Zu Hause zwischen allen Sprachen

80.000 Menschen verlassen das Land pro Jahr. Wer bleibt zurück? Diejenigen, die sich nicht trauen. Und diejenigen, die es wagen, ein Land neu zu erfinden, das schon so viele Traumata erlitten hat. Armenien 100 Jahre nach dem Völkermord: eine Bestandsaufnahme.

Die Assoziation, Nation bedeute Resignation, ist eine österreichische Erfindung, die auf Armenien nicht unbedingt zutrifft. Krisen inklusive. All das vor dem Hintergrund parallel laufender Zusammenbrüche, die eine Neudefinition erfordern. 100 Jahre Völkermord, daran kommt man nicht vorbei. Die Antwort der Armenier ist immer wieder die Chance des Internationalen. Wie lässt sich das in einem isolierten kleinen Kaukasusstaat heute noch leben? Zwischen Sentimentalität und dem Trauma des Vergangenen, das nicht vergehen will? In manchen Momenten der armenischen Geschichte kann aber auch von Hoffnung die Rede sein. Für die Reisenden und die Übersetzer eine charmante Herausforderung.

Im Jahr 1988 war alles ziemlich großartig, nicht zuletzt in der Sowjetunion, die heute kaum noch jemand kennt. Glasnost und Perestroika, Transparenz und Aufbau, was gibt es Schöneres. Anderswo, im damals fernen Westen, litten Armenisch-Dolmetscher, Kaukasusexperten oder Altphilologen gnadenlos in der Sonne von San Sebastian oder im Regen von Köln und versuchten, die Verwandtschaft zwischen Georgisch und Baskisch endlich zu entschlüsseln. Alles vergeblich. Außerdem waren das sowjetische Georgien und das sowjetische Armenien derart unzugänglich, dass nicht wenige die Sonne von San Sebastian oder den zarten Nebel von Köln vorzogen.

Ab dem 7. Dezember war für Studenten von „Orchideenfächern“ wie Armenisch alles anders. Das Erdbeben mit seinem Epizentrum unweit der Stadt Leninakan (heute Goumry), mit Zehntausenden Toten hatte plötzlich die Grenzen geöffnet. Erstmals konnten Menschen aus dem Westen nicht nur zum exotischen Studieren anreisen, sondern wurden mit Sonderflugzeugen als Dolmetscher in eine andere Wirklichkeit transportiert. Das Erdbeben war die eine Katastrophe, die Massaker im aserbaidschanischen Sumgait, einige Monate davor, ein weiterer Wahnsinn, der in Gorbatschows halbwegs noch organisiertem Land undenkbar schien. Wer – plötzlich in Jerewan gelandet – in all dem Chaos, in all der Not stranden „durfte“, war zugleich mit einer Bürgerbewegung konfrontiert, die viel effizienter als die zu jener Zeit noch kommunistische Regierung Hilfe organisierte.

Studenten und Schüler, Mitglieder der damaligen „Kombinate“ diverser Fabriken nahmen die Initiative in die Hand, versuchten im Erdbebengebiet zu helfen und versuchten gleichzeitig, das Thema Karabach an die Öffentlichkeit zu bringen. Alles zur selben Zeit, und das noch vor dem Hintergrund der Krise eines zerfallenden Weltreiches, das die Kaukasusrepubliken immer gerne als die schönsten Kolonien verstanden wissen wollte. Einerseits musste den Opfern im Erdbebengebiet geholfen werden, je schneller desto besser, die Dolmetscher taten ihr Bestes, gemeinsam mit den zahllosen Freiwilligen aus den Instituten, aus den Dörfern. Zur selben Zeit, in einer fast grotesken, aber dann doch wieder kongenialen Parallelaktion, musste eine Struktur der politischen Selbsterhaltung geschaffen werden, eine Neudefinition von Bürgergesellschaft nach fast 70 Jahren sowjetischer Einheitskultur.

Erste Bürgerbewegung

Das eine bedingte das andere, die personellen Ressourcen waren nicht groß. Das „Karabach-Komitee“ war die erste Formation einer effizienten Bürgerbewegung in der Sowjetunion und bewies das auch durch Taten, zuerst durch die Aktivitäten bei der Erdbebenhilfe, dann aber auch in der Kontroverse mit dem Nachbarn Aserbeidschan in einem Konflikt, der als „Karabach-Problem“ immer noch zu den offenen Wunden der Kaukasusregion gehört.

Vor allem aber ging es in dieser Zeit den Proponenten der Bewegung, unter ihnen Wissenschaftler, Literaten und Journalisten, um politische Kultur oder um ihre Erfindung, denn die bleiernen Zeiten sollten vorbei sein, das Experiment von Demokratie sollte beginnen und gelingen. Die Vorzeichen waren denkbar schlecht: Das Erdbeben war das Trauma schlechthin. Und wenn sich das kommunistische Establishment auch als unfähig erwies in einer Krise, die wohl niemand richtig managen konnte, was hätte die Bürgerbewegung, die sich erst nach und nach als Opposition auch demokratisch konsolidierte, dem entgegenzusetzen? Die immer noch funktionstüchtige Sowjetunion handelte rasch und verhaftete die Proponenten des „Karabach-Komitees“, um genau das zu verhindern oder eben genau das zu fördern, was mit Glasnost und Perestroika eigentlich gedacht war.

Umgesetzt oder wenigstens realpolitisch erträumt und formuliert wurden diese Grundsätze ausgerechnet in Armenien, ausgerechnet in den schlimmsten Zeiten dieses Landes (Erdbeben und Krieg). Armenien war damals so klein und hilflos wie heute. Keine offenen Grenzen, schon gar kein Zugang zum internationalen Handel, geschweige denn zum Meer. Dennoch lebte und lebt bis heute durch die große Diaspora der Traum von der Internationalität, der Traum, die Grenzen zu überwinden. Kilikien, das letzte armenische Königreich, der Traum von der Levante, das hatten auch die sowjetisch erzogenen Armenier nicht vergessen. Selbst die seither vergangenen 600 Jahre ließen und lassen bis heute das Träumen nicht vergehen, wenn sich so manche Träume auch darin realisieren, dass 80.000 Menschen pro Jahr das Land verlassen. Wer bleibt zurück? Diejenigen, die sich nicht trauen, oder eben diejenigen, die sich trauen, ein Land neu zu erfinden, das schon so viele Traumata, zuletzt das Erdbeben, vor allem aber den Völkermord erlebt hat, dass die Zukunft nur noch in der Neuerfindung liegen kann.

Einer, der die Bevölkerung Armeniens, gerade in den schlimmsten Zeiten der wirtschaftlichen Isolation inspirieren konnte, ist sicherlich der erste Präsident der postsowjetischen Ära. Wie durch Zufall heißt er Lewon, wie der letzte König des unabhängigen Armenien Lewon hieß. Wie durch Zufall kommt er aus jener Gegend in Syrien, die während der Zeit des Völkermords 1915 mit 1,5 Millionen Toten besonders betroffen war, wo aber auch jener historische Widerstand stattgefunden hat, den Franz Werfel in seinem Roman „Die 40 Tage des Musa Dagh“ verewigen konnte – mit den entsprechenden Vorahnungen zum Thema Holocaust. Lewon Ter-Petrosjan hatte in der schwierigsten Zeit des Landes, zwischen Karabach-Krieg, Erdbeben, Wirtschaftsblockade, etwas, wonach sich alle Menschen dieses Landes in der Isolation sehnten: Er hatte internationales Format, war vielsprachig und hatte der sowjetischen Ausbildung zum Trotz immer Kontakt zum Westen. Und, auch das hatte Symbolcharakter, er gehörte zu den Nachfahren der Musa Dagh – Kämpfer, Armenier in Syrien, in jenem Aleppo/Haleb, das dieser Tage wieder traurige Berühmtheit erlangt hat.

Viele Familien wurden nach dem Zweiten Weltkrieg eingeladen, von Syrien nach Armenien zu übersiedeln, Ter-Petrosjans Familie war eine von ihnen. Jahrzehnte später, in der Zeit des Umbruchs, als sich die Opposition als Bürgerbewegung formierte, war das vielleicht ein Nebenaspekt, half aber dazu, die Aura des zukünftigen Präsidenten zu konfigurieren. Thematisch ging es nicht um historische Mythen, sondern um die praktische Umsetzung von Demokratie in einem Land und für seine Menschen, die damit kaum umgehen konnten. In den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren, als Armenien zum Versuchslabor für Demokratie in postsowjetischen Gesellschaften geworden war, mit all den Bürden, die die wirtschaftliche und geopolitische Situation mit sich brachte, musste pragmatisch gedacht werden, und der Spielraum war nicht groß, umso größer aber die Hoffnung und das Vertrauen der Bevölkerung.

Die erste Präsidentschaftsperiode wurde von all dem überschattet, was einem Schwellenland nur passieren konnte: wirtschaftliche Isolation, Zusammenbruch der Binnenwirtschaft (Abschaltung des von Erdbeben bedrohten Atomkraftwerks mit dramatischen Folgen für die Energieversorgung des Landes), kostspielige Grenzkonflikte (Karabach) und fehlende internationale Anerkennung. Letzteres konnte Ter-Petrosjan mit Bravour meistern, Armenien als Republik war wieder da auf der Weltbühne. Den Zusammenhalt im Inneren zu meistern, wenn auch mit „guten Ratschlägen“ aus der Diaspora, das war die eigentliche Herausforderung. Jenseits von Präsidenten und Politik, jenseits von nationalen oder nationalistischen Hoffnungen war es aber die Bevölkerung selbst, die nicht daran dachte, eine neu gewonnene Zivilisation aufzugeben. Das gilt gerade auch für die im wahrsten Sinn des Wortes „finsteren Zeiten“ am Anfang der 1990er-Jahre, als es weder Strom noch Wasser gab, für eine Millionenstadt wie Jerewan von der Größe Wiens kein leichtes Unterfangen.

Dass Ter-Petrosjan in westlich-demokratischer Manier 1998 zurückgetreten ist und sich im Gegensatz zu seinen Kollegen in Georgien oder Aserbeidschan nicht an die Macht mit allen Mitteln klammerte, ist ein weiteres Zeichen von politischem Stil, den der gelernte Sprachwissenschaftler und Historiker verinnerlicht hat.

„Wir schießen nicht auf Menschen“

Die Dolmetscher von damals, die Europäer ohne Erfahrung mit den Spielregeln der sowjetischen und der postsowjetischen Gesellschaft, waren dankbar dafür, einige Ansprechpartner zu haben, einige Vordenker kennenzulernen, wohl wissend, dass das Denken allein nicht genügt. Vor allem in der Grausamkeit der sogenannten Realpolitik, die auch innerhalb von Armenien ihre Toten forderte. Ter-Petrosjan hat seinerzeit, an der Macht, sehr präzise gesagt: „Wir schießen in dieser Republik nicht auf Menschen!“

Immerhin gehört es zur alten armenischen Tradition, dass die Sprache und das Gefühl für Sprache die Seele rettet. Auch in den finstersten Zeiten und auch jetzt, in einer Republik, die mehr denn je um ihre Identität kämpfen muss: Westen oder Osten? Russland oder Amerika? Russisch oder Englisch? Die eigentliche Heimat ist dann nicht geopolitische, wirtschaftspolitische oder parteipolitische Konstruktion, sondern ein Selbstbewusstsein, das sich durch die Sprache definiert. Insofern war es heilsam, dass das Land von einem passionierten Sprachwissenschaftler in eine neue Ära geführt wurde, von einem, der sehr klug verstanden hast, dass Sprache viel mehr bedeutet als Grammatik, sondern eben Seele. Insofern ist es heilsam, dass die Kultur der Armenier als Übersetzer – zwischen allen Sprachen zu Hause – am Leben erhalten wird. Wenn das Buch des Autors dieser Zeilen den unbescheidenen Titel „Und Gott spricht armenisch“ trägt, wird gerade damit eine Balance angesprochen: Humor einerseits, Selbstbewusstsein angesichts aller Tragödien andererseits und schließlich Geistesgegenwart der sogenannten Geschichte gegenüber: Grandezza !

Apropos Grandezza: Am 23. April werden alle 1,5 Millionen Opfer von Katholkos Karekin II., dem religiösen Oberhaupt der armenisch-apostolischen Kirche, heiliggesprochen. Ein noch nie dagewesener religiöser Akt . . . ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.04.2015)

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