Alles für die Dichter

Honza, der Retter der Literatur, Hašek und der Genius Loci, küssende Männer und Politik: Ein Obdachloser führt durch sein Prag.

Die Literatur landet in den Papiercontainern, und keiner weiß, wie viele wertvolle Bücher so verschwinden. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie für alle Zeiten verloren sind, weil sie nicht mehr aufgelegt werden, ist groß. Honza liebt Bücher, er kennt die Container der Stadt, er ist ein professioneller Obdachloser (Eigendefinition) und führt Interessierte durch die Stadt. Wir bekommen an diesem Wochenende im Rahmen des EU-Projektes „Everybody is an illiterate“ ein anderes Prag zu sehen, abseits von Karlsbrücke und Goldenem Gässchen.

Honza sieht sich auch als Retter seiner Sprache. Denn wenn Josef Dobrovský, Josef Jungmann und Jan Kollár früher bloß Golf gespielt und sich nicht der tschechischen Sprache gewidmet hätten, könnten wir uns nicht an der Literatur erfreuen.

Es ist kalt. Honza wartet auf uns vor der Kirche von Jože Plečnik, er trägt keine Haube, die gelockten Haare müssen genügen, seine Jacke ist offen, Handschuhe kennt er auch nicht. Er sei einer der Ersten gewesen, der Führungen durch Prag angeboten habe, jetzt gibt es eine Organisation, „Pracuji z Domova. Homeless guides in Prague“, mit eigenem Logo. Er trägt das entsprechende T-Shirt. Bisher hat er mehr als 100 Führungen gemacht, mit uns steuert er wohl auf seine nächste historische Marke zu.

Seit dem Sommer 2002 hat er kein Zuhause mehr. Mit der großen Flut, als Tausende Prager obdachlos wurden, hat das nichts zu tun, seine Frau habe sich von ihm getrennt, und damit habe alles angefangen. Täglich legt Honza mindestens zehn Kilometer zurück, auf seinen Kontrollgängen zur Rettung der Literatur. Die Zeit im Februar ist nicht günstig. Der Frühling ist noch zu weit und somit auch der Frühjahrsputz, Weihnachten ist Geschichte. Zu beiden Zeiten werden auffallend mehr Bücher entsorgt. So wie es eine Zeit für nicht gewollte Bücher gibt, so hängt die Wahrscheinlichkeit, fündig zu werden, auch vom Bezirk ab. Vinohrady ist mit seinen Jugendstilhäusern ein guter Bezirk für Bücher, zumindest in der Vergangenheit, der Mittelstand und das Bürgertum siedelten sich hier an, jetzt ziehen neue Familien ein, die mit Büchern nichts anzufangen wissen.

Die erste Station ist ein kleiner Platz, umgeben von mehrstöckigen Wohnhäusern, fast wie im Roten Wien. Auf diesem Platz habe Václav Havel seine erste Rede nach seiner Freilassung gehalten. Falls die Polizei ihn da hätte verhaften wollen, wären die Chancen groß gewesen, da die Keller aller Häuser miteinander verbunden seien.

Auf dem Weg zum nächsten Haltepunkt kommen wir bei einem kleinen Laden vorbei. Honza beliefert diese Kooperative mit seinen Funden, aus manchen Buchumschlägen würden hier Einbände für kunstvoll gestaltete Tagebücher entstehen. Kein Notizbuch gleicht dem anderen. Wenige Schritte weiter ragt ein futuristischer Sendemast aus dem Nichts zwischen den Wohnhäusern empor. Hier habe sich ein alter jüdischer Friedhof befunden. Die Kommunisten haben einfach die Bagger auffahren lassen und einen Teil dem Erdboden gleichgemacht.

Der Darm von Prag

Angrenzend an das gutbürgerliche Viertel liegt der Stadtteil Žižkov, ein ehemaliges Arbeiterviertel. Dieser Bezirk hat noch mit einer anderen Besonderheit aufzuwarten, traditionell hätten hier auch viele Roma-Familien gewohnt. Nach der Wende haben Investoren mit ungewöhnlichen Mitteln versucht, das Viertel zu „säubern“, und den Roma-Familien Einfachtickets nach London bezahlt. Investoren sind längst nicht mehr nur Feinde der Roma, und so sei dieses Viertel das Einzige in ganz Tschechien, in dem die Bewohner froh seien über die verbliebenen Roma-Familien, denn das entspreche nicht dem Bild von Investoren und schütze somit auch sie.

