Träume sehen anders aus

Es ist nicht die Architektur, nicht die Schönheit, nicht einmal die Geschichte und schon gar nicht die Ökonomie, es ist allein der Klang, der den Nimbus dieser Stadt ausmacht. Timbuktu: zwischen Mythos und Wirklichkeit. Nachforschungen in Mali.

Es gibt Orte, die die Fantasie entfesseln, seit je, seit Kindertagen. Immer sind ihre Namen reich an Vokalen, und einer von ihnen muss mindestens zweimal vorkommen. Es gibt mehrere solche Orte auf der Welt, sie regen zum Träumen an, sie verursachen Fernweh. Marrakesch gehört dazu und Sansibar, Samarkand, der Hindukusch vielleicht – und ganz gewiss Timbuktu. Es ist nicht die Architektur, nicht die Schönheit, nicht einmal die Geschichte und schon gar nicht die Ökonomie, es ist allein der Klang, der den Nimbus dieser Orte macht.

Afrika ist eine europäische Erfindung, meinte Valentin Mudimbe, kongolesischer Philosoph und Literaturwissenschaftler. Ganz besonders gilt das für Timbuktu. Und wo liegt Timbuktu? In Mali, aha. Und wie heißt da die Hauptstadt, der Präsident?

Das Größte an Timbuktu ist sein Name, sagt man in Mali. In Mali heißt Timbuktu Tombouctou, das ist weit weniger klangvoll, liest sich weniger hübsch, da gibt es keine Witze dazu und keine Wortspiele. Timbuktu ist eine geistesgeschichtliche Konstruktion Europas, postkoloniale Theoretiker wie Edward Said und Homi Bhabha hätten ihre Freude an dem Diskurs. Sehnsuchtsort für Reiseschriftsteller aller Ligen von Chatwin abwärts, für Diplomarbeitsverfasser, für Donald Duck – Timbuktu ist eine Stadt, die ihre Vergangenheit als Versprechen vor sich her trägt.

Niemand versteht in Mali, was wir in Timbuktu suchen. Da gibt es nichts zu sehen und nichts zu finden. Das ist Hinterland, Entwicklungsgebiet, Anus Mundi des Sahel, da wächst nichts, da herrscht Trockenheit, manchmal Hunger, manchmal Krieg, wenn die Tuareg sich wieder einmal ihrer kämpferischen Traditionen besinnen. Erst seit 1996 sind sie einigermaßen zufrieden, ruhig jedenfalls, befriedet im eigentlichen Wortsinn, von gelegentlichen Scharmützeln einmal abgesehen. Vor allem herrschen da Arbeitslosigkeit, Hoffnungslosigkeit und unerfüllbare Wünsche. Die Träume von Maliern, männlich oder weiblich, jung oder alt, gebildet oder illiterat, sehen anders aus. Paris, New York, da muss man hin, London oder Rom, sogar Wien.

Timbuktu ist so arm, dass es Stunden dauern kann, einen Schein von 10.000 westafrikanischer Francs zu wechseln. Das sind 15 Euro. Niemand hat so viel Geld in der Tasche, dass er tauschen könnte, auch die Bank nicht. Die Bank wechselt problemlos einen mehrstelligen Eurobetrag in 10.000er-Scheine, aber einen solchen in Kleingeld verwandeln, das kann sie nicht. Anders ausgedrückt: Man hat entweder viel Geld oder gar kein Geld. Dem genervten Touristen (hat immer viel Geld) bleibt nichts anderes übrig, als so viel Coca-Cola zu trinken und so lange zu essen, bis 10.000 Franc konsumiert sind.

Goldene Zeiten vor 500 Jahren

Als die Zeiten golden waren – im 15. und 16.Jahrhundert –, betrug die Einwohnerzahl 100.000, das ist das Dreifache von heute. Der Reichtum dankte sich dem Handel, Salz kam aus dem Norden, Gold aus dem Süden. Aber der Ruhm der Stadt lag in der Gelehrsamkeit, der Universität, den Professoren, die aus Kairo und Fes zuwanderten, den Bibliotheken, in denen kostbare und seltene Manuskripte gesammelt wurden, der hohen Anzahl der Studenten, die neben islamischen theologischen Werken auch Aristoteles lasen. Das war im späten Spätmittelalter, zu einer Zeit, als man in Europa noch nicht von Timbuktu träumte.

