Beichtväter und Jungfernhaut

„Expedition Europa“: Wie christlich ist Armenien?

Armenien war der erste christliche Staat der Welt. Dunkel schweigende Steinkirchen im baumlosen Gras des Südkaukasus, das kann einen schon anziehen. Auch ich war dort. Ich will nicht verhehlen, dass mein Pilgerbericht mehr Irritationen als Erbauungen enthält: Ich fand rohe Umgangsformen, die wohl einzige Boombranche befasste sich mit der Wiederherstellung von Jungfernhäutchen, und so mancher armenische Ehemann quatschte mich mit Rassentheorien des gelungenen Seitensprungs voll. Unterbrochen von Ausrufen wie: „Ohne den Beistand des Herrn bin ich nichts!“ Vor allem aber forderte mich das wehrhafte Christentum der Armenier heraus. Ich selbst hatte in Österreich noch die erdgeschichtlich einmalige Einrichtungder paritätisch besetzten „Gewissensprüfungskommission“ durchlaufen, die Sozialpartner hatten mir den Dienst mit der Waffe in Anerkennung meiner christlichen Erziehung erlassen. Das armenische Christentum denkt genau andersrum.

Ich besuchte als erstes ein Kloster, auf einer Halbinsel im Hochlandsee Sewan gelegen. Ein französischer Forscher hatte 1830 berichtet, in Sewanank gebe es weder Fleisch noch Wein, weder Jugendliche noch Frauen. 2014 stieg ich mit zahlreichen Touristen die Anhöhe hinauf. In einer kleinen Kirche wurden Bücher und dünne Kerzen verkauft. Die Touristen zündeten Kerzen an, eine Mitarbeiterin mit Kopftuch riss noch brennende Kerzen aus dem Sandbehältnis, warf sie büschelweise in den Mistkübel.

„Stellen Sie sich in die Mitte!“

Ich fuhr nach Schuschi, in die von Aserbaidschan abgespaltene Armenier-Republik Bergkarabach. Ehemals Kurstadt und Architekturjuwel, war Schuschi nun ein Schatten. In der restaurierten Erlöserkathedrale sah ich drei schmutzige Durchreisende, wie sie ihre Handflächen zum Altar hin erhoben, als würden sie sich vom Allerheiligsten durchströmen lassen. Rückwärts gehend verließen sie die Kirche. Im Keller befand sich ein Raum mit Kuppeldecke. Ein junger Mann in schwarzer Kutte forderte mich auf: „Stellen Sie sich in die Mitte!“ Plötzlich klang meine Stimme verzerrt. „Paraboleffekt“, sagte der Mann, „hier wurde die Beichte gehört. Der Beichtvater stand, wo ich jetzt stehe.“ Augenblicklich fühlte ich mich schuldig.

Ich fuhr nach Gandsassar hinauf, auf Armenisch „Schatzberg“. 1991, im aserbaidschanisch-armenischen Krieg, wurde das Kloster beschädigt, nun küssten Exilarmenier wieder die in die Pforte gemeißelten Kreuze. Ich verließ die Kirche rückwärts, das hatte ich mir abgeschaut. So mancher Armenier schlurfte achtlos herum. Unangekündigt klopfte ich beim Vorsteher. Der „Grigor“ ließ mich ein. In dem Adlerhorst fand ich einen schlaksigen Intellektuellen mit aushängendem Hemd, umgeben von Ikonen und moderner Kunst. Er saß plaudernd auf einem Sofa, auf welchem er auch las, diskutierte, schlief. Der Priester war früher Jazzrocker gewesen, hatte seine Familie in Eriwan gelassen, hielt den Kontakt per Skype.

Er hatte selbst „für Großarmenien“ gekämpft, wie angeblich auch sein Vorgänger. Der Grigor bezeichnete das lachend als Geschichten: „Er behauptet, dass sich bei seinem Gebet die Engelstatuen bewegten. Außerdem, er sei bei der Einnahme von Schuschi dabei gewesen. Der Priester auf dem Foto, das bin aber ich.“ Das Vorbild eines kämpfenden Priesters sei im Krieg auf jeden Fall wichtig. Er denke viel darüber nach, warum die Wörter für Demos und Dämon so ähnlich seien. „Wir lernen, näher an Gott zu sein, aber wir fürchten uns.“ 1700 Jahre armenisches Christentum, da musste ich auch kritisch fragen. Der Grigor nahm es nicht persönlich. Bergkarabach, so groß wie Oberösterreich, habe nur elf Priester. „Wenn der Mensch den Kontakt zu Gott und zur Natur verliert, dann sieht's aus wie hier.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.11.2014)

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