Wer die Täter enttarnt

Er hat Hunderte Male erzählt, dass alle vom Mord am Spiegelgrund und vom Mord in den Altenanstalten wussten. Und dass diese Hunderten Mitwisser aus Medizin, Pflege und Justiz schwiegen und untätig blieben: vor 1945, nach 1945. Friedrich Zawrel, 1929 bis 2015: eine Trauerrede.

Werte Trauergemeinde, liebe Freundinnen und Freunde von Friedrich Zawrel, der am 20. Februar im Pflegewohnheim Meidling der Gemeinde Wien friedlich und schmerzfrei aus dem Leben gegangen ist. Wir, die von Friedrich Zawrel in den letzten Jahren erwählte Betreuungsfamilie, danken Ihnen für Ihr Kommen und Ihre Teilnahme an der Abschiedsfeier, die wir im Sinne des Verstorbenen ausgerichtet und gestaltet haben. Er hörte gerne Mozart. Drei junge Künstlerinnen spielen Mozart-Divertmenti. Er war stolz auf die unzähligen Briefe seiner Schülerinnen und Schüler. Sie lesen daraus vor. Zawrel selbst spendet uns als Figur von Nikolaus Habjan Trost: Es ging mir gut, ich hatte euch.

Friedrich Zawrel hatte es nicht immer leicht in seinem Leben. Dennoch hat er die letzten Jahrzehnte, jene nach der Befreiung aus den Fängen der nationalsozialistischen Psychiatrie, die erst im Jahre 1981, also 36 Jahre nach Kriegsende, gelang, gerne und mit großer Freude gelebt. Vielen von uns war es gegönnt, ihn dabei zu begleiten. Wir haben es geschafft, ihm zu seinen Lebzeiten gute Worte, Gruß und Dankbotschaften zuzurufen. Es gibt die Bücher über Zawrel, die Theaterstücke, den Film „Meine liebe Republik“. Er hat alle diese Nachrufgestaltungen gehört und gesehen. Das hat ihm und uns gutgetan. Der Nachruf zu Lebzeiten Zawrels war wichtig.

Spät, aber rechtzeitig haben auch die Stadt Wien und die Republik Österreich den Widerstandskämpfer Zawrel wahrgenommen, der von Kindheit an und aus dem Gefängnis heraus die lange nach Kriegsende gut getarnte NS-Psychiatrie und NS-Strafjustiz angeklagt hat. Das Lesen und das Schreiben (wie gestochen und fehlerfrei) hat er sich in Stein unter Gefängnisdirektor Hofrat Schreiner selbst beigebracht. Der hat kräftig mitgeholfen, Friedrich Zawrel von den NS-durchseuchten Fehl- und Falschgutachten zu befreien. Für Widerstand und Enttarnung des Personals in den Mordanstalten, später auch für tausendfache Aufklärungserzählungen vor Schülern aller Art hat Zawrel das Goldene Verdienstzeichen der Stadt Wien aus den Händen von Frau Stadträtin Wehsely entgegengenommen. Da er sich gerne gefreut hat, war er auf diese erste Ehrung sehr stolz. Das Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich hat er gerade noch rechtzeitig verliehen bekommen.

Zawrel hat sich gefreut, als im Justizministerium das Theaterstück „F. Zawrel, erbbiologisch und sozial minderwertig“ von Simon Meusburger und Nikolaus Habjan vor Richtern , Staatsanwälten und dem Justizminister aufgeführt wurde, er dabei sein durfte. Jahre vorher wurde schon unter Justizministerin Berger Elisabeth Scharangs Film „Meine liebe Republik“ vor gleichem Fachpublikum gespielt. Auch das in seiner Gegenwart.

In Stein – und auf der Regierungsbank

Beide Stücke sind österreichische Aufklärungs-Welterfolge. Friedrich Zawrel hat an ihrer Entstehung kräftig mitgewirkt. So entstanden aus seinem Leben großartige Kunstwerke, die er in vollen Zügen und zu Recht genoss. Von der verstorbenen Nationalratspräsidentin Prammer wurde er mehrmals zu Veranstaltungen in das Parlament eingeladen. Zu mir sagte er: Ich bin sicher der erste Mann, der nicht nur in Stein, sondern auch auf der Regierungsbank neben einer Präsidentin gesessen ist. Und er lachte herzlich und lange.

Friedrich Zawrel wurde am 17. November 1929 in Lyon geboren. Seine Mutter hatte dort Arbeit gefunden. Als sie aus Frankreich mit ihren Kindern in den österreichischen Nationalsozialismus zurückkehren musste, wurden sie und ihre Kinder wegen Armut zu erbbiologisch Minderwertigen erklärt, zu Abartigen. Sie alle wissen, wo und bei wem Friedrich Zawrel gelandet ist: am Spiegelgrund, in Einzelhaft. Es gelang ihm mithilfe einer jungen Schwester die Flucht aus der Mordanstalt. Auf der Flucht hat er Wurst und Brot gestohlen, schon war er – vier Jahre bedingt wegen Mundraubes, Wert 20 Schilling – vorbestraft im Nationalsozialismus, und das hat ihm der Euthanasiearzt, nun zum Gerichtsgutachter konvertiert, 30 Jahre nach Kriegsende, 1975, genüsslich vorgehalten: vorbestrafter Wiederholungstäter. Rückfallgefahr. Soll dauerhaft überwacht und eingelocht bleiben.

Der Wiederholungstäter war aber nicht Zawrel, sondern der Gutachter. Zuerst als Euthanasiearzt, dann als Gutachter war er gewalttätig gegen Zawrel vorgegangen. Zawrel wehrte sich und entkam ein zweites Mal und auf Dauer seinem Peiniger Gross. Von 1979 bis 1981 war er unser Kronzeuge gegen den Euthanasiearzt. Das Oberlandesgericht gab uns, unserem Kronzeugen Zawrel und unserem Anwalt Johannes Patzak recht: Gross war an der Tötung mehrerer hundert angeblich geisteskranker Kinder mitbeteiligt. Getötet hat er in Zusammenarbeit mit vielen Mitarbeitern aus Pflege und Medizin.

In seinem zweiten Leben, dem in Freiheit, wurde Friedrich Zawrel zum begehrten Zeitzeugen und beliebten Pädagogen. Als er noch konnte, ging er zu den Mittelschülern, in die Berufs-und Pflegeschulen, als er zu schwach war und ihm das Gehen schwerfiel, kamen die neugierigen Schüler zu ihm in das Pflegewohnhaus Meidling. Er hat Hunderte Male erzählt, dass alle vom Mord am Spiegelgrund und dem Mord in den Altenanstalten wussten. Und dass diese Hunderten Mitwisser aus Medizin, Pflege und Justiz auch nach 1981 – Freispruch der Kritischen Medizin vom Vorwurf der üblen Nachrede, denn Heinrich Gross war NS-geschulter Euthanasiearzt, bezog für seine Mitarbeit in der Mordanstalt Sonderhonorare – deswegen schwiegen und untätig blieben, weil sie Mitwisser waren. Vor 1945, nach 1945. Das betraf alle Schichten, Parteien, Berufe. Ärzte schützen ihre Väter, Psychiater ihre Lehrer, Richter ihre Vorgesetzten.

Der Pädagoge Zawrel saß nicht als Oberlehrer unter Kindern, sondern das alt und weise gewordene Kind Zawrel erzählte von seiner Kindheit und Jugend, und es herrschte ohrenbetäubende Stille und Aufmerksamkeit. Kein Lehrer hatte je so eine Aufmerksamkeit erlebt. Kein Wunder: Kinder lernen am besten von Kindern.

Sie dankten es dem aufklärenden Erzähler Zawrel mit weit über tausend Briefen. Mit Geschenken aus fernen Ländern, die Zawrel nie zu sehen bekommen hatte. So kam er zu Wüstensand und exotischen Pflanzen, zu Kaugummi aus Amerika, zu Liebesbeweisen sonder Zahl. Zawrel hat sie gesammelt, uns vorgelesen, und wir werden diese einmalige Sammlung bewahren. Das wollte Zawrel, das machen wir.

Seit ich Zawrel kannte, seit 1979, war er an der Seite jener, die ein Begräbnis der in Glasbehältern zu medizinischen Präparaten umgewandelten, eingefrorenen Leichenteile der ermordeten Kinder vom Spiegelgrund forderten, für deren Besitz sich der Euthanasiearzt sogar rühmte. „Weltweit größte Sammlung an Missbildungen, ich habe sie“, schrieb Gross. Dass er an deren Ermordung mitbeteiligt war, stand nicht zu lesen. Eine Kollegin von uns, die Pathologin Gordana Rona, hat das Versteck entdeckt, fotografiert, den Täter enttarnt. Doch erst im Jahr 2002, unter der Stadträtin Elisabeth Pittermann, ging auch dieser Wunsch von Friedrich Zawrel in Erfüllung. Die Opfer erhielten ein Ehrenbegräbnis, Ehrengräber. So wie nun auch Friedrich Zawrel im Ehrengrab ruhen wird.

Psychiatrie im Nationalsozialismus

2013 wurde Zawrel zu einem von Primarius Georg Psota (Chefarzt des Psychosozialen Dienstes in Wien) organisierten Psychiatriekongress nach Gmunden eingeladen. Ich habe ihn begleitet. Es war das erste Mal von Psychiatrie im Nationalsozialimus bei einem Psychiatriekongress in Österreich die Rede. Die Rede hielt Zawrel. Man hätte, für den Beginn einer Aufklärung über den Schrecken, der damals herrschte, keinen besseren Redner finden können. Zawrel hat sich, wieder einmal, gefreut. Über die Einladung zu einem Kongress. Auch über das weiche Ei zum Frühstück im Hotel. So war er. Er freute sich, wenn ihm etwas gelang. Und da ihm so viel gelungen ist, freute er sich oft.

Friedrich Zawrel hat gerne gelebt, ist nicht gerne gestorben, hat sich dagegen gewehrt und ist in diesem Hinauszögern von Ärztinnen und Ärzten, der Internistin Doris Kann, den Stationsärzten, der von ihm verehrten Psychologin Sandra Feichtinger, die ihn auch zu Veranstaltungen begleitet hat, weil es ihm dann gut ging, ist von den Pflegekräften unter Schwester Hermine unter Frau Direktor Wutschitz durch Monate sensibelst begleitet worden. Ihnen allen und voran KAV-Direktor Roland Paukner, der das Heim für Friedrich Zawrel ausgesucht hat, großen Dank.

Sein Plan vom langen Leben und einem schmerzfreien Sterben ist Friedrich Zawrel im wohlorganisierten Pflegeheim gut aufgegangen. Gelitten hat er in den letzten Lebenswochen nur am Verlust seiner Sprache, seiner Sprechfähigkeit. Er konnte nicht mehr reden, mit uns kommunizieren, was auch uns allen wehgetan hat. Denn die Gespräche mit ihm waren für uns alle ein großer Gewinn. Jeder von uns, sagt die Psychologin Sandra Feichtinger, trägt seinen Zawrel mit sich herum.

Am 20. Februar mittags haben wir ihn wieder einmal gefragt, ob er Schmerzen habe. Er antwortete klar und deutlich: „Alles tut weh.“ Das hatte er noch nie gesagt. Doris Kann gab ihm etwas gegen den „Allesschmerz“. Er schlief friedlich ein und ist nicht mehr aufgewacht. Der eigentliche „Weg über den Jordan“ war also kurz und schmerzlos. Das wochenlange Vorher war ein sich Wehren gegen das drohende Ende. Er wollte sich und uns nicht verlassen. Gerne hätten wir ihn noch unter uns. ■


Die Urne Friedrich Zawrels wird am
20. April im Kreis der von ihm erwählten Familie beigesetzt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.04.2015)

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