Die Gedanken und die Fliegen

Schreiben heißt ja nicht, in die Welt hinausschauen und aufschreiben, was man sieht. Du kannst ja nicht einmal eine einzige Nadel an der Kiefer dort drüben auf diese Art beschreiben! Vom Schauen und Denken, vom Wahrnehmen und Erinnern und Aufschreiben.

Während ich an dem kleinenKanal hinunterwandere, und ich schaue in das ölig schaukelnde Wasser hinein, zu den sich spiegelnden Hausfassaden da: Tauchen sie auf, oder versinken sie? – All das erinnert mich an das Spiel des Erinnerns selbst, wo Situationen und Bilder sich plötzlich in deinem Sinn rekonstruieren, oder,vielmehr, schaffst du sie nicht eben erst in diesem köstlichen Moment, aus der wirren und gestaltlosen Flut vergangenen Lebens herauf?


„In einer Reihe gezwungen,fortzudenken, ist mir eine Qual“, heißt es bei Ludwig Wittgenstein, „ich verschwende unsägliche Mühe auf ein Anordnen der Gedanken, das vielleicht gar keinen Wert hat.“ Tatsächlich, dieser Wert des Anordnens ist sehr fragwürdig. Da alles mit allem zusammenhängt, wäre es, richtig gesehen, notwendig, jeden Gedanken mit allen anderen zu verknüpfen. Stellen wir uns Gedanke eins als einen Raumpunkt vor, so zeigen die Möglichkeiten des Weiterdenkens in alle Richtungen – wie die unendlich dicht gesetzten Radien einer Kugel.

Mir kommt vor, dass uns das Auftauchen der Gedanken hintereinander, an der Zeitlinie entlang, zu der Vorstellung verführt, es müsse das Ziel unserer Gedankenarbeit sein, eine ebensolche Linie zu finden, die Ideallinie gewissermaßen, unsere Gedanken schlussendlich zu präsentieren.

Überdenke ich den Sachverhalt auf der Suche nach einer Lösung, kommt mir Alexander Calder in den Sinn, das Bild eines Mobiles: An dem am Ausgangspunkt fixierten Draht ist ein zweiter montiert, der durch verschieden große Dreiecke in Balance gehalten wird, die an seinen Enden befestigt sind, deren Ungleichgewicht durch wieder andere Drähte samt Dreiecken ausbalanciert wird, und so immer fort.

Was an dem Bild vom Mobile befriedigt, ist die Gleichzeitigkeit, in der sich alles präsentiert. Was daran allerdings weniger befriedigt: Zuletzt sehen wir das Gebilde fein austariert und, bei aller inneren Gelenkigkeit und also Instabilität, doch statisch vor uns. Beim Denken verhält es sich, wie wir wissen, keineswegs so.

Deshalb ist zuletzt vielleicht doch ein Bild aus der Physik vorzuziehen, nämlich das der Brownschen Molekularbewegung: Die beobachteten Moleküle bewegen sich schnell und gleichsam unermüdlich im Raum und durch den Raum – wie ein Fliegenschwarm an einem heißen Sommertag. Es lässt sich schwerlich voraussagen, wo sie im nächsten Moment sein werden, die Gedanken und die Fliegen, und wie ihre Position und Anordnung zueinander letztlich dann sein wird.

Gedanken und Fliegen haben auch das gemeinsam, dass man sie zwar verscheuchen, aber nicht loswerden kann.

Wie steht es um die Vorstellung von der wichtigen oder Grundidee? Bei näherer Untersuchung zeigt sich, dass das Verhältnis der Ideen zueinander letztlich relativ ist, da keine Idee ohne den Zusammenhalt mit anderen bestehen kann. Es ist bloß unser Wille, an ein Ziel zu kommen, der unter dem von mir ungeliebten Wort Ende den Fluss der Gedanken abschneidet und von dort her, vom Ende her, eine Ordnung postuliert, die vor allem dem Motto geschuldet ist: Sind unsere einzelnen Gedanken vernünftig, wie sollte es das Ganze dann nicht sein?