Ein, zwei Jahrhunderte dauerte diese Ära, und sie wurde von Heeren der Marokkaner beendet. Das war 1591, und bis heute hat die Stadt sich davon nicht erholt. Wie andere Kolonialmächte auch vergalten sie die Heimsuchung mit einigen Hinterlassenschaften, die bis heute nachwirken. Das sind eine Portion Gene, die Sprache, die Architektur und in der Küche der Kuskus. Für Letzteren sind ihnen Touristen bis heute dankbar. – Timbuktu ist Opfer seines Mythos, seit je, die legendäre Gründung eingeschlossen, Opfer von Fremden und Ausländern, zunächst von Tuareg, sie suchten Wasser, von Marokkanern, sie suchten Gold und brachten Feuerwaffen, von Abenteurern, sie suchten Gold und Ruhm. Die französischen Kolonialherren suchten ein Weltreich zu etablieren, und mittendrin lag Timbuktu. Immer dichter webten die Generationen das Netz des Mythos um die Stadt herum. Und deswegen wird sie heute heimgesucht – von Touristen, sie suchen Exotik, von Kolonialromantikern, sie suchen, was sie für die gute alte Zeit halten, von Entwicklungszusammenarbeitern, sie wollen entwickeln.

Der Mythos ist am mächtigsten in deutschsprachigen Landen, jedenfalls wenn die Länge des Wikipedia-Artikels in der jeweiligen Sprache diesen Schluss erlaubt. Bei Weitem am kürzesten ist der arabische Wikipedia-Eintrag. Und doch wird in Timbuktu bis heute ziemlich viel Arabisch gesprochen. Das Problem der Stadt ist ihr Mythos. Der Mythos setzte Timbuktu 1988 auf die Unesco-Welterbeliste. Zuerst ließ man es verfallen, und als es verfallen war, erklärte man es zum schützenswerten Kulturgut. Dann wurde restauriert und restauriert. Kaum die Moscheen und schon gar nicht die Wohnhäuser der Abenteurer sind nach alten Fotos wiederzuerkennen. In den vergangenen 15, 20 Jahren entstand eine regelrechte Neustadt, wo sonst in Mali gibt es so etwas? Der geplante internationale Flughafen, wer braucht ihn? Ausländer. Wer wird ihn bezahlen? Ausländer, Libyen macht gerade den Anfang mit einer Landebahn.

So ist die Stadt teils zu Tode restauriert, für gefälligen touristischen Konsum aufpoliert, teils Baustelle, gleich daneben weiterhin dem Verfall preisgegeben, vom Sand verweht, von Hitze und Staub zugedeckt. Die Bibliotheken werden dankenswerterweise gerettet, die Bewohner bleiben sich selbst überlassen.

In Zagora, einer Stadt im Süden Marokkos, befindet sich ein Straßenschild: „Tombouctou 52 Jours“ , also „Timbuktu 52 Tage“ steht da zu lesen, in lateinischen und in arabischen Buchstaben. Demnach rechneten Karawanen zwischen dem Nordtor und dem Südtor der Sahara mit einer Reisezeit von 52 Tagen. Sei es, weil die Straße bei einer Erweiterung verschoben wurde, sei es, dass das Schild dieselbe störte: Es wurde um einige Meter verlegt. Und so führt der Wegweiser heute in die falsche Richtung, er zeigt nicht die Straße entlang nach Mhamid, Algerien, und in weiterer Folge nach Mali. Wer diesem Schild folgt, landet im Nirwana der südmarokkanischen Steinwüste, einer unwirtlichen Gegend. Dies ist insofern nicht von Bedeutung, als die Grenze nach Algerien ohnedies geschlossen ist, aber der Wegweiser in die Irre enthält die geballte Symbolik der Metapher Timbuktu. Vielleicht hat Paul Auster eines Tages in dieser Kurve nachgedacht, bevor er seinen Sehnsuchtsort des Todes verortete und dem Roman von 1999 den Titel „Timbuktu“ gab. – Zudem ist auf dem Schild ein langes U zu viel (man schreibt im Arabischen bloß die langen, nicht die kurzen Vokale). Das ist, als würde man Wien zu Wiehn verballhornen. Demnach basiert das Schild als Ganzes einerseits auf Mythos und Nimbus (dass es überhaupt da steht), andererseits auf Unkenntnis (wohin es zeigt) und Irrtum (wie es da steht), und wer weiß schon, ob die 52 Tage stimmen. Dass es regelmäßig übermalt und renoviert wird, ist dem Tourismus zu danken, denn so viel Sehenswertes gibt es nicht in der Gegend.

