Lernstandards und Evaluationen – sind vor allem Ausdruck eines Aktivismus, der über die Widersprüche hinwegzutäuschen versucht, während er in Wirklichkeit eher noch zu deren Zuspitzung beiträgt. Wir sehen die Preisung der Transparenz an jener Stelle der Dunkelheit, wo sie am billigsten zu haben ist. Je mehr ein System von inneren Widersprüchen zerrissen ist, desto sinnloser muss es sein, einen einzelnen Teil des Systems bewerten zu wollen. Die Lehrer sind halt am greifbarsten: dies auch der Grund, warum sich Journalisten so gern auf sie stürzen.

Wollte die österreichische Bildungspolitik ihre ureigenste Aufgabe wahrnehmen, müsste sie zuallererst ihr Selbstverständnis aufgeben. Eine Aufgabe der Gegenwartsliteratur könnte es hingegen sein, den „Lehrer Gerber“ zu schreiben: einen Schulroman, an dessen Ende sich ein an der verdrießlichen Lage und Verfassung seiner Schüler, der Unrealisierbarkeit eigener Ideale, dem Druck der Obrigkeit, dem Mobbing der Kollegen scheiternder Lehrer in den Tod stürzt. Seit Jahren warte ich darauf. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.01.2009)

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