Pump und Spiele

Die Beregovo-Straße ist schon Vorstadt, ärmliche Vorstadt. Hinter einer mit Plakaten vollgeklebten Bretterwand lassen sich Form und Fenster einer kleinen Synagoge erkennen. Mukachevo, Ukraine, und seine fast vergessene jüdische Gemeinde.

Schnell ändert sich der Charakter der Kleinstadt. Die Hausfassaden werden schäbiger, der Putz bröckelt, die löchrigen Pflasterstraßen warten auf dringende Ausbesserung. Dabei sind es nur wenige hundert Meter von der freundlich herausgeputzten Fußgängerzone von Mukachevo (Munkács) mit ihren Handy-Shops und Miniboutiquen, über denen das frisch minzgrün gestrichene Rathaus wacht.

Die Beregovo-Straße ist schon Vorstadt, ärmliche Vorstadt. Hinter einer mit Plakaten vollgeklebten Bretterwand lassen sich Form und Fenster einer kleinen Synagoge erkennen, im Stil des frühen 20. Jahrhunderts. Um den Eingang zu finden, muss man sich allerdings erst in einen ungepflasterten Hof wagen. Er könnte zu einem Bauernhof gehören oder zu einem einfachen Handwerksbetrieb. Und doch steht in der niedrigen Tür ein würdiger, bärtiger Herr im schwarzen, langen Rock. „Kommt rein“, begrüßte Chaim Schlomo Hoffman, der Oberrabbiner der Karpato-Ukraine, die fremden Besucher freundlich. „Aber wie redt men? Jiddisch, magyárul, russe, Ivrit?“

Es braucht einige Minuten, bis sich die Augen an die Dunkelheit im Raum gewöhnt haben. Rechts, durch einen schweren Vorhang abgeteilt, ist der Betraum, jetzt leer, aber an den Feiertagen gefüllt mit bis zu 200 Betenden aus der Umgebung. Links glaubt man sich in einem einfachen Landgasthaus, mit rohen Holzbänken, auf den sauberen Tischen bunte Plastikfolie. „Hier kochen wir für unsere Armen“, erklärt Rabbi Hoffman. Dreimal am Tag erhalten sie hier Essen, manche, die weiter weg wohnen, nehmen sich auch etwas mit nach Hause. Jetzt werden die prall gefüllten Zwiebel- und Kartoffelsäcke am Eingang des Bethauses verständlich, die durchgehende Versorgung verlangt nach Vorräten.

Nachdem sich ein lebhaftes Sprachengemisch aus Ungarisch, Jiddisch und Hebräisch ganz natürlich ergeben hat, kann man endlich nachfragen, wieso es Rabbiner Hoffman gerade hierher verschlagen hat. „Ich bin seit mehr als 13 Jahren hier“, erzählt der jugendliche Siebziger. Diese Mission, nach dem Zerfall der Sowjetunion in die ukrainische Kleinstadt zu gehen, hat sich Hoffman in Israel selbst auferlegt: „Ich habe mit meiner Frau, Esther, elf Kinder. Ich hatte mir vorgenommen, etwas für das jüdische Gemeinwohl zu tun, falls mir der liebe Gott hilft, alle Kinder zu verheiraten. Als wir das geschafft hatten, hielt ich mein Versprechen und ging nach Kiew.“

Dort baute er eine jüdische Schule für rund 500 Kinder auf. Nach eineinhalb Jahren kamen die Gemeindevorstände von Uschgorod, Beregovo, Chust und Mukachevo und baten den Kiewer Oberrabbiner Bleich um einen eigenen Rabbiner für ihr Gebiet. „Rabbiner Bleich übertrug mir diese wichtige und verantwortungsvolle Aufgabe“, freut sich Hoffman.

