Leben, Schritt für Schritt

(c) Bilderbox
  • Drucken

In Wien aus dem Haus treten und gehen. Bis in die Schweiz. Oder nach Slowenien. Zu Fuß zu reisen ist die langsamste aller Fortbewegungsarten. Und die ereignisreichste. Eine Selbsterfahrung.

Wir kommen aus dem Wald, mit seinen weichen, gewundenen Wegen, passieren das Ortsschild, gehen langsam ins Dorf hinein. Plötzlich fälltmir auf, dass wir in der Mitte einer Autostraße gehen. Ich rufe Thomas zu, und wir sind schnell am Rand. Wir sind schon derart gewöhnt, dass Wege eben zum Gehen da sind, dass wir täglich wieder den Wechsel auf den Gehsteig verpassen. Als Fußgeher aufs Trottoir verbannt zu sein kommt uns jetzt absurd vor. Zu unserem Glück werden wir nie von einem Auto überrascht, sondern merken immer rechtzeitig selbst, dass wir den uns zugewiesenen Raum begehen sollten statt die Mitte der Straße.

Ich richte den Rucksack zurecht, der objektiv leicht ist, aber trotzdem manchmal ganz schön schwer werden kann. Nichts jedoch im Vergleich zur Größe und Schwere der Dinge, die ich hinter mir gelassen habe. Die Wohn- und Arbeitsräume, die Computer samt den E-Mail-Konten, den Garten, die Dutzenden Paar Schuhe,die Plattensammlung, die kupfernen Kochtöpfe, den ganzen liebgewonnenen, ererbten oder gekauften Schnickschnack, der den Alltag bevölkert. Es fühlt sich an wie Tonnen im Vergleich zu den sechs Kilogramm, die ich jetzttrage. Alles, was ich brauche, ist in meinem Rucksack drin. Mit der Reduktion auf so wenige Dinge tauschte ich Seriosität, Sesshaftigkeit, Sicherheit und Schönheit gegen Wildheit, Welt, Wetter – undSchönheit.

Wir erzählen, dass wir aus Wien bis hierher zu Fuß gegangen sind. Das Gegenüber lächelt freundlich, bekommt kurz einen glasigen Blick und wechselt nach ein paar Sekunden der seltsamen Stille einfach das Thema. Nachdem wir weitergegangen sind, tauschen wir uns darüber aus, ob wir unverständlich waren oder was sonst passiert sei. Wir einigen uns darauf, ab nun den Terminus „Weitwandern“ zu verwenden, um die Verständigung zu erleichtern. Die Weitwanderung ist eine Reise zu einem Ziel. Wir haben jeden Tag zwei Ziele: Essen und ein Bett. Diese Ziele erreichen zu können ist oft mit sehr genauer Planung verbunden. Sie dürfen maximal 25 Kilometer vom vorigen entfernt sein, denn mehr schaffen wir nur unter sehr großer Anstrengung und ohne Pausen, das wollen wir nicht.

Fußreisen bedeutet, auf Gedeih und Verderb dem ausgeliefert zu sein, was am Ende des Tagesmarsches da sein wird. Es gibt keinen öffentlichen Verkehr in der schulfreien Zeit. Es gibt kein Fahrzeug, mit dem wir uns ins nächste Vier-Sterne-Etablissement bringen könnten, wir sind dankbar für jede Spelunke, die offen hat, wenn wir ankommen. (Wir gehen nur einmal hungrig schlafen, weil es dort nichts gibt, wo man essen könnte. Aber dieser Ort ist so traumhaft, weit oben auf einem grünen Berg, mit Blick in den Sonnenuntergang über Gebirgsketten, dass es uns an dem Abend genug ist, ein letztes übrig gebliebenes Stück Obst zu teilen und mit zwei Stück Schokolade zu belegen.)

Als mein Fisch serviert wird, bekommt Thomas starre Augen. Ich habe brüllenden Hunger und beginne zu essen. Es ist ekelhaft, ich stochere herum, erstaunt,wie man sogar simple Petersilienkartoffeln derartfalsch behandeln kann,dass sie unessbar werden. Der Koch geht kurz über den Gang, auf ihn projiziere ich meinen Hass darüber, dass man Nahrung so hassen kann wie er.Noch Tage später lachtThomas über den „Bettvorleger“, den ich da in Form eines Fisches verzehrt habe. Irgendwann kann ich mitlachen.

