Noch immer einsam

Für die Regierungskampagne vor Österreichs EU-Beitritt wurden die Selbstzweifel der Bevölkerung erfolgreich instrumentalisiert. Die Orientierungslosigkeit aber ist geblieben.

Vor 20 Jahren: In der Hitparade liegt die Kelly Family voran. Die älteren Damen in Grinzing nehmen ihren Kaffee an einer kleinen Bar im Meinl-Supermarkt ein. In der Mariahilfer Straße parken ungarische Autos. Die Stadt ist grau, die Luft schlecht. Es gibt viele Österreicher, die über die wachsende Zahl an Kriegsflüchtlingen aus dem zerfallenden Jugoslawien klagen. Die FPÖ startet ein Ausländer-Volksbegehren und löst einen massiven Gegenprotest am Heldenplatz aus. Das Land wirkt aufgerüttelt und polarisiert. In den westlichen Bundesländern boomt der Fremdenverkehr, die Regionen an der Ostgrenze sind hingegen noch immer die ärmsten des Landes. Mit Neugier, aber auch mit Angst, verfolgen Burgenländer und Niederösterreicher, wie die Stacheldrahtzäune und Wachtürme nun gänzlich abgebaut werden.

Eine seltsame Stimmung macht sich breit. Es ist eine Mischung aus Unsicherheit und Selbstzweifel. Der Fall des Eisernen Vorhangs ist noch präsent, aber auch der jüngste Einsatz des Bundesheers an der Grenze zu Slowenien. Öffnung oder Abschottung? Wohin soll sich Österreich orientieren, was bleibt von der Nachkriegsordnung übrig, in der das Land vier Jahrzehnte lang seine gemütliche Nische gefunden hatte?

Österreich wirkte in den Jahren 1994 und 1995 plötzlich wieder klein und verletzlich. Die einen, US-freundliche Kreise in der ÖVP, träumten von einem raschen Nato-Beitritt, die anderen, linke Sozialdemokraten, von einer neuen, tieferen Form der Neutralität gemeinsam mit anderen blockfreien Staaten. Dazwischen agierte eine Regierung unter dem ehemaligen Bankier Franz Vranitzky, die vor allem Wirtschaftsinteressen verfolgte.

Mitten in die Suche nach einem neuen Platz in der Geschichte tauchte auf den Plakatwänden eine Werbebotschaft auf, die aktueller und treffender kaum sein konnte. Sie griff die Unsicherheit in der Bevölkerung auf: „Europa – einsam oder gemeinsam?“ Der schlichte, geniale Slogan der Agentur Demner & Merlicek war Herzstück der Kampagne der Regierung für das Referendum zum EU-Beitritt. Und die Österreicher verstanden: Entweder sie blieben in dieser sich neu formierenden Nachbarschaft auf sich allein gestellt oder sie müssten der Europäischen Union beitreten.

Die Kampagne traf mitten in die irritierte Seele der Österreicher, die sich nichts mehr wünschten als einen neuen Rückhalt. Eben erst warb Salzburg wieder mit den Schauplätzen des Films „The Sound of Music“ um Touristen. Die schönfärberische Darstellung der österreichischen Kultur griff zwar noch immer bei Urlaubern, nicht aber bei der eigenen Bevölkerung. Kitsch und Oberflächlichkeit reichten nicht mehr aus, um dem Nationalbewusstsein ein glaubwürdiges Fundament zu schaffen.

Die Leichtigkeit war zerplatzt. Die angenehme – wenn auch trügerische – Ruhe auf einer gehätschelten Insel zwischen den Blöcken war zu Ende. Jetzt hieß es, entweder das nationale Narrativ mit Inhalten zu füllen oder sich in eine Staatengemeinschaft mit klaren Werten einzuordnen.

Es war ein historischer Fehler der Koalitionsregierung aus SPÖ und ÖVP im Jahr 1994, dass sie nicht auf diese Unsicherheit und Selbstzweifel in der Bevölkerung einging, sondern diese unterschwellig mit ihrer Kampagne instrumentalisierte. „Einsam oder gemeinsam“ – das wirkte effizienter als jede mühsame Informationsarbeit. Die Frage dahinter war allen klar: Wollt ihr einem Club beitreten, der euch in ein zwar nicht gerade sympathisches, aber immerhin erfolgreiches Wirtschaftssystem integriert, oderwollt ihr in einem sich neu formierenden Europa übrig bleiben? Die Antwort fiel klar aus: Zwei Drittel der Österreicher und Österreicherinnen entschieden sich am 12. Juni 1994 in einer Volksabstimmung für den EU-Beitritt. Der sonst so pragmatische Bundeskanzler Franz Vranitzky hatte an diesem Tag Tränen in den Augen, der intellektuelle Vizekanzler Erhard Busek sang die Internationale.

