Der Gletscher vor Wien

Vor 80 Jahren: Ein mächtiger Eisstoß baut sich auf, von Hainburg kommend, erreicht die Reichsbrücke, zwei Tage später Kritzendorf, dann Tulln und Krems. Die Donau ist erstarrt – zugefroren auf einer Länge von 40 Kilometern. Der Februar 1929: eine Erinnerung.

Der „Höhepunkt des Winters“ sei jetzt: „Die Donau ist völlig zugefroren und die Witterung ohne Öfen und Pelze nicht auszuhalten.“ Die englische Schriftstellerin Mary Wortley Montagu berichtete im Jänner 1717 anlässlich ihres Aufenthalts in Wien mit Staunen über einen Umstand, der für die einheimische Bevölkerung längst zum winterlichen Alltag gehörte. Mit beständiger Regelmäßigkeit fror die Donau – damals noch unreguliert und in unzählige Seitenarme verzweigt – in den Kältemonaten zu. Die Strömung kam gänzlich zum Erliegen, dicke Eisschollen verhinderten jeglichen Schiffsverkehr. Und hielten die tiefen Temperaturen lange genug an, so zeigte sich das faszinierende Naturschauspiel des Eisstoßes, bei dem sich die Eismassen mit ungeheurer Wucht ineinanderschoben und meterhoch auftürmten.

Ausführlich berichten die Chronisten des 18. und 19. Jahrhunderts von derartigen Ereignissen, die lange Zeit als gefürchtete Katastrophen in die Geschichte der Stadt eingingen. Denn die Macht des vordringenden Eises zerstörte Brücken und Stege und überschwemmte im Falle eines allzu raschen Auftauens die Uferzonen bis weit in die Stadt hinein.

Besonders dramatisch war die Situation im Jänner 1830, als die Temperaturen auf 22 Grad unter null sanken. Der sich bildende Eisstoß hielt mehr als einen Monat lang an, ehe Ende Februar plötzlich Tauwetter einsetze. Das Eis brach, die abgehenden Schollen zerstörten die große Taborbrücke, die wichtigste Verkehrsverbindung über die Donau, und rissen unzählige Gebäude nieder; ungeheure Wassermassen ergossen sich mit rasender Geschwindigkeit in weite Teile der Leopoldstadt und der Rossau. „In der Nacht brach das Eis über alle Dämme, und zentnerschwere Eisschollen durchflutheten die Straßen der dem Strom näher liegenden Vorstädte Wiens. In der Allee war das Eis klafterhoch zwischen den Bäumen aufgeschichtet und hielt dort an bis zum Monate Mai.“ Die Bilanz war verheerend: 74 Tote, darunter 19 Kinder, 681 zerstörte und schwer beschädigte Häuser.

Auch in den folgenden Jahrzehnten endeten noch mehrere Eisstöße mit zerstörerischen Überschwemmungen (vor allem 1862 und 1871), sodass die schon seit Längerem anstehenden Pläne zur Regulierung der Donau immer dringender wurden. In einem gewaltigen Bauvorhaben erhielt sie in den Jahren 1870 bis 1875 ein neues Strombett. Die zahlreichen Seitenarme, mit Ausnahme des Donaukanals, wurden abgetrennt oder zugeschüttet; ein großflächiges Überschwemmungsgebiet, das von jeder Bebauung freigehalten war, diente als Auffangbecken für künftige Hochwasser.

Ein Zufrieren sollte durch den nunmehr geradlinigen Verlauf der Donau und die damit verbundene Erhöhung der Fließgeschwindigkeit weitaus schwerer möglich sein. Als spezielle Schutzmaßnahme wurde am Beginn des Donaukanals, als Teil der Nussdorfer Schleuse, ein Schwimmtor installiert. Mit diesem im Jahre 1878 nach Plänen von Wilhelm Freiherr von Engerth errichteten „Sperrsschiff“ sollte das Eindringen von Hochwasser und Treibeis in den stadtnächsten und daher lange Zeit gefährlichsten Donauarm verhindert werden.

Bis minus 29 Grad Celsius

Die Idee, das Eis einfach vor der Stadt aufzuhalten, erwies sich als durchaus effizient. Zur Jahrhundertwende erneuerte Otto Wagner die Sperrvorrichtung, die bis heute – abermals modernisiert – einen wesentlichen Teil des Hochwasserschutzes von Wien darstellt.

Die technische Bewältigung der Gefahren durch das Eis machte Platz für seine ästhetische Bewunderung als Naturphänomen. Nun konnte man sich etwas gelassener den visuell wie akustisch beeindruckenden Erscheinungsformen des gefrorenen Flusses hingeben. Ein diesbezüglicher Höhepunkt wurde Anfang Februar 1929 erreicht, als sich ein gewaltiger, seit Jahrzehnten nicht mehr gesehener Eisstoß aufzubauen begann. Immer tiefer sanken die Temperaturen, bis minus 29 Grad Celsius, eine einmalige Marke, die seit 1775, dem Beginn der regelmäßigen Wetteraufzeichnungen in Wien, noch nie erreicht worden war (der bisherige Tiefstwert lag bei minus 24 Grad im Jahre 1850).

Der anhaltende Frost versetzte die Stadt in Ausnahmezustand. Gas- und Wasserleitungen begannen zu bersten, unzählige Menschen konnten ihre Wohnungen nicht mehr heizen, Rettungseinsätze waren an der Tagesordnung; die Züge waren eingestellt, die Schulen geschlossen, die Straßen beinahe entvölkert; die Zeitungen beschworen ein Kriegsszenario, schrieben von einer „Kältekatastrophe“.

Und ein Kampf der besonderen Art war auch an Wiens Hauptstrom im Gange: „Langsam, träg und geheimnisvoll fließt unsichtbar die Donau, deren Bewegung nur daran zu erkennen ist, dass sie eine große Eisdecke auf ihrem Rücken trägt, die in unaufhaltsamer Fahrt abwärts gleitet. An beiden Ufern, bis weit in die Mitte des Flusses, stemmen sich kantige Eisblöcke, meterhoch, dem neuen Massendrängen entgegen, und im wilden Kampf der vordringenden Eismassen knistert und knackt es, werden Vorposten der Elemente im Nahkampf durch Stöße und Risse verwundet, um sich endlich zu spalten und zu neuen Formen zu vereinen. Die Menschen am Ufer betrachten erwartungsvoll und beklommen das Naturschauspiel. Die Donau ist verschwunden. Statt ihrer dehnt sich ein riesenhaftes Eisparkett rechts und links und bis zur Lobau.“

Dann kam die Bewegung zum Stehen. Ein mächtiger Eisstoß baute sich, von Hainburg kommend, stromaufwärts auf, erreichte am 9. Februar die Reichsbrücke, zwei Tage später Kritzendorf, dann Tulln und Krems. Die Donau war erstarrt – zugefroren auf einer Länge von 40 Kilometern, von Ungarn bis in die Wachau.

Trotz der widrigen Wetterverhältnisse strömten Massen von Schaulustigen an die Ufer. Ehrfurchtsvoll bestaunten sie Wiens neue Attraktion, lauschten mit wohligem Schauer dem Krachen und Knattern des Eises. Die „Neue Freie Presse“ berichtete: „Der Frost und seine Folgen sind allgemein Tagesgespräch, und die neueste Sehenswürdigkeit, das seit vielen Jahren nicht mehr geschaute Wunder des Eisstoßes, war gestern das Wanderziel vieler Tausende von Menschen. Mit der Straßenbahn, mit Autos, zu Fuß – die Bundesbahnen hatten nach Heiligenstadt sogar einen Sonderzug in Betrieb gestellt – strebte alles der Donau zu, um ein anschauliches Bild einer Polarlandschaft zu bewundern.“

Und weiter: „Es ist ein aufregend schönes Schauspiel, dem Aufbau des Eisstoßes bei der Nussdorfer Schleuse zuzuschauen oder den bereits zu mächtiger Höhe gewachsenen Eisstoß bei der Reichsbrücke zu betrachten, der wie ein vielfach zerklüfteter, im hellen Sonnenschein wie Silber glänzender Panzer den mächtigen Strom in Fesseln geschlagen hält.“

Eine wahre „Völkerwanderung“ setzte ein, selbst Bürgermeister Karl Seitz und Stadtrat Julius Tandler ließen sich das Naturschauspiel nicht entgehen. Die Gasthäuser in der Nähe des Stromes waren tagelang überlaufen; fliegende Stände versorgten die Schaulustigen mit Imbissen und warmen Getränken.