Wir gehen durch Ortschaften und werden gemustert. Leute stoppen ihre Buchsheckenpflege, unterbrechen ihr Gespräch vor dem Gartenzaun, verlangsamen sogar ihr Auto auf Schritttempo, um uns von oben bis unten zu mustern. Wir hingegen werden Musterschüler des Grüßens, um möglichst so harmlos und freundlich wahrgenommen zu werden, wie wir sind. Es ist völlig irrelevant, wie strahlend wir dreinschauen: Wir sind eindeutig auffallend. Von Hunden angebellt zu werden ist eines. Vor Menschen verdächtig zu sein, ist etwas anderes. Tagelang sprechen wir darüber, worin das Problem bestehen könne. Thomas, wie immer, schafft es zu scherzen: Sie denken, wir sind Roma! Ich, mit blonden Zöpfen, orangefarbenem Rucksack und fetten Wanderschuhen, rufe: Ja, Hühnerdiebe! Tomatendiebe! Kinderfresser! Aber ich bezweifle, dass man uns für Fahrende hält. Ich glaube, dass einfach nur die Tatsache, dass wir hier durchgehen, völlig ungewohnt ist. Wären wir im Hochgebirge, wären wir im Wienerwald, wären wir dort, wo Freizeitwanderer zu sein haben: Kein Mensch würde uns bemerken. Aber wir sind nicht am Rundwanderweg oder Weinwanderweg oder Römerbegegnungsweg oder im Freizeitreservat. Wir gehen hier quer durch, wo sonst nur motorisierte Einheimische unterwegs sind, und es ist nicht unmittelbar ersichtlich, was wir hier zu suchen haben.

Wir scherzen weiter: Nachdem wir nämlich mit der Küchenwaage abgestimmt haben, was in unsere Weitwanderrucksäcke hinein darf, gehen wir nun mit so kleinem Gepäck durch dieses Land, um Klaviere zu stehlen. Oder den hässlichen Dorfbrunnen einzupacken. Oder noch besser: Wir wollen uns einen Traktor in den Rucksack stecken! Das Misstrauen, das wir auslösen, wird schließlich handfest: Man starrt uns an, mit hängenden Mundwinkeln. Wir geben das überfreundlich Grüßen auf. Wir geben das Ins-Gesicht-Schauen auf. Wir geben alles auf, außer das Weitergehen. Sollen die doch denken, was sie wollen.

In Dörfern, nicht in halbstädtischen Ortschaften, dort, wo Häuser nicht umzäunt sind, erfahren wir dann anderes: Die alte Bäuerin im Arbeitskittel hat ein zerfurchtes Gesicht, und sie spricht uns mit lächelnden Augen neugierig an. Als sie hört, dass wir auf Wanderschaft sind, beginnt sie zu erzählen, dass sie ihr ganzes Leben zu Fuß gegangen sei, auch weit.

Diese Gespräche mit sehr alten Frauen, einmal auf der Bank sitzend, einmal in ihrem Gemüsegarten stehend, ein andermal am Feldweg mit frisch gesammelten Pilzen in der Hand, wiederholen sich mehrmals. Sie sind die einzigen Menschen, die uns mit offenem Gesicht und Freundlichkeit begegnen in den Dörfern, die wir durchqueren. Sie sind die Einzigen, die nie nach Kilometern fragen und die keinerlei Zeichen von Erstaunen zeigen und die nicht von ihrer eigenen Unsportlichkeit sprechen. Alte Frauen vom Land sind die Einzigen, so scheint es, für die Landstreicher völlig normal sind.

Trotz der täglichen Anstrengung möchte ich kein Fleisch essen, ich brauche daher Gemüse, große Portionen Gemüse. Den ganzen Tag und jeden Tag sehen wir Gärten und Felder: Mais, Getreide, Sojabohnen, Paradeiser, Gurken, soweit das Auge reicht. Es ist Sommer, es ist die Zeit, in der das allermeisteGemüse frisch zu essen ist. Ich habe Heißhunger auf frisches Essen. Stundenlang gehen wir an Pilzen vorbei (wir haben keine Pfanne dabei) und fantasieren davon, sie in der Hand haltend mit dem Feuerzeug anzubraten. Jeden Abend bestelle ich die eine Gemüsespeise von der Karte. Immer wieder schaut dieser Gemüseteller gleich aus, das Gemüse ist exakt gleich gestanzt, der Geschmack abwesend. Vier Tage hintereinanderesse ich – jeweils 20 gegangene Kilometer weiter – aufgetautes Gemüse derselben Firma. Immer wieder sitze ich in kleinen Nestern, weitab von Tourismus, von öffentlichem Verkehr, von Zeitdruck, vor einem Teller mit der gleichen seelenlosen, ungesalzenen Minikarotten-Karfiol-Erbsen-Mischung.

Das Gehen ist nicht anstrengend. Man macht einfach immer den nächsten Schritt. Anstrengend ist es, wenn die Mittagssonne auf den Kopf brennt, wenn das gesamte Gewand nassgeschwitzt und der Durst riesig ist, aber kein Trinkwasser in Sicht. Oder wenn man sich vehement uneinig ist, wo der richtige Weg weitergeht. Als wir uns richtig verirren, sind wir hochkonzentriert und kooperativ, um aus dem hügeligen Wald voller täuschender Holzwege wieder herauszukommen.

Mühsam wird man sich selbst, wenn man ein Starrkopf ist und sich daher – gelockt von einem fantastisch aussehenden Abstecher – zwischen einem Zaun links, einem steil abfallenden Bachbett rechts inmitten von kopfhohen Brennnesseln und bösen Dornenranken wiederfindet, sich also ganz bedächtig fortbewegt (Brennnessel mit dem Ellbogen beiseite drücken, Fuß aus derSchlinge ziehen, nächster Schritt, Achtung, einFrosch, nächste Brennnessel vom Ohr wegdrücken) und dann merkt, dass sich Scharen von Mücken auf einem niedergelassen haben. Oder wenn eine Steinlawine den Weg ausgelöscht hatund man lang durch loses Geröll steigen muss. Oder wenn man Schilder liest, die von Schuss- und Begehzeiten und von eigener Gefahr erzählen. Fordernde Anstrengungen und harmlose Abenteuer ohne Ende.