Ein neues Weltwunder – fast

Marokkaner interessieren sich ohnedies nicht dafür. Es ist 400 Jahre her, dass deren Sehnsuchtsort Timbuktu war, derzeit nämlich befindet er sich in Europa, Amerika und Japan, aber ganz gewiss nicht in Mali. Das verbindet die Marokkaner mit den Maliern, füreinander interessieren sie sich nicht, alle wollen in den Westen – respektive in den Norden.

Die Enttäuschung war groß im Sommer 2007, als Timbuktu doch nicht eines der sieben neuen Weltwunder wurde. Bis sich Politiker aus der Hauptstadt, Politiker aus Timbuktu, urban-dynamische Telekom-Macher und Touristiker aus Bamako von der Überraschung erholt hatten, überhaupt nominiert zu sein, war es bereits zu spät, wenngleich die Stadt es ins Finale schaffte, sich demnach immerhin als eines von 14 Wundern betrachten darf. 100 Millionen abgegebene Stimmen, hieß es vonseiten der Organisatoren der neuen Weltwunderliste, da konnte Timbuktu keine Lobby bilden, die groß genug gewesen wäre.

Aber man hat es versucht. Totalmobilmachung wurde ausgerufen, die Operation „Ein Klick für Timbuktu“ ins Leben gerufen, alle Bewohner wurden ins Telecentre zur Gratisabstimmung genötigt. Es hat nicht funktioniert. Die Konkurrenz war zu groß. Gegen das Kolosseum oder den Taj Mahal hatten die Lehmbauten, goldenes Mittelalter hin oder her, keine Chance.

Malis „Mysteriöse“

Immerhin hat die Stadt es noch geschafft, in der Schlussphase der Wahl die Macher der Liste zu überraschen. Der halbe Kontinent hat sich anscheinend in letzter Minute für Timbuktu stark gemacht. Mali allein schickte in einer Woche mehr Stimmen als ganz Deutschland bis dahin. Hätten die afrikanischen Organisatoren und deren Sponsoren mit der Mobilmachung bloß einen Monat früher begonnen! Timbuktu hat fast den siebenten Platz erreicht. Die Geschichte passt zu Afrika. Nicht genügend Geld für eine professionelle Kampagne, nicht genügend Leute mit Internetzugang. Im Grunde ist eine solche Liste natürlich unerheblich, bloß ein weiteres Beispiel für die Sucht, alles in das hierarchische Korsett von Bestenlisten zu pressen. Aber es hätte Touristen gebracht, die hätten Geld und Entwicklung gebracht für die Stadt, die Region, das Land. Es hätte Sponsoren gebracht, um Bibliotheken und Manuskripte zu konservieren.

Es gibt eine Möglichkeit, von Timbuktu nicht enttäuscht zu werden, aber nur wenige nutzen sie, denn sie bedeutet Arbeit: Man lese vor der Reise die Berichte von Leo Africanus, Mungo Park, René Caillié, zwischendurch die Segu-Romane von Maryse Condé. Sie vermögen die Fantasie zu packen wie seinerzeit Karl May. Und nicht zu vergessen: „Der einzige Ort“, des Österreichers Thomas Stangl einzigartiger Roman um Timbuktus „Entdeckung“. Unterwegs werden vielleicht die anderen Städte – Segu und Djenne und Mopti – halten, was Timbuktu auf der Reise im Kopf verspricht, aber auch da bedarf es der Imagination. Freilich nützt das den Maliern wenig.

Wann immer irgendwo Timbuktu erwähnt wird, dann immer mit dem Attribut „die Mysteriöse“, selbst in den malischen Zeitungen, auch bei Themen wie Lokalpolitik, Infrastruktur oder Entwicklung. Desgleichen werden ständig die 333 Heiligen und/oder Weisen beschworen, etwa dass sie den Fußball ins richtige Tor fliegen lassen, die Malariainfektionsrate senken oder die Klicks auf die Weltwunderliste verdoppeln. Letztere wurden übrigens beworben mit dem Zusatz: dass aus dem Mythos Realität werde. Schön langsam beginnen die Malier vielleicht schon selbst an den Mythos Timbuktu zu glauben. ■

MALI: Daten und Fakten

Der westafrikanische Staat Mali, seit 1960 von Frankreich unabhängig, gehört zu den ärmsten Ländern der Welt, seine Fläche besteht zu zwei Dritteln aus Wüste.

Amtssprache ist Französisch, Währung der CFA-Franc, die Währung der Westafrikanischen Wirtschafts- und Währungsunion (UEMOA).

Zuletzt geriet Mali im Zusammenhang mit der Entführung und Freilassung zweier Österreicher in die Schlagzeilen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.01.2009)

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