„I wanted to take pictures of the clutter, but my camera focuses an area so small that everything just looks neat because I didn't get the bigger picture of the big mess that the little areas were all part of“, heißt es ein wenig konsterniert, für uns jedoch kaum überraschend in Andy Warhols „Diaries“.

Die Architekturzeichnungen von Giovanni Piranesi kommen mir stets in den Sinn, wenn ich an den Denkvorgang selbst denke: Da ist etwa eine große Halle, und bis zu halber Höhe führt eine Treppe. Weiter oben läuft eine Galerie herum, ohne dass indes die Treppe eine Verbindung zu ihr hätte. Im Boden der Halle findet sich eine große, zylindrische Ausnehmung, in die eine Treppe hinableitet. Dort unten in der Tiefe sehen wir etliche Türen, teils verschlossen, teils offen, die in Verbindungsgänge hineinzuführen scheinen,deren Bestimmung uns allerdings verborgen bleibt, da im Nebenraum der großen Halle, der auch abgebildet ist, nichts auf diese unterirdische Welt hinweist. Es gibt aber etwas höher oben einen breiten, repräsentativen Balkon, der von der Halle aus betretbar sein müsste: In der Wand, von der der Balkon vorspringt, findet sich zwar eine Tür, aber, wie wir leicht einsehen können, von der Halle aus führt kein Weg dorthin.


Schreiben heißt ja nicht, in die Welt hinausschauen und aufschreiben, was man sieht. Du kannst ja nicht einmal eine einzige Nadel an der Kiefer dort auf diese Art beschreiben!

Tagsüber hängen die Kiefernäste in schönem Schwung herunter, von fern wie schaumige, doch erstarrte Kaskaden anzuschauen, auf denen oben, wo sie Wirbel und Trichter wie leibhaftige Wasser bilden, das Licht spielt. Manch ein Ast geht auch seitwärts fort, wie der Fetzen eines zerrissenen Kleides, wie ein heruntergetretener Hochzeitsschleier. Die Borke ist dann wie Kork, leicht am Festen der Stämme aufgetragen, es rund umhüllend, gemakelt, gesprenkelt wie gute, warme Haut.

In der Dämmerung stehen die Bäume wie hungrige Vögel, das Gefieder abgestreckt, schwarz und weiß. Das Astwerk ist dunkel, skeletthaft. Es biegt sich stark, wie aus innerem Willen heraus.

Und mittags stehen die Bäume so still, wie Prinzen. Ihr Kleid ist ganz hell und ausgebreitet, und bloß hier und da zuckt etwas daran. Ein Insekt? Ein Falter? Ein dünner Ast? Fällt dann ein Glanz, eine Rindenschuppe, die glänzt, herunter?

Die ganze Straße entlang stehen die verzauberten Prinzen: unsere Kiefern!

Bei Regenwetter sind die Kiefern bloß farbloses, ragendes Gestrüpp, wie alle anderen Bäume auch: die Ulmen und Erlen, Eichen und Platanen.

Verhalte ich mich nicht wie ein Kind, das einen Sarg eine schwarze Kiste nennt, einen Kirchturm einen brummenden Riesen, vom Regen selber glaubt, da flennt einer? Wie sehendie Kiefern also bei Regen aus? Stamm und Rinde haben all ihr Lebendiges verloren, das sich nun so recht als von der Sonne verliehen herausstellt. Die Zweige und Nadelbüschel regen sich nicht. Über die ganze Zeitstehen sie still. Manchmal nur, dass eins sich von der Last des Regens jäh befreit und nach oben schnalzt. Als dämmrige, unscharfe Flecken stehen die Bäume an der Straße. Fast sieht es aus, als regnete es an den Stellen stärker, als verfestigten sich die Regentropfen um die Baumwolken herum zu Eis. Aus der Nähe freilich gleichen die Bäume wassertriefenden Kleiderständern, gebrauchten Reisbesen, alten Schuhen – was weiß ich.


Was stark ins Auge fällt,
ist die Einsamkeit, der Einsamkeitskäfig, in dem wir im Wahrnehmen und Erinnern gefangen sind. Es ist ja ganz unwahrscheinlich, dass etwa ein Paar, das ein Baby betrachtet, überlegen wir nur die schier unendlichen Möglichkeiten, die Regler hin- und herzuschieben, dass beide im Moment just dasselbe wahrnehmen. Was uns allein hilft, eine gewisse Kohärenz herzustellen, sind Formen des sozialen Kondukts, die ihrerseits aber nicht im Wahrnehmungs- oder Erinnerungsakt fundiert sind.

Schaut ein Paar zum Sternenhimmelhinauf, kann der eine etwa den Großen Wagen anschauen und die Anordnung der Einzelsterne nachvollziehen, während der andere sich auf den Raum konzentriert, auf diese Art Kuppel, die sich, wie es uns vorkommt, je länger wir hinschauen, in immer weitere Tiefen zu heben und zu entfernen scheint. Und doch: Es ist, wie wir wissen, durchaus möglich, gemeinsam den Nachthimmel zu betrachten im daraus resultierenden Gefühl, mag es auch wahrnehmungstechnisch illusorisch sein, gemeinsam etwas zu erleben oder erlebt zu haben. Und man sagt dann: „Erinnerst du dich?“

Wir täuschen uns, was die Wahrnehmung selbst angeht. Wir täuschen uns nicht, was die Begegnungsform in der Kultur betrifft.

Noch einmal: Wie ist das
eigentlich mit dem Erinnern? Entweder du suchst nach – oder es kommt über dich. Kommt es über dich, ist es, als zöge das eine das andere hervor oder nach sich, vielfach auch etwas, was dir gar nicht passt oder lieb ist – so war es doch gar nicht gemeint! –, und so schnell kannst du nicht schauen, nimmt alles den Grad von Tatsächlichkeit, von Wirklichkeit an, der oft ans Schmerzhafte, Lästige oder Lächerliche – oder auch ans Beglückende grenzt.

Suchst du aber etwas, suchst dich zu erinnern, sind es erst nur Winke in einem undeutlich aufgefassten Raum oder Wischer von Farben oder auch Annäherungen von Kälte oder Wärme – und dann springt es heraus (oder auch nicht), da und dort taucht schon ein Wort auf, und jetzt musst du aufpassen, die passenden, die richtigen Worte zu finden, die zuletzt, zusammenklingend, eine Repräsentanz des ursprünglich Gefühlten vielleicht ergeben könnten: ein Gesicht, eine Hand, das Winken einer Hand? Oder wie jemand die Eigenart hat, sich ins Haar zu fahren oder von unten herauf dir in die Augen zu schauen oder dir zuzulächeln? Und gleich verbindet sich die Szene mit anderen, die nebenher aufgerufen werden, die sich aufdrängen und ebenfalls produzieren wollen, so dass du Mühe hast, auch nur einigermaßen die Übersicht und das Kommando zu behalten.


Welches Wasser die Mühle antreibt, das helle der Neugier, das klare der Vernünftigkeit, das weiche der Güte oder dasschmutzige des Hasses – für unseren Fall ist das gleichgültig, so oder ähnlich dachte ich früher.

Ist es nicht doch von Bedeutung, in welcher Gestimmtheit, unter welcher Prämisse der Künstler ans Werk geht? Wird nicht der von Güte und Menschenliebe Bestimmte zu anderen Ergebnissen kommen als einer, der die Menschen gering schätzt oder verachtet? Die vernunftlose Güte des menschlichen Herzens – für mich eines der größten Wunder.


Kritisches Denken braucht
seinerseits, will es nicht zu skeptischer Pose verkommen, einen Ansatzpunkt, der sich doch nur aus dem Hergebrachten, einer gewissen Tradition herleiten kann. Der kritische Geist denkt in Perspektiven fort, die in einer Haltung sich gründen, dort entspringen. Immanenz, das fraglose Zusammenfallen mit dem, was ist, verhindert allerdings geradezu das Denken: Das Denken wird dann zu einer bloßen Fertigkeit, Geschicklichkeit, Raffinesse, Handwerksmanier et cetera – zu einer Technik.