Damals lebten noch fast 3000 Juden in diesem Raum, und Hoffman ging daran, in Mukachevo eine regionale jüdische Schule aufzubauen. „Mit der Zeit bekamen wir zwei große Probleme: Erstens hat unser Hauptsponsor in Kanada den Großteil seines Vermögens verloren und konnte seine finanziellen Verpflichtungen nicht mehr einhalten. Und zweitens, das ist vielleicht nicht so negativ zu bewerten, suchten viele ihr Glück woanders.“

Der Niedergang des florierenden jüdischen Lebens in Mukachevo ist auch an der wechselvollen Geschichte dieser Stadt mit rund 80.000 Einwohnern abzulesen. Der Spruch „Ich war in fünf verschiedenen Staaten, ohne Mukachevo je verlassen zu haben“ gilt als ironisches, jüdisches Bonmot für die politischen Turbulenzen in Transkarpatien während der vergangenen 100 Jahre. Bis 1918 gehörte Munkács zum Königreich Ungarn, von 1919 bis 1938 zur Tschechoslowakei und war anschließend bis 1944 von Ungarn annektiert. Dann folgte erneut eine einjährige tschechische Zugehörigkeit, und von 1945 bis 1991 war die Stadt Teil der Sowjetunion. Seit 1991 gehört Mukachevo zur Ukraine.

Aber auch einen aktuellen österreichischen Bezug hat die Stadt: Ihr Wahrzeichen, die Burg, besaß bis zum ungarischen Aufstand gegen die Habsburger (1711, Frieden von Sathmar) die Familie Rákóczi. 1726 übertrugen dann die Habsburger die Burg samt der Stadt und Umgebung an die österreichische Familie Schönborn – Vorfahren des heutigen Kardinals –, die auch viele Deutsche hier ansiedelten.

„Wir haben während des letzten Gaskonflikts zwischen Russland und der Ukraine nicht gefroren“, beruhigt Malka, die Hilfskraft des Rabbiners, „aber es herrschte eine große Angst, dass es so weit kommen könnte“. Den Beteuerungen der ukrainischen Politiker, dass genügend Gasreserven vorrätig seien, wurde nicht viel Glauben geschenkt. „Das Misstrauen in die eigene politische Führung ist sehr groß. Das fördert die stark merkbare Verdrossenheit der Menschen und führt auch zu Abwanderungen“, bestätigt Robert Jeglitsch, Diplomingenieur bei NXP, einem österreichischen Halbleiter- und Lautsprecher-Spezialisten, der in Mukachevo fertigen lässt. „Unsere Zulieferer hatten definitiv keine Energieengpässe“, weiß Jeglitsch, der bereits seit drei Jahren die Zulieferer hier betreut und dafür eine Woche im Monat in der Ukraine verbringt.

Neue Autos, kaum Kontakte

Den Großteil seiner Zeit widmet er den geschäftlichen Belangen, denn privat ergeben sich kaum Kontakte: „Die Ukrainer sind sehr mit sich selbst beschäftigt, leben eher zurückgezogen.“ Trotzdem kann der Österreicher wesentliche Veränderungen in den vergangenen drei Jahren beobachten: „Die Anzahl der Restaurants und guten Lokale hat sich verdreifacht, und die Autos sind um Klassen besser, auch wenn die meisten neuen Modelle auf Pump gekauft werden.“

Die Gewerbelandschaft hat sich verbessert, viele neue Handelsbetriebe sind entstanden. „Das ist umso bemerkenswerter, weil die Russen, die früher hier gelebt haben, alles mitgenommen haben: Sowohl Maschinen als auch Privatvermögen sind geraubt worden; es war die größte Plünderung der ansässigen Industrie“, so der Diplomingenieur. „Nicht zu übersehen sind auch die zahlreichen Spielhöllen mit Automatenkasinos“, fügt Jeglitsch hinzu.

Dokumente im staatlichen Archiv von Beregovo belegen, dass schon in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Juden in Munkács und umliegenden Dörfern ansässig waren. Doch erst 100 Jahre später, nämlich 1741, wurde mit 80 Familien die erste Gemeinde organisiert. Zuerst wuchs die jüdische Gemeinde sehr langsam, 1842 zählte man nur 301 Mitglieder. Aber bereits 1848 – während des ungarischen Aufstandes gegen Habsburg-Österreich – nahmen 247 jüdische Männer an den Kämpfen teil.

Spaltet man diesen Teil Osteuropas nach jüdischen Gesichtspunkten in eine nördliche und eine südliche Hemisphäre, dann ergeben sich zwei sehr unterschiedliche Zentren: Im Norden stünde Vilnius in Litauen als Symbol für jüdischen Idealismus und Nationalismus, während im Süden Munkács die Frömmigkeit und die geschäftliche Kreativität repräsentieren würde. Die Lehre wurde hier großgeschrieben, aus Munkács stammten weltweit angesehene rabbinische Dynastien. Bis zur Shoa gab es rund 30 Bethäuser. Schon seit 1851 existierte hier eine jüdische Lehranstalt für Knaben, und es erschienen mehrere jüdische Publikationen, darunter auch Tageszeitungen. 1871 entstand hier die erst hebräische Druckerei, und diese entwickelte sich zum wichtigsten Verlagshaus in Mittelosteuropa.

