Ist die Stadt noch für alle da?

„Der Anblick eines Bettlers bringt uns dauernd an unsere eigenen Grenzen.“ Die Bildungswissenschaftlerin Marion Thuswald, Vertreterin der Bettellobby Wien, im Gespräch.

Wer durch die Stadt geht, sieht sie: Oft sitzen sie zusammengekauert und unscheinbar vor Kirchen, Supermärkten oder einfach auf etwas geschützten Plätzen am Gehsteig und halten wortlos die Hand auf – bettelnde Frauen und Männer. Der wohlstandsverwöhnte Bürger schaut weg und geht schnell weiter. Der Anblick von Bettelnden passt nicht in unser perfektes Bild der Gesellschaft und unserer Citys. Auch tut die Architektur und die Stadtgestaltung ein Übriges, um diese „störenden“ Punkte im Gefüge der Stadt zu verdrängen. Ob Sandlerdebatte im Stadtpark oder Bürgerproteste gegen Notschlafstellen – die Diskussionen sind oft polemisch, einseitig und von politischen Absichten bestimmt.

Die Bildungswissenschaftlerin Marion Thuswald ist eine Vertreterin der Bettellobby Wien: einer Gruppe, die sich der Rechte von Bettelnden und deren Wahrung annimmt. Denn Rechte haben auch bettelnde Menschen in unserer Gesellschaft.


Marion Thuswald, was hat Sie dazu geführt, sich für bettelnde Menschen einzusetzen?

Meine Wurzeln liegen eigentlich im friedenspolitischen Bereich. Nach meiner Matura mit Berufsausbildung habe ich im ehemaligen Jugoslawien in einem Friedensprojekt gearbeitet, in Vukovar. Das war 1997, 1998, in einer Zeit, als die Stadt noch ganz kaputt war. Dort gab es auch Leute, die gebettelt haben. Als ich um 2000 nach Wien zurückkam, gab es noch Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien, die hier gebettelt haben und mit denen ich mich unterhalten habe. Ich habe in Klagenfurt studiert – dort gab es sie, und es waren immer Frauen.

Wieso sind Frauen diejenigen, die betteln?

Also über Vukovar bin ich zu dem Thema gekommen, und ich habe dann meine Diplomarbeit als Bildungswissenschaftlerin über bettelnde Frauen geschrieben. Das war 2006, also Jahre später. Damals waren es aber schon keine Bosnisch-Kroatisch-Serbisch sprechenden Frauen mehr. Die zentralen Sprachen sind jetzt Rumänisch, Bulgarisch und Ungarisch, wobei die Ungarisch Sprechenden zumeist aus der Slowakei kommen. Ich habe mich auch gefragt, warum es so viele Frauen sind. Mittlerweile stimmt es ja nicht mehr so ganz, Männer verkaufen oft die Zeitungen. Aber jene, die nur betteln, sind oft die Frauen. Das hat mehrere Gründe: Es geht ja immer um das Herstellen von Legitimität beim Betteln.

Wie kann man das verstehen?

In Wien waren zwischen 1443 und 1693 alle Bettler registriert, sie brauchten das „Stadtzeichen“ um betteln zu dürfen. Da ging es auch darum, wer sind die „würdigen“ und wer sind die „unwürdigen Armen“. Würdig sind die, die keine andere Möglichkeit haben, die nicht arbeitsfähig sind. Diese Thematik zieht sich bis in die heutige Zeit durch – das meine ich mit Legitimität.

Betteln ist doch keine freiwillige Sache. Wer bettelt, ist arm und kein „Täter“.

Ja, aber trotzdem gibt es im Diskurs diese Unterscheidung. Männer im arbeitsfähigen Alter, auch wenn sie keinen Job bekommen, werden als weniger legitim angesehen. Frauen, die nicht die Familienerhalterrolle zugeschrieben bekommen, tun sich leichter, auch weil sie sozusagen weniger scheitern. Die Scham ist bei den Männern auch größer, weil sie im arbeitsfähigen Alter sind und ihrer Rolle als Familienerhalter nicht gerecht werden.

Das heißt, sie könnten arbeiten . . .

. . . aber sie bekommen keine Arbeit, nicht einmal am Schwarzarbeiterstrich. Frauen sind auch in den gesellschaftlichen Verhältnissen gewohnt, mehr „unten“ zu sein.

Weil wir in einer patriarchalischen Gesellschaft leben?

Es geht darum, wie sie von der Gesellschaft wahrgenommen werden. Es war schon vor ein paar hundert Jahren so, dass die Frauen als die legitimeren Bettler wahrgenommen wurden. Allerdings drehen viele Frauen durch das Betteln das Rollenbild um: Die Männer sind bei den Kindern, und Frauen sorgen für den Familienunterhalt. Ich habe in meiner Arbeit den Begriff „Habitus des selbstbewussten Leidens“ geprägt. Frauen dürfen beim Betteln nicht zu unterwürfig sein, sie haben eine gewisse Würde, die sie ausstrahlen, eine Bestimmtheit.

Das Phänomen Betteln ist in der Gesellschaft weitgehend negativ besetzt. Warum?