Im Letzten ist die Einsamkeit und das Alleinsein des Dichters – seine Haltung, könnte man sagen – doch nur zu rechtfertigen durch das Wagnis, das er real eingeht: Das bedeutet doch, dass sein Denken die Immanenzvermeidet, die Sicherheit ausschlägt, die diese so gern borgen möchte.

Lerne Denken in dem Sinn, dass du das Denken nicht bloß spielst, sondern wirklich denkst, das heißt jede Sicherheit aufgibst.– Weshalb rede ich so viel über das Denken? Wer richtig denkt, wird richtig schreiben, ich meine, er wird nicht der Koketterie, nicht der Pose verfallen, nicht der Sucht nach dem Stil. Stil ist etwas, was sich von selbst ergibt, ergeben sollte, ist ein Produkt des Fragens, der Art, wie einer fragt und weiterfragt.

Was ich zuletzt aufschreibe, ist nichts anderes als Antworten auf meine vielfältigen Fragen. Ich antworte, so gut ich kann. Das ist wohl auch gemeint, wenn Musil sagt: „Angesichts einer gegebenen Aufgabe tue ich das Mögliche.“

Der Imperativ, der Künstler habe die Pflicht, sich so genau wie möglich auszudrücken, stammt aus demselben Vorstellungskreis. Und der skeptische Zusatz schwächt ihn nicht ab: Manchmal kann das verdammt ungenau sein.

Meine Ablehnung gegen die Schreiberei hat wohl hier ihren Ursprung: in Unschärfe und Fehlerhaftigkeit des Ergebnisses. Zugleich weiß ich doch, dass das Denken unser einziges Mittel ist, unser großartigstes Werkzeug, unsere Waffe gegen die Lethargie, die Fortschreibung des Immer-Gleichen.

Weshalb bist du denn so gegen das Immer-Gleiche? Verhält es sich im Leben der Menschen nicht so, dass von hundert Prozent gute neunundneunzig Prozent gerade darin bestehen? Da möchtest du wohl gern heraus, nicht wahr? Du versuchst es. Dahinter bist du her. Du sagst dir etwa: Das kann doch nicht alles gewesen sein!


Für den Dichter
ist Wissen nur ein, wenn auch wichtiger, Sub-Text.

Der Dichter staunt; er hat das Staunen nicht verlernt.

Der Dichter vergisst, was er weiß.

Bei der Arbeit bewegst du dich zwischen den Polen der vollkommenen Ordnung und der vollkommenen Unordnung. Du musst jederzeit beide Möglichkeiten im Blick haben. Je größer die Spannung, die du aushältst, desto reicher dein Gedicht.

Es ist wie eine Wolke aus Worten, schrieb ich einmal, ungenau, aber recht anschaulich, aus der mit einem Mal die richtigen Worte herausfallen. Zerbrechlichkeit – das ist ein großer Wert für den Künstler.


Es ist, tröstliche Auskunft, wohl möglich, das vollkommene Kunstwerk zu schaffen. Manchmal gelingt das auch, wie man sieht.

Es wird einem mit der Zeit bloß immer klarer, wie viele Hindernisse dem entgegenstehen und also zu bewältigen sind. Wie unwahrscheinlich, aufs Ganze gesehen, das Gelingen doch ist. Wie viel Witz und Glück man immer braucht. Aber gerade deshalb, kommt mir vor, versucht man es immer wieder.


Wenn wir sagen, Kunst schaffe
neue Wirklichkeiten und zeige uns Wege ins Mögliche und Freie, heißt das nicht zugleich, dass sie eine Feindin und Gegnerin des Todes ist?

Sie wird also, richtig verstanden, immer ein Kind des Glücks und der Freude sein, eine Botin, die von dort herkommt, von wo uns das Leben zufließt. ■


Der Beitrag basiert auf Vorträgen, die Peter Rosei im Rahmen der Ernst-Jandl-Dozentur für Poetik hält: 3. Juni, 19 Uhr,
Universität Wien, Hauptgebäude, Hörsaal 31; 10. Juni, 19 Uhr, Alte Schmiede Wien, Schönlaterngasse 9.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.05.2015)

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