In einem kleinen Lokal, das am Vormittag eigentlich geschlossen hat, öffnet sich die Tür, nachdem Honza angeklopft hat, und wir können uns bei Tee mit Rum wärmen. Unser Begleiter erzählt vom Schriftsteller Ota Pavel, dessen Sohn hier immer anzutreffen sei. Den Vater habe er noch gekannt, er hatte die Shoa überlebt und mit seiner Geschichte „Der Tod der schönen Rehböcke“ für Aufsehen gesorgt. Als Einziger der Familie habe Ota die NS-Verfolgung überlebt und später als Folge des Lagers pausenlos gegessen. Einer seiner Freunde war Arnošt Lustig, der mit dem tschechischen Schriftsteller befreundet war. Ota Pavel habe an Schizophrenie gelitten, und nicht nur ein Mal sei es vorgekommen, dass er geglaubt habe, in einem Hotel einen gesuchten NS-Verbrecher entdeckt zu haben, und den Feueralarm ausgelöst habe. Als er wieder einmal im Spital war, habe Honza ihn mit Lebensmitteln versorgt. Als Schizophrener seien ja zwei Personen im Bett gelegen, und so kam Honza auf die Idee, der Krankenschwester einzureden, dass Ota Pavel zwei Portionen zustünden, und die Krankenkasse ebenso für zwei Personen zahlen müsse.

Dieser Humor und diese Listigkeit erinnern an den braven Soldaten Schwejk. Der Genius Loci prägt offenbar die Bewohner, und so ist es kein Wunder, dass das Denkmal für den Autor um die Ecke steht. Ein Dichterdenkmal mit einem Pferd, das sonderbar verformt auf dem Platz steht. Eine Besonderheit. Ein genialer Schachzug des Künstlers Karel Nepraš, der dieses Reiterstandbild mit dem Denkmal für den bedeutenden Heerführer der Husiten, Jan Žižka, am Hügel korrespondierend entworfen hat. Damit wir den richtigen Blick auf beide Standbilder haben, riegelt Honza kurzerhand die Straße für uns ab. Der Krieg als Realität und Fiktion. Durch den Berg führt ein Tunnel, der im Kalten Krieg als Atombunker ausgebaut worden ist, mit einem eigenen Spital. Im Volksmund heißt diese kürzeste Verbindung bloß der „Darm von Prag“.

Die Zeit ist reif, um zu fragen, wo Honza eigentlich diese Nacht geschlafen hat? Auf der Straße lebe er nicht mehr, er habe jedoch kein fixes Zuhause, er könne bei einem halben Dutzend Personen immer wieder unterkommen. Er hilft ihnen, und so entsteht eine Win-win-Situation, so wie mit der Kooperative, die er mit Büchern versorgt, und bei der kleinen Boutique, die ausgesuchte Secondhand-Mode vertreibt und der er Papiersäckchen zukommen lässt, die er findet.

Honza kennt viele Menschen, und viele grüßen ihn während unseres Rundganges. Er sei immer zu Fuß unterwegs, seine Linie sei die Eins und die Zwei, und er führt die Bewegung mit den Finger aus, eins, zwei...ganz selten sei er mit der Tramway unterwegs, ohne Ticket. Kontrolleure hätten ihn einmal gestellt, sie wollten das Strafgeld von ihm kassieren, bemerkten während der Amtshandlung jedoch, mit wem sie es zu tun haben. Der Kontrolleur fragte ihn, ob es sein könne, dass er ihn am Vortag im TV gesehen habe. Ein Passant pflichtete ihm bei, und plötzlich diskutierte die ganze Straßenbahn über die Sendung über die Obdachlosen, und Honza musste nichts bezahlen. Ob diese Geschichte stimmt? Egal, es ist eine Geschichte, die Hoffnung gibt. Eine Geschichte, die sich vielleicht nur im Land des Schwejk und des Hašek zugetragen haben kann.

Honza ist Botschafter einer Randgruppe, und er macht seine Sache gut. Natürlich ist er keineswegs typisch und verkörpert aufgrund seiner Vorgeschichte als Marketingchef von Großkonzernen und seiner Liebe zur Literatur das Bild des Stadtnomaden, so wie wir ihn haben wollen, beredt, witzig, angriffig, mit Humor und einem Schuss Wildheit, aber nicht so, dass man gezwungen wird, einen Geruchsbogen um diese Person zu schlagen.

