Ein weiser alter Jude ohne Gott

An Rückkehr hat er nie gedacht. Er kam immer nur auf Besuch, wenn er eingeladen wurde. Nun hat sich der Kreis geschlossen, und er ist gestorben, wo er geboren wurde: in der verlorenen Heimat Wien. Zum Tod des großen Frederic Morton.

Im Frühjahr 1939, als er Wien verlassen musste, um dem sicheren Tod zu entgehen, am letzten Nachmittag vor der Abreise, hat er seine Großmutter besucht, die sich zu alt fühlte, um ebenfalls wegzugehen. Sie ist bald danach von den Nazis ermordet worden. An diesem Nachmittag auf dem Heimweg strich der 14-jährige Bub mit seinen Fingerspitzen die Zäune und Mauern entlang, als wollte er sich ein letztes Mal der verlorenen Heimat physisch vergewissern, Wien spüren, und als er zu Hause ankam, merkte er überrascht, dass er blutige Fingerkuppen hatte.

Ich habe in der Literatur nie ein ergreifenderes Bild dafür gefunden, was Heimat und deren Verlust bedeutet. Der Heimatverlust, schrieb Eric L. Santner, Professor an der Princeton University, danach in Chicago, sei zum zentralen Motiv in Frederic Mortons literarischem Schaffen geworden. Wenn Morton überhaupt je wieder so etwas wie Heimat gefunden hat – New York war es nicht ausreichend, und die USA waren es schon gar nicht –, dann ist es am ehesten die englische Sprache gewesen. In die hat er sich verliebt und er hat bis zum Schluss englisch geschrieben.

Vorbestimmt war ihm das nicht. Eine kurze Gasse am Hernalser Gürtel – aber außerhalb, darauf legte er Wert – war seine Heimat, in der er fest verwurzelt schien, zu Haus halbwegs hochdeutsch sprechend, mit den Buben in breitem Hernalser Dialekt. In Englisch war er ganz schlecht im Gymnasium. Er war überhaupt ein schlechter Schüler, aber ein ausgezeichneter Sportler. Das war ihm wichtig. Klein, drahtig, ein gewandter Turner, ein schneller Läufer, ein begeisterter Fußballspieler. Noch im Frühjahr 1938 sollte er die Schule bei einem nationalsozialistischen Sportfest vertreten, doch dazu kam es nicht mehr, weil er vorher als Jude hinausflog.

Vor 1938, hat er erzählt, habe er keine prägenden Erfahrungen mit Antisemitismus gehabt, aber gespürt muss er ihn doch haben. Es ging ihm darum, kein „jüdisches Seicherl“ zu sein, noch dazu als Fabrikantenkind und Brillenträger von Kindesbeinen an, was alles seine Lage in der Vorstadt nicht gerade erleichtert hat. Darum war ihm so wichtig, auf dem Sportplatz zu brillieren und nicht in der Schule, so das Klischee der Antisemiten Lügen strafend. Dass später einmal ein brillanter New Yorker Intellektueller aus ihm werden würde, dessen Stimme Gewicht hatte, das war noch keineswegs absehbar.

1940 in New York angekommen, als es der ausgeraubten, mittellosen Familie zunächst erbärmlich schlecht ging, begann er eine Bäckerlehre, studierte als Bäcker Lebensmittelchemie, war fasziniert von der englischen Sprache und schrieb seinen ersten Roman, „The Hound“, der 1947 erschien, als er 23 war. Inhaltlich ist es eine NS-Geschichte, die Verstrickungen eines jungen Mannes, der spät zur Einsicht kommt, aber entscheidend ist das Sprachfeuerwerk, das er zündet und das ihm seinen ersten literarischen Preis brachte. Er geht als Hörer an ein legendäres Institut, die New School for Social Research, und als Literaturstudent an die Columbia University. Danach beginnt er selbst, englische Literatur zu unterrichten an mehreren amerikanischen Universitäten.