1891 war die Gemeinde schon auf 5049 Personen angewachsen, und sie repräsentierten damit fast 48 Prozent der Gesamtbevölkerung. Im Frühling 1944 lebten rund 15.000 Juden in der Stadt. Doch die jüdische Geschichte von Munkács fand ein brutales Ende, als die Stadt am 30. Mai 1944 von den Nazis als „judenrein“ erklärt wurde: Nach einer kurzen Ghettoisierung wurden fast alle Einwohner nach Auschwitz deportiert und ermordet. Dennoch lebten in den Fünfziger- und Sechzigerjahren wieder fast 2000 Juden in Mukachevo. Diese rekrutierten sich aus einigen überlebenden Rückkehrern ebenso wie aus ehemaligen Bewohnern der umliegenden Gemeinden, die keine jüdischen Strukturen nach 1945 in ihren Ursprungsorten vorgefunden hatten.

Die älteste Jüdin, die 94-jährige Miskolci Néni, gehört heute ebenso zu den „Klienten“ Rabbi Hoffmans wie drei zweijährige Gemeindemitglieder. Von den 200 Juden der Stadt kommen täglich 40 bis 50 Menschen in die Armenküche im Hinterhof der kleinen Betstube. Zu den hohen Feiertagen erhöht sich die Zahl der Besucher, weil auch aus den anderen Gemeinden Interessierte nach Mukachevo pilgern. „Am jüdischen Osterfest beteiligen sich auch Paare, bei denen nur ein Partner jüdisch ist. Aber alle sind hier willkommen“, versichert der Rabbi. Um seine tägliche Gebetsrunde, also die zehn jüdischen Männer, zusammenzubringen, muss er allerdings tief in seine Tasche greifen. „Ich bezahle den Leuten etwas. Manche Menschen, auch jüngere, leben davon: Denn oft liegt ihr durchschnittliches monatliches Einkommen bei 40 US-Dollar. Das ist so wenig – da entscheiden sie sich manchmal, das Beten professionell zu betreiben.“

Rabbi Hoffman und seine Frau Esther unterrichten auch getrennt Männer und Frauen in jüdischen Fächern in einer Art Abendschule. Sie würden gerne viel mehr tun, aber es fehlt das Geld dafür.

Hoffman selbst hat seine familiären Wurzeln nicht weit von hier: Er wurde in der ungarischen Stadt Debrecen geboren. „Meinen Vater habe ich kaum gekannt. Ich kam mit meiner Mutter ins Vernichtungslager nach Bergen-Belsen und war knapp sieben Jahre alt, als wir befreit wurden. Mein Vater wurde nach Buchenwald verschleppt. Als wir ihn nach dem Krieg in Debrecen suchten, erfuhren wir, dass er das Lager nicht überlebt hatte.“ Für den kleinen Jungen folgte eine lange Odyssee durch deutsche DP-Lager, bis er 1948 mit seiner Mutter in Israel eine neue Heimat fand.

„Er war ein ganz toller Lehrer, sehr korrekt und klar in seinem Unterricht“, erinnert sich Rabbiner Josef Pardess, der in Wien tätig ist. Er hatte als Zehnjähriger Rabbi Hoffman als wunderbaren Pädagogen erlebt. Erst vor sieben Jahren gab es in Wien ein zufälliges Wiedersehen zwischen dem ehemaligen Schüler und seinem Lehrer: Hoffman besuchte einige jüdische Gemeinden in Europa, um Geld für seine Suppenküche aufzutreiben.

Doch wie lange wird der 72-Jährige, der stolz von seinen „hundert Enkeln“ erzählt, in Mukachevo noch aktiv sein können? Seiner Gebrechlichkeit bewusst, versucht Rabbiner Hoffman für die Zukunft seines Aufbauwerkes inklusive Suppenküche vorzusorgen. „Wenn ich meine müden Knochen im sonnigen Israel erwärme, kocht Malka für die bedürftigen Menschen. Sie ruft mich an, wenn sie Rat sucht. Und ihr Sohn Chaim Meir kümmert sich darum, dass auch weiterhin gebetet wird!“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.03.2009)

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