Besonders diese entlang der Hauptstraße gestreckten Dörfer sind eine Geduldsprobe. Eine halbe Stunde denkt man, jetzt gleich am Ziel, nämlich am Hauptplatz, zu sein – aber noch immer ist kein Geschäft in Sicht. Endlich ein kleiner Nahversorger, immerhin, und er hat heute nicht Ruhetag, unser Glück. Wir werden gefragt, wohin es heute gehe und woher wir kämen. Als wir knapp unseren Weg beschreiben, lacht die Kassierin anerkennend auf: „Ich fahre ja sogar zum Bäcker mit dem Auto.“

Jeden Tag weiterzukommen wird ein Sog. Auch wenn wir in der Früh trotz zehn Stunden Schlafs körpermüde aufstehen: Weiterwollen ist stärker. Auch wenn immer andere Stellen an den Füßen schmerzen. Auch wenn es so aussieht, als würde es ein sehr heißer/sehr regnerischer/sehr steiler Tag werden. Die Motivation ist: Mehr sehen! Mehr ergehen! Die nächste Hügelkette! Ich beginne, über das Vagabundieren nachzudenken. Was unsere Fußreise davon unterscheidet, ist das Ziel.

Vagabundieren, denke ich, das würde mir durchaus auch gefallen. Den ganzen Tag Himmel und Erde und Horizont. Einfach immer in Bewegung bleiben. Jederzeit die Freiheit haben, stehen zu bleiben und zu schauen. Pflanzen. Wolken. Insekten. Hügelformen. Hasen und Rehe. Panoramablicke. Weitläufige Moos-Farn-Landschaften, reizvoll von Sonnensprenkeln belichtet. Alleine hier zu stehen, um zu sehen, das bedeutet, dass das alles nur für einen da ist. Allerdings, sage ich Thomas, würde ich mir als Vagabundin ganz sicher Kochgeschirr mitnehmen. Wir gehen durch eine Ortschaft, die Straßen sind leer. Sonne, ein lauer Wind, herrlichstes Wetter, niemand zu sehen. Wir witzeln darüber, dass es einen Atomunfall gegeben habe und wir die Einzigen sind, die nichts davon wissen. Schließlich sehen wir ein Gasthaus, doch die Rollläden an den Fenstern sind zur Hälfte heruntergelassen, drinnen kein Licht. Wegen des Hungers und vor allem des Dursts probieren wir zaghaft, ob die dunkle Gasthaustür versperrt ist. Wir betreten unsicher den Raum, sehen nichts. Doch, da sitzen ja Menschen, und eine Frau steht hinter der Schank! Thomas fragt höflich durch dicke Rauchschschwaden, ob geöffnet sei. Und dann fragt er, ob es einen Gastgarten gäbe – der Ort liegt inmitten von Weinbergen und Wäldern ganz oben auf einem Hügel. Nein, es gibt keinen Garten. Ich will in diesem Rauch nicht sitzen. Die Schankfrau schiebt die Türe zum Saal auf, wirdürfen hier Platz nehmen, wo sonst das ganze Dorf sich einfindet. Die vielen großen Fenster des ansehnlichen Saals aus den1960ern bleiben geschlossen, die lichtdichten Rollläden davor bleiben zu. Nein, gekocht würde jetzt nicht, aber wir können einen Käsetoast haben. Nun denn: Käsetoast und Mannerschnitten sei unsere Mahlzeit!

Den ganzen Tag auf unbefestigten Wegen zu gehen bedeutet erhöhte Aufmerksamkeit, weil man genau aufpasst, wohin man seinen Fuß setzt, und vor allem versucht, gesund zu bleiben. Jeder Schritt landet auf anderem Untergrund, die Füße und der Gleichgewichtssinn sind hellwach. Auf Asphalt geht sich's viel schneller. Oft bietet sich die Straße an, sie zieht viel kürzere Linien zwischen den Ortschaften als die Geh-, Reh- und Feldwege.

Aber sich kilometerlang auf Asphalt zu bewegen, zieht auch Probleme nach sich: Druckstellen an den Sohlen, Schmerzen im Kreuz. Asphalt bedeutet außerdem, dass Fußgeher Randerscheinungen sind, die in Lärm, Staub und Abgase gehüllt werden. Asphalt wird mein Feind. Ich balanciere lieber ein wenig abseits auf schmalen Schotter- oder Grünstreifen, als auf dem Asphaltzu trotten. Asphalt zu vermeiden wird mir zur Gewohnheit, so sehr, dass ich auch auf Wiesenstreifen bleibe, wenn wir Ortschaften durchqueren. Öfter als einmal werde ich bitterböse angesehen, weil ich auