Vom Ertränken im Toten Meer

Manche vergleichen ihn mit Jörg Haider, andere mit Jean-Marie Le Pen: wie der Rechtspopulist Avigdor Lieberman zum großen Gewinner der israelischen Parlamentswahl werden konnte.

Den israelischen Parlamentswahlen am 10. Februar wurde von vielen Kommentatoren eine Schlüsselbedeutung beigemessen. Nach dem Gaza-Krieg und dem Amtsantritt des neuen US-Präsidenten Barack Obama sollte ihr Ausgang richtungsweisend für die Zukunft Israels und des Nahen Ostens sein. Das Ergebnis ist ernüchternd, auch wenn es im Wesentlichen vorhersehbar war. Dass Kadima, die regierende Partei der politischen Mitte, ihren Stimmenanteil von etwas über zwanzig Prozent halten konnte und weiterhin die stärkste Fraktion in der Knesset, dem israelischen Parlament, bleibt, war wahrscheinlich die größte Überraschung.

Dass der konservative Likud unter Benjamin Netanjahu stark zulegen und die Arbeiterpartei verlieren würde, war die unmittelbare Folge der tragischen Ereignisse der letzten Jahre: Zwei Kriege, die viel Leid über die Zivilbevölkerung gebracht haben und einen dauerhaften Frieden in noch größere Ferne gerückt haben als zuvor, der anhaltende Beschuss Südisraels durch Raketen, ein stetiges Erstarken radikaler Kräfte in der islamischen Welt, die Israel um jeden Preis zerstören wollen, ökonomische Probleme, ein Premier unter Korruptionsverdacht und ein Staatspräsident, der angeblich Frauen vergewaltigt haben soll und deshalb zurücktreten musste. Das Vertrauen der israelischen Bevölkerung in ihre politische Klasse, das schon früher nicht besonders groß war, ist auf einem Tiefpunkt angelangt. Im Zweifelsfall wählt man in Zeiten der Krise und der scheinbaren Ausweglosigkeit jene, die eine klare Perspektive haben und einfache Lösungen anbieten, die Welt in Schwarz und Weiß unterteilen und für „Law and Order“ eintreten. Zwölf Prozent der Israelis haben deshalb am Wahltag Avigdor Lieberman und seiner 1999 als Partei russischer Zuwanderer gegründeten Gruppierung „Israel Beitanu“ (Unser Haus Israel) ihre Stimme gegeben und sie damit zur drittstärksten Kraft im Lande gemacht. Der 1958 im sowjetischen Kischinjow (heute Chişinău in Moldawien) geborene und seit 1978 in Israel lebende Lieberman war Rausschmeißer in einem moldawischen Nachtclub und Journalist in Baku, bevor er sich dem Zionismus zuwandte, in Jerusalem Politikwissenschaft studierte und schließlich selbst in die Politik ging. In den Neunzigerjahren war er Mitglied des Likud und ein Vertrauter Benjamin Netanjahus. Später ging er sowohl mit Ariel Sharon wie mit Ehud Olmert Koalitionen ein und war zeitweise Infrastruktur- und Verkehrsminister. Dass Lieberman, so wie einige andere israelische Spitzenpolitiker, unter Bestechungsverdacht steht, hat ihm bei den Wahlen offenbar nur wenig geschadet.

Von vielen Journalisten und von seinen politischen Gegnern wird Lieberman oft mit Jean-Marie Le Pen, vor allem aber mit Jörg Haider verglichen. Von Politologen wird „Israel Beitanu“ als rechtsextrem eingestuft. Dass diese Gruppierung in der größtenteils von Zuwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion bewohnten Stadt Aschdod schon 2006, bei den letzten Wahlen, etwa sechzig Prozent der Stimmen erhalten hatte, ist ein deutliches Zeichen für eine zunehmende Radikalisierung. Lieberman verstärkt die in der israelischen Gesellschaft ohnehin stark ausgeprägten Tendenzen, auf das moralische Niveau ihrer extremistischen Feinde wie der Hamas, der Hisbollah oder der iranischen Führung hinabzusteigen und – statt nach realistischen Lösungen zu suchen - dem Terror und den Vernichtungsphantasien dieser religiösen Fanatiker mit Rassismus und faschistoider Rhetorik zu begegnen. Im Jahre 2003 zum Beispiel machte Lieberman den Vorschlag, palästinensische Gefangene in Bussen an einen Ort zu bringen, „von dem aus sie nicht zurückkehren“. Dafür böte sich das Tote Meer an, in dem diese Menschen ertränkt werden könnten.