Intellektuelle Explosion

Es muss eine Art intellektueller Explosion bei Frederic Morton stattgefunden haben, und die hing damit zusammen, dass er noch jung genug war, als er vertrieben wurde – bereit, sich neuen Herausforderungen zu stellen. Eine solche Entwicklung war nicht ganz untypisch. Henry Grunwald, zwei Jahre älter als Morton, Chefredakteur und Herausgeber von „Time magazine“ und am Ende seiner beruflichen Laufbahn Botschafter der USA in Wien, hat mir Ähnliches erzählt. Dem dumpfen austrofaschistischen, dann nationalsozialistischen Österreich glücklich entkommen, sei sein Geist frei geworden, und er habe sich stark genug gefühlt für eine große Karriere, die er ja dann auch gemacht hat, während sein Vater, der erfolgreiche Operettenlibrettist Alfred Grünwald, die Vertreibung nie überwand und auch zehn Jahre danach im schönsten New Yorker Sommer immer noch klagte: „Aber in Ischl!“

1951 kam Frederic Morton, mit 27 bereits erfolgreicher Journalist, erstmals wieder nach Österreich, um Bundespräsident Körner zu interviewen, wobei er in dessen Büro Bruno Kreisky kennenlernte und von Fritz Molden nach Alpbach eingeladen wurde. In den Fünfzigern war Morton mehr Journalist als Schriftsteller, allerdings für führende Blätter: „New York Times“, „The Atlantic“, „Esquire“, bis 1962 sein Weltbestseller erschien: „The Rothschilds. A Family Portrait“, übersetzt in 23 Sprachen, 32 Wochen an der Spitze der Bestsellerliste der „New York Times“, ein auch für amerikanische Verhältnisse ungewöhnlicher Erfolg.

Ab nun verkehrte bei Frederic Morton sozusagen Gott und die Welt. Ava Gardner, mit deren zeitweiligem Ehemann, dem Musiker Artie Shaw, Morton befreundet war, bat ihn um Rat, bevor sie in einem Mayerling-Film die Kaiserin Elisabeth spielte, mit James Mason als Franz Joseph und Omar Sharif und Catherine Deneuve als Kronprinz Rudolf und Mary Vetsera. Morton erklärte Ava Gardner den Wiener Hof und wie sich eine Kaiserin – auch wenn sie so exzentrisch ist wie Elisabeth – zu benehmen habe.

Eine hübsche Geschichte hat mir André Heller einmal erzählt: Er traf bei einer Party in Mortons Upper-Westside-Apartment einen dicken kleinen Herrn, der ihm mitteilte, er arbeite zurzeit an einem Mafia-Roman. Heller stellte bereitwillig sein Wissen zur Verfügung und erzählte alles, was er über die Mafia wusste. Der kleine dicke Herr habe geduldig zugehört. Am Ende des freundlichen Gesprächs haben sich die beiden Herren einander vorgestellt. „André Heller“, sagte der eine, „Mario Puzo“, sagte der andere.

Während Morton engagiert gegen den Vietnamkrieg auftrat und in der linksliberalen „Village Voice“ eine wöchentliche Kolumne schrieb, begann er gleichzeitig, sich auch wieder intensiv mit der verlorenen Heimat zu befassen: „A Nervous Splendour. Vienna 1888/89“ erschien 1979 – die Monate vor dem Selbstmord des Kronprinzen und der Geburt Hitlers bald danach, deutsch nicht ganz zutreffend „Ein letzter Walzer“. Und zehn Jahre später: „Thunder at Twilight. Vienna 1913/14“, deutsch „Wetterleuchten“. Beide Werke firmieren als Romane, sind aber vor allem gründlich recherchierte Tatsachenberichte mit Namensregister und Quellenverzeichnis. Zwischen diesen beiden Büchern war 1984 Mortons großer Familienroman erschienen: „The Forever Street“, deutsch „Ewigkeitsgasse“, denn ewig, hatten die Mandelbaums gemeint, würden sie in der Thelemangasse bleiben können, wo 1873 Mortons Großvater, ein zugewanderter halb analphabetischer jüdischer Handwerker, begonnen hatte und so tüchtig war, dass er dort schon 1888 eine kleine Metallwarenfabrik gründen konnte: Bernhard Mandelbaum und Sohn.

Doch ein halbes Jahrhundert später wurde die Fabrik in Hernals, die beträchtlich gewachsen war, „arisiert“ und ein Großteil der Familie ermordet. So ist „Ewigkeitsgasse“ ein großes Buch über das vollständige Gelingen und vollständige Scheitern der jüdischen Assimilation in Wien. Und die Stadt kann sich heute noch so bemühen: Sie wird nie wieder zurückgewinnen, was sie aus eigener Schuld verloren hat. Aus Fritz Mandelbaum wurde Fred Morton, und alles war anders geworden – nicht alles. Morton hat mir von einer Tante erzählt, die ebenfalls nach New York fliehen konnte. Die stammte jedoch aus der Josefstadt. Diese Tante war regelmäßige Besucherin der Met, und einmal stand zur Diskussion, ob sie ein Abonnement gemeinsam mit Frederic Mortons Mutter nehmen sollte. Das aber hat die Josefstädterin abgelehnt. Einer Bekannten erklärte sie, warum: Sie könne doch nicht mit einer von außerhalb des Gürtels gemeinsam in die Metropolitan Opera gehen.

Frederic Morton zuzuhören war ein Vergnügen. Seine Geschichten waren gescheit und witzig, er sprach ein wundervolles Deutsch, bei dem ihm gelegentlich ein Wort fehlte, hat aber seinen Hernalser Dialekt nie vergessen. Seinen letzten Vortrag, zwei Tage vor seinem plötzlichen Tod, hat er erstmals deutsch geschrieben und nicht aus dem Englischen übersetzt, wie er meiner Frau und mir stolz erzählte. Darin ging es auch um einen Sprachvergleich zwischen den USA und Hernals, wobei Hernals gewinnt: „Shut up, you idiot!“ ist entschieden schwächer als „Halt die Goschen, Depperter!“

In diesem letzten Vortrag beschrieb er zwei Arten des Exils, die ihm widerfahren waren. Das erste, abrupte war die Vertreibung aus Wien, und das zweite, schleichende war das Altwerden. Zuerst wollte er es nicht wahrhaben. „Und musste dann auf einmal erfahren, dass ich unwiderruflich, unwidersprechbar, unbestreitbar und ganz offensichtlich nicht mehr 19, sondern 90 Jahre alt war.“

Leicht hat er sich damit nicht getan. Fast bis 90 ist er die neun Stockwerke in seinem Wiener Hotel grundsätzlich zu Fuß gegangen. Und wenn sich das nicht oft genug ergeben hat, ist er mit dem Lift hinuntergefahren, um wieder hinaufzugehen, mehrmals. Warum er hinunter den Lift nimmt, habe ich ihn einmal gefragt. „Ich hab's ein bissel mit dem Knie“, hat er geantwortet, Stiegen steigend. Sportlich durchtrainiert war er bis zum Schluss. Da hat ihn seine Kindheit geprägt.

Keine Versöhnung, aber doch Nähe

Wie sehr ihn seine Kindheit geprägt hat, dem ist er in diesem letzten Vortrag über zweierlei Exil nachgegangen. Und gerade in diesem Vortrag, zwei Tage vor seinem Tod, ist er Wien so nahe gekommen wie vermutlich seit der Vertreibung nicht: „Denn die Jugend ist ja unsere biologische und psychologische Heimat. Dort kennen wir uns aus. Und wenn auch unsere nostalgische Erinnerung die Sonne scheinen lässt, wo es damals dunkel war, sind wir doch mit dem Trug und den Tücken der Jugend vertraut und wissen, wie wir mit Gut und Schlecht in diesem Heimatland leben können.“ Es klingt wie ein Vermächtnis: keine Versöhnung, die war nicht möglich, aber doch trotz „dunkel“, „Trug und Tücken“ in der Jugend eine Nähe, die ihm durch Jahrzehnte unmöglich schien, einewiedergewonnene Vertrautheit, die er früher abgelehnt hätte. Und es war sicher nicht die rührselige Nachsicht eines Greises, wenn er das sagte, denn Rührseligkeit lag ihm fern. Er konnte allerdings tief berührt werden durch Freundschaft, und er hat auch in Wien wieder Freunde gefunden, denen er vertraute. Das war wichtig für ihn. Und Greis war er keiner, obwohl über 90.

Die späte öffentliche Anerkennung, die Ehrungen in der Stadt, aus der er vertrieben worden war, haben ihn gefreut. Das war sicherlich eine Genugtuung. An Rückkehr hat er allerdings nie gedacht. Er kam immer nur auf Besuch, wenn er eingeladen wurde. Nun hat sich der Kreis geschlossen, und er ist gestorben, wo er geboren wurde: in der verlorenen Heimat. Die ihn gut kannten, wissen es: Er war nicht nur ein bedeutender Schriftsteller, er war ein wunderbarer Mensch, warmherzig, humorvoll, gescheit und gebildet, ein großartiger Geschichtenerzähler, ein engagierter Linker, dabei offen und immer noch voll Neugier. Er war ein weiser alter Jude ohne Gott. Man soll das nicht leichtfertig sagen, aber diesmal stimmt es: Die Welt ist ärmer geworden ohne ihn. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.05.2015)

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