Unbestritten ist: Österreich wurde damals nicht von den anderen Mitgliedstaaten in die Europäische Union gezogen. Esdrängte selbst hinein, suchte eine neue Verankerung. Der Westen war das einzige Modell, das in dieser Zeit als einigermaßen stabil und attraktiv galt. Unbestritten ist aber auch: Zu der mit dem EU-Beitritt verbundenen Übertragung von Souveränitätsrechten wurde geschwiegen. In der öffentlichen Debatte fand dieser Aspekt keinen Widerhall. Und auch ein weiteres Thema wurde kleingehalten. Die Regierung versuchte, wie später einer der österreichischen Verhandler, der Diplomat Manfred Scheich, in seinem Buch „Tabubruch“ belegte, die mit dem Beitritt verbundene Aufweichung der Neutralität zu vertuschen. In den Fernsehdiskussionen ging es um andere Themen. Es dominierten Ängste, reiche Deutsche könnten sich in Tiroler Gemeinden einen Zweitwohnsitz kaufen und die Immobilienpreise in die Höhe treiben. Es wurden Befürchtungen geäußert, die Landwirtschaft und viele bisher geschützte Unternehmen könnten der europäischen Konkurrenz nicht gewachsen sein.

20 Jahre danach: Statt „An Angel“ von The Kelly Family schallt „Atemlos“ von Helene Fischer aus dem Radio. Ein Indiz, dass es auf musikalischem Gebiet wenig Fortschritt gab. Der Meinl-Supermarkt in Grinzing ist geschlossen, Großbäckereien und die US-Kette Starbucks bieten „Coffee to go“ an. Von der Mariahilfer Straße sind die Autos mit ungarischem Kennzeichen verschwunden. Sie ist eine Fußgängerzone geworden. Wien ist bunter und die Luft besser. Daran ist unter anderem eine von Österreich übernommene EU-Regelung für strengere Abgasnormen verantwortlich. Viele der einst verunglimpften Zuwanderer aus Ex-Jugoslawien wählen inzwischen selbst FPÖ. Die Angst vor Einwanderern aus den benachbarten Bürgerkriegsgebieten ist der Angst vor Asylwerbern aus dem fernen Syrien gewichen. 20 Jahre EU-Mitgliedschaft haben das Land zum einen sehr stark verändert, zum anderen gar nicht.

Auch wenn es manche gern schwarz oder weiß sehen möchten, die Bilanz des Beitritts ist vielfarbig. Die Liberalisierung des Markts hat dazu geführt, dass die Österreicher heute billiger telefonieren und nicht mehrmonatelang auf die Zuteilung eines privaten Anschlusses warten. Auf der Westbahn fährt nicht mehr die ÖBB allein. Einige Lebensmittel wie etwa Milchprodukte oder Fleisch sind im Vergleich zu damals billiger geworden, viele Agrarbetriebe mussten im Gegenzug schließen. Raucher sind wegen gemeinsam beschlossenen EU-Regeln aus vielen Gasthöfen und Cafés verbannt worden. Restaurants müssen über allergene Stoffe im Essen informieren. Insgesamt 70.000 junge Österreicher und Österreicherinnen haben vom Studentenaustauschprogramm der EU profitiert. Aber die heimischen Unis mussten auch für deutsche Studenten geöffnet werden. Der LKW-Verkehr ist nach dem Auslaufen des Transitvertrags stark angewachsen. Die Grenzregionen im Osten erholen sich langsam und profitieren von der Aufnahme der Nachbarstaaten in die EU. Dass die Mitgliedschaft nicht nur Vorteile gebracht hat, sondern auch schmerzhafte Veränderungen, war logisch. Der Beitritt brachte nicht das erträumte warme Bad in einer neuen beschaulichen Welt, sondern das Eintauchen in die kalten Ströme des globalisierten Markts. Wie gefährlich diese sind, wurde durch die bisher schwerste Wirtschaftskrise nach dem Zweiten Weltkrieg – die von den USA ausgehende Finanz- und Schuldenkrise – offenbar. Sie zeigte auf, dass die EU und der Euro eine Schönwetter-Konstruktion waren, die dringend reformiert werden muss.

Durch die aktuelle Verunsicherung tauchte ein Phänomen auf, das nur mit der nicht überwundenen Orientierungslosigkeit der Österreicher zu erklären ist: Plötzlich erinnern sich einige im Land an den anderen Pol des Kalten Krieges, hegen Sympathien für das mittlerweile extrem kapitalistische, autoritär regierte Russland. Dessen egoistischer Nationalismus wird zur Projektion der eigenen Sehnsucht.

Dass die Orientierungslosigkeit der Österreicher durch die EU-Mitgliedschaft nicht aufgelöst wurde, hat viele Ursachen. Eine liegt darin, dass die Europäische Union nie als das wahrgenommen wurde, was sie eigentlich ist: eine Solidargemeinschaft. Sie wurde von den Österreichern vor 20 Jahren als Versicherung für wirtschaftliche und politische Pannenhilfe interpretiert. Dass jedes Mitglied an dieser Pannenhilfe mitwirken muss, war nicht vermittelt worden. Selbst die Regierung hat nie verstanden, dass die EU kein Club ist, dem sich Österreich einfach nur angeschlossen hat, sondern eine politische Ebene, die nach Mitgestaltung verlangt.

Der einstige Slogan der Werbeagentur Demner & Merlicek war letztlich richtig – „Europa – einsam oder gemeinsam“. Doch ist nur der erste Teil davon angekommen. Die Angst vor der Einsamkeit konnten die Österreicher leicht nachvollziehen. Das Wort "gemeinsam“ haben sie aber verdrängt. Dass Österreich und seine politischen Vertreter nach 20 Jahren für die Fehlentwicklungen der EU genauso mitverantwortlich sind wie für ihre Erfolge, hat sich weder im Bewusstsein der Regierenden noch bei der Bevölkerung verfestigt.

Die EU-Mitgliedschaft ist eine politische Themenverfehlung geblieben: Den Regierenden geht es, wie sie oft sagen, in Brüssel um die Durchsetzung „österreichischer Interessen“. Die Bevölkerung würde das naturgemäß gerne glauben. Da aber in den Brüsseler Gremien dann gemeinsame europäische (Wirtschafts-)Interessen dominieren, fühlen sich die Menschen hinters Licht geführt. Darunter leidet die Glaubwürdigkeit der Regierenden in gleichem Maß wie jene der Europäischen Union. Brüssel wird als Moloch wahrgenommen, durch den Österreich fremdbestimmt wird. In Wirklichkeit ist das Gegenteil der Fall. Weit über 90 Prozent aller Beschlüsse im Rat der EU – dem Entscheidungsgremium der Regierungsvertreter – fallen einstimmig mit Zustimmung Österreichs. Ob Allergene auf Speisekarten oder das Aus für die Glühbirne, heimische Vertreter waren stets dabei.

Was für ein Missverständnis: Österreich fühlt sich in der Europäischen Union „einsam“, obwohl es längst Teil der Gemeinschaft ist. Still, schweigend, ohnmächtig erscheint das Land, obwohl es an allem mitwirkt. Die Nation wird noch immer als die einzig mögliche Heimat hochgehalten, obwohl die Österreicher mit offenen Grenzen für Menschen und Waren, mit einer gemeinsamen Währung längst auch in einem europäischen Raum integriert sind. Die Regierung fördert die Illusion von nationaler Selbstbestimmung, während die Logik der Union nach transnationalen Entscheidungen verlangt.

Heute scheint es fast so, als wünschten sich viele Österreicher, der Eiserne Vorhang wäre nie gefallen, ihr Land wäre nicht der Europäischen Union beigetreten, sie hätten den Traum einer autarken Insel in einer globalisierten Welt leben können. Einsam statt gemeinsam – so, als ob die Geschichte vor 20 Jahren aufzuhalten gewesen wäre. So, als ob Österreich sich aus seiner Mitverantwortung in Europa für immer hätte herauslösen können. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.12.2014)

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