Drei Jahre später forderte er in der Knesset, einige arabische Abgeordnete, die er für Landesverräter hielt, vor Gericht zu stellen und hinzurichten. Nachdem die Hamas begonnen hatte, Israel mit Raketen zu beschießen, meinte Lieberman, man solle mit dem Gaza-Streifen so verfahren, wie die USA mit Japan im Zweiten Weltkrieg. Auch wenn er dabei nicht explizit von einem Atombombenabwurf sprach, löste diese Äußerung in Israel einen Sturm der Entrüstung aus. In seiner „Ideologie“ erinnert Lieberman weniger an Haider oder Le Pen, sondern eher an Slobodan Milošević. Israel solle alle jüdischen Siedlungen im Westjordanland annektieren, dafür aber einige mehrheitlich von Arabern bewohnte Gebiete Israels an die palästinensische Autonomiebehörde abtreten.

Die meisten Araber mit israelischer Staatsbürgerschaft müssten „ausgesiedelt“, also vertrieben werden, andere einen „Loyalitätstest“ ablegen, um weiterhin ihre Staatsbürgerschaft behalten zu dürfen. Außerdem möchte Lieberman die Exekutive auf Kosten des Parlaments stärken und in Israel ein Präsidialsystem einführen. Diese Idee findet nicht nur bei Juden, sondern auch bei einigen Arabern in Israel Anklang. Etwa die Hälfte aller Drusen auf den Golanhöhen haben diesmal, hauptsächlich aus Protest gegen die Politik der anderen Parteien, aber auch weil sie Liebermans hierarchischen und simplen Denkansätzen viel abgewinnen können, für „Israel Beitanu“ gestimmt. Die religiöse Gemeinschaft der Drusen steht seit der Staatsgründung loyal zu Israel. Drusen dienen in der Armee, manche von ihnen haben hohe Posten in der Staatsverwaltung inne. Mit Hamad Amar zieht nun auch ein Druse für „Israel Beitanu“ als Abgeordneter in die Knesset ein. Die Sehnsucht nach einem „starken Mann“ geht demnach über alle religiösen und ethnischen Grenzen hinweg.

„Der Vergleich zwischen Avigdor Lieberman und Jörg Haider tut dem österreichischen Nationalisten unrecht“, schreibt die liberale Journalistin Akiva Eldar in der israelischen Tageszeitung Ha’aretz. Haider sei alles andere als ein rechtschaffener Mensch gewesen, aber er habe nie die Ausweisung österreichischer Staatsbürger, die seit Generationen in ihrem Land gelebt hatten, verlangt und auch nie den Vorschlag gemacht, Parlamentsabgeordnete vor ein Exekutionskommando zu stellen.

In der Tat wollte Haider nie alle Slowenen aus Kärnten ausweisen (diese Vorgehensweise hatte er für Asylwerber und Ausländer, die ihm nicht genehm waren, reserviert) oder den Vorschlag gemacht, grüne Abgeordnete oder slowenische Vertreter, die seine Politik ablehnten, im Wörthersee zu ertränken oder erschießen zu lassen. Allerdings hat sich noch nie ein Slowene in einem Kaffeehaus in Klagenfurt in die Luft gesprengt oder Villach mit Raketen beschossen.

Der anhaltende Kriegszustand im Nahen Osten und die permanente Angst, mit der die Menschen in dieser Region leben müssen, machen Liebermans populistische Äußerungen verständlich, aber sie entschuldigen sie nicht. Im Gegenteil: wenn Deeskalation, die Suche nach neuen und kreativen Lösungsansätzen und Visionen, die über den nächsten Tag hinaus gehen, die einzige Alternative zu einem nächsten Krieg bedeuten, kann ein Populist wie Lieberman ungleich mehr Schaden anrichten als ein Haider oder ein Strache in Österreich oder ein Le Pen in Frankreich, doch nachdem Liebermans Partei bei den nun folgenden schwierigen Koalitionsverhandlungen das Zünglein an der Waage sein dürfte, scheint dieser Schaden beinahe unvermeidbar zu sein.