In den vergangenen Jahren ist Honza sehr oft gefilmt worden, er sieht die Sendungen nicht, das interessiert ihn nicht. Vor wenigen Tagen ist er mit der BBC durch sein Prag gegangen, auch diese Geschichte wird er nicht sehen.

Honza hat verschiedene Stellen, wo er seine Buchfunde deponiert. In einer Kooperative – von jungen Leuten geführt – hat er einen Schreibtisch gemietet, damit er an seinen Geschichten und Gedichten arbeiten kann. Er hat dort eine Buchinstallation geschaffen, ein Regal mit Büchern. An der Spitze thront eine Waage für gewichtige Literatur. Die Waagschale neigt sich eindeutig auf die Seite der gelagerten Bücher. Kunden des Cafés wüssten, dass es hier nicht nur Getränke, sondern auch seltene Bücher zu finden gebe, und sie spendeten an der Kassa für gefundene Bücher. Manchmal kommen einige tausend Kronen zusammen, und manche Verleger müssten bekennen, dass ihre Literaten nicht mit einer monatlichen Einnahme in dieser Höhe rechnen könnten.

Honza zaubert an diesem Vormittag aus dem Regal genau jenen Gedichtband über den 1. Mai, den der Romantiker Karel Hynek Mácha geschrieben hat. Ein passendes Geschenk für eine der tschechischen Teilnehmerinnen. Der 1. Mai ist ein Fest der Liebe, nicht so wie der kommerzialisierte Valentinstag. In den Parks in Prag würden sich die Liebespaare küssen. In einer seiner Aktionen sei Honza gleich einem Pan aus dem Gebüsch oder hinter einem Denkmal hervorgesprungen und habe seine Dienste als lebendiges Gedicht angeboten. Erfindung oder Realität? Die ganze Welt ist Bühne, und die Welt ist sein Prag.

Denkmal für einen Hund

Honza sucht nicht nur Literatur, sondern will seine Geschichten und Gedichte auch publizieren, die Manuskripte würden ihm zurzeit bis unter das Knie reichen. Eine sonderbare Angabe für die Dimension eines privaten Archivs, aber jetzt ordne er die Arbeiten, seitdem er einen Schreibtisch hat.

Die Obdachlosen hätten eine wichtige Funktion, die Bücher seien eine Sache, aber einmal habe ein Kollege ein Baby aus einem Container gerettet. Die Publizität, die er dadurch erlangte, habe ihn das Leben gekostet, er sprang vor zudringlichen Journalisten aus dem Fenster. Das gerettete Baby sei inzwischen fast erwachsen. Wenn Passanten ihn anpöbelten, was er in den Containern zu suchen habe, dann antworte er manchmal: „Ich suche eine Braut für das weggelegte Baby. Das ist meine Art, mich zu verteidigen.“

Wir besuchen an diesem Tag noch eines der ungewöhnlichsten Denkmäler: für neun Obdachlose und einen Hund, die bei einem Brand in der Nähe des Bahnhofes 2010 ums Leben gekommen sind. Die Gedenkfeier damals habe er organisiert. Die Polizei hätte nie aufgeklärt, wie es zu diesem Unglück gekommen sei. An der Ziegelmauer hängt eine Glastafel. Man muss genau hinsehen, um die Inschrift lesen zu können. Die Zweige, die die Tafel bekränzen, haben viele kleine Dornen, als wäre es eine Installation.

Am Ende sind wir beim Bahnhof in Prag angekommen und stehen vor zwei sich küssenden Männern. Der Bruderkuss zur Befreiung: Ein tschechischer Kämpfer küsst einen Rotarmisten, ein inniger Kuss, ein politischer Kuss zwischen zwei Männern. Diese Statue sollte im Jahr 1970 bei der Weltausstellung in Osaka in Japan nach der Niederschlagung des Prager Frühlings vor dem tschechischen Pavillon für die richtige Perspektive sorgen. Die Japaner hätten darüber jedoch nur gelacht.

Nach dem Untergang des Kommunismus hat dieses Ensemble eine neue Bedeutung bekommen. Die letzte Aktion der Homosexuellen habe hier ihren Ausgang genommen, und Honza hat hier eine seiner Stadtführungen begonnen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.04.2015)

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