Das sind zu ambivalente Gefühle: eine Mischung aus Mitgefühl und Ärger über die ständige Konfrontation mit dem Problem. Der Anblick eines Bettlers bringt uns dauernd an unsere eigenen Grenzen. Auch die Frage: Bleibt ihm das, oder was finanziert er damit? Aber vor allem das immer und immer wieder damit konfrontiert Werden – es bleibt uns allen nicht erspart.

Wobei die Armut und der Hunger, somit auch das Betteln, die Konsequenz einer globalen Wirtschaftspolitik sind. Einer eklatanten Verteilungsungerechtigkeit.

Ja, und in Österreich glaubt man sehr gerne an den funktionierenden Sozialstaat. Der funktioniert aber jedenfalls nicht für Menschen, die aus Bulgarien oder Rumänien kommen. Da gibt es diese Abwehr: Um die können wir uns nicht auch noch kümmern.

Da spielen die Medien aber auch eine Rolle: Was in jüngerer Vergangenheit über organisiertes Betteln geschrieben wird . . .

Der Diskurs ist momentan so. Diese Menschen werden aber nicht „hergebracht“, sie organisieren sich im Familienverband zum Beispiel in Form eines Sammeltaxis, mit dem sie gemeinsam herfahren. Der eigentliche Skandal ist, dass diese Menschen hier in feuchten Zimmern und Wohnmöglichkeiten in Abbruchhäusern untergebracht werden und ihnen die Vermieter horrendes Geld für die Wohnmöglichkeit abnehmen.

Also mit dem Leid anderer Geschäfte machen.

Ja, aber es ist heikel, etwas gegen diesen Mietwucher zu unternehmen, wenn es keine Alternativen für die Menschen gibt. Wenn Medien so ein Haus skandalisieren, dann kann es passieren, dass es geräumt wird. Und auf einmal stehen 60 Leute auf der Straße – denen gibt niemand ein Quartier.

Spielt da die Stadtmöblierung auch eine Rolle? Zum Beispiel die runden Bänke, die aufgestellt werden?

Natürlich! Auch das Ausleuchten jedes Winkels, das Sichtbarmachen. Dabei wird zum Teil das Argument des Schutzes von Frauen in der Nacht benutzt, um Randgruppen zu vertreiben.

Was verbinden Sie mit dem Begriff „öffentlicher Raum“? Gibt es den noch – für alle zugänglich?

Die Erfahrung in Österreich in den vergangenen Jahren ist die: Wenn man die Gesetze, um die Leute zu vertreiben, nicht hat, dann schafft man sie eben. Wir haben in den vergangenen zehn Jahren in Österreich mehr als 15 Gesetzesverschärfungen, die nur das Betteln betreffen, bekommen.

Die Verschärfung der Wegweisung zum Beispiel, da kann die Polizei Leute wegweisen, auch wenn sie gar nichts gemacht haben, wenn sie nur durch ihr Aussehen andere beeinträchtigen. Die Bettellobby Wienbeeinsprucht diese Strafen. Die meisten bisher abgeschlossenen Verfahren haben wir für die Betroffenen gewonnen. Das ist dann schon eine moralische Unterstützung, wenn sie erfahren: So darf man mit mir nicht umgehen!

Es gibt eine Unterscheidung in Strategie und Taktik. Strategie machen diejenigen, die Macht haben und den Ort kontrollieren. Die Bettler müssen in der Zeit agieren, sie haben keinen Raum, können nur taktieren. Mit unserer Rechtshilfe – denn Recht ist eineStrategie – unterstützen wir die Leute, damit sie überhaupt agieren können, damit sie als Rechtsobjekte überhaupt wahrgenommen werden.

Wird Architektur benutzt, um diese Ausgrenzungen zu realisieren?

Ja, glatte Glas- und Stahlfassaden, total helle, ausgeleuchtete Plätze in der Stadt, wenig Nischen, wenig Rückzugsbereiche. Das wäre aber für viele Gruppen, auch für Kinder und Jugendliche, wichtig im öffentlichen Raum.

Wenn wir unsere modernen Architekturen betrachten, sind sie eigentlich nur für einen Homo oeconomicus gebaut, einem vernunftgetriebenen Agenten, dessen Handeln stets auf das Eigeninteresse zielt.

Es geht ja auch um die Idee, dass Räume mehrfach, unterschiedlich genutzt werden können. Das wäre eine raumplanerische Sache, wo Architektur eingreifen kann. Wenn die Nutzungen so stark reglementiert sind, bedeutet das für alle Einschränkungen, also auch für die Mutter, die dann auf der Bank ihr Kind nicht mehr stillen oder zum Schlafen hinlegen kann, weil der Bügel in der Mitte im Weg ist. ■

Jahrgang 1954, geboren in Gmunden. Studium der Architektur in Wien. Seit 1978 in den Bereichen Werbeagentur, Verlagswesen und Grafik selbstständig tätig. Seit 2010 Leitender Redakteur der Zeitschrift „Architektur“. Lebt als Journalist und Architekt in Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.12.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.