Liebermans Ansichten sind weder durch die Krise im Nahen Osten noch durch die Spezifika der israelischen Gesellschaft oder gar durch das kollektive jüdische Gedächtnis und die anhaltenden Traumata jahrhundertelanger Unterdrückung und Verfolgung zu erklären. Sie sind weder jüdisch noch israelisch, sondern sowjetisch. Deshalb ist auch der Vergleich mit Jörg Haider nur zum Teil berechtigt. Lieberman ist weder ein reiner Populist noch jemand, der in einer erkennbaren faschistischen Tradition steht. Stattdessen bietet er für komplexe Probleme bolschewistische Lösungen an: Wer die Macht hat, soll sie rücksichtslos einsetzen; der Zweck heiligt die Mittel. (Übrigens sind viele palästinensische Politiker ebenfalls sowjetisch geprägt. Sie haben – wie zum Beispiel Palästinenserpräsident Mahmud Abbas – in der Sowjetunion studiert oder wurden dort politisch indoktriniert.)

Wie schon erwähnt, ist Lieberman gerade bei Zuwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion sehr populär. Die Mehrheit der russischen Juden in Israel wählt traditionell rechte Parteien. Das heißt nicht, dass sich die meisten von ihnen mit dem identifizieren, was man im Westen gemeinhin als rechte Politik bezeichnet. Die „Russen“ halten nicht viel von Steuersenkungen, der Privatisierung sozialer Einrichtungen, der Entbürokratisierung oder der Liberalisierung von Märkten. Stattdessen befürworten sie einen starken Staat, der für das Wohl seiner Bürger (im wirtschaftlichen wie im sozialen Bereich) verantwortlich ist. Doch durch ihre jahrzehntelange Erfahrung als unterdrückte Minderheit in der Sowjetunion haben sie gelernt, jeglichem Idealismus, der sich auf humanitäre Grundsätze beruft, mit Zynismus zu begegnen. In der Sowjetunion war man mit der entsprechenden „humanistischen“ Rhetorik auf Schritt und Tritt konfrontiert, und doch war sie nichts als eine heuchlerische Verschleierung von Rechtlosigkeit und Armut. Differenziertes Denken wurde weder gelehrt noch war es gefragt, eher schon ein gewisses Maß an Rücksichtslosigkeit, um in der Dikatur zu überleben. Dabei hatten viele Menschen keine andere Wahl, als die Mentalität ihrer Unterdrücker so weit zu internalisieren, um ihnen physisch und vor allem psychisch widerstehen zu können. So etwas lässt sich in zwei Jahrzehnten nicht einfach „verlernen“. Der Versuch der „Linken“, Kompromisse zu finden, beiden Seiten zu verstehen oder gar die Menschenrechte als Argument ins Spiel zu bringen, löst bei vielen russischen Juden – insbesondere jenen der älteren Generation – nur Spott und Hohn aus, während Gewaltphantasien als Ventil dienen.

Ich selbst habe diese Erfahrung in zahlreichen Gesprächen mit Verwandten und Bekannten in Israel gemacht. Der „Transfer“ aller Palästinenser nach Jordanien? Warum nicht. Die Al-Aqsa-Moschee sprengen? Gute Idee! Alle Familienangehörige von Selbstmordattentätern kollektiv bestrafen? Bestimmt effizient und zielführend!

Selbstverständlich denken bei weitem nicht alle russischen Juden so. Die meisten sind keine Rassisten, und sie entwickeln keinen Hass auf Araber, denen sie im Berufsleben begegnen oder mit denen sie privat zu tun haben. Vielmehr arbeiten sie oft jahrelang Seite an Seite mit ihren arabischen Kollegen, weil sie sich für jene anstrengenden und schlecht bezahlten Jobs nicht zu schade sind, die kaum ein alt eingesessener jüdischer Israeli jemals annehmen würde. Die „Russen“ kaufen in billigen arabischen Geschäften ein, die andere Juden „aus Sicherheitsgründen“ meiden, und haben keine Angst, in der Nähe arabischer Viertel zu wohnen. Sogar Liebesbeziehungen zwischen russischen Juden und Arabern sind keine Seltenheit mehr.

Wenn es jedoch um Politik geht, sind die russischen Zuwanderer für Liebermans Slogans anfällig. Darin spiegelt sich in einem nicht geringem Maße die Sehnsucht nach jener utopischen Welt wider, die ihnen in der Sowjetunion so oft versprochen, jedoch immer vorenthalten wurde, einer von Konflikten freien Welt des Glücks, die nur noch durch einen radikalen und mutigen bolschewistischen Kraftakt errichtet zu werden braucht. Eine solche Welt aber ist noch viel irrealer als ein dauerhafter Frieden im Nahen Osten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.02.2009)

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