Arktische Metaphern, wie man sie sonst nur von polaren oder alpinen Expeditionen kannte, machten die Runde. Man sprach von „Schollenchaos“ und „Eiswüste“, von „Gletscherfeldern“ und „Gletscherspalten“, die über eine Länge von mehr als 20 Metern verliefen und eine Tiefe bis zu fünf Metern erreichten. Wagemutige hatten sichere Fußpfade quer über den Strom gelegt, die sogleich von unzähligen Passanten frequentiert wurden.

Als besonderes Highlight fand sich am 12. Februar auch der Verein „Verkühle dich täglich!“ unter der Reichsbrücke ein. Ein Loch wurde in die Eisdecke geschlagen und unter der Anleitung des 64-jährigen Arztes Dr. Panesch tauchten mehrere Männer und Frauen in die eisigen Fluten. Dr. Panesch, der derartige Abhärtungsmethoden schon seit vielen Jahren praktizierte, beschwor eindringlich deren erquickende und wohltuende Wirkung.

All dies wurde auf Ansichtskarten festgehalten und in großer Auflage verbreitet. Der Eisstoß geriet für manche auch kommerziell zum Erfolg.

Erinnerungsbilder an dieses spektakuläre Ereignis schrieben sich ein ins kollektive Gedächtnis der Stadtbewohner und zirkulieren bis heute in Sammlerkreisen oder auf Ebay. Als bevorzugte Schauplätze kristallisierten sich dabei Nussdorf und die Reichsbrücke heraus, zwei Orte, die relativ leicht erreichbar waren und per se einen hohen Identifikationsgehalt für die Wiener aufwiesen.

„Heroismus des Eises“

Betrachtet man die Bildinszenierungen genauer, lässt sich deutlich jener „Heroismus des Eises“ feststellen, den die Fotohistorikern Monika Faber als konstitutiv für viele seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert entstandenen Fotografien von Eislandschaften bezeichnet. Egal ob auf dem alpinen Gletscherfeld, in der Polarebene oder auf dem nun direkt vor der Haustür des Großstädters entstandenen „Eismeer“ – stets wird der (kleine) Mensch mit der Mächtigkeit und Größe des Eises kontrastiert. Mutig scheint er sich jenem Element entgegenzustellen, das ihn gleichermaßen bedroht wie fasziniert. Es ist zumeist die Weite und Ausgedehntheit des Eisfeldes, die auf den Bildern dominiert, und bisweilen wagen es die Ansichtskartenfotografen sogar, emporragende Eisschollen in visuellen Bezug zu setzen zu den Wiener Hausbergen Kahlen- und Leopoldsberg.

Einen ganzen Monat lang war der Eisstoß die Hauptattraktion von Wien. Erst Mitte März stiegen die Temperaturen allmählich. Die Befürchtung, dass dies zu rasch geschehe, erwies sich als unbegründet. Das Überschwemmungsgebiet sei groß genug, so versicherten die Experten, um die Wasser- und Eismassen aufzunehmen. Am 15. März war es endlich soweit: Das Eis setze sich langsam in Bewegung – wie schon bisher unter großer Anteilnahme der Bevölkerung. Ein Zuschauer notierte die genaue Uhrzeit auf der Rückseite seiner Ansichtskarte: „Eisstoß abgegangen um 1 Uhr mittag.“

Nur vereinzelt gab es lokale Wasserstauungen, und am Nussdorfer Wehr reckten sich die Eisschollen ein letztes Mal bis zu zehn Metern hoch. Doch der gefürchtete Abgang verlief ohne größere Schäden. Hängen gebliebenes Treibeis wurde durch Sprengungen des Militärs wieder flott gemacht – Wien war wieder aufgetaut.

Zwar gab es auch danach noch mehrmals Eisstöße, etwa in den 1940er- und 1950er-Jahren, doch sie waren bei Weitem nicht so spektakulär wie jener des Jahres 1929. Angesichts der globalen Klimaerwärmung scheint dies auch vorerst die letzte Möglichkeit gewesen zu sein, das bizarre Naturschauspiel in derart unmittelbarer Nähe zu bewundern. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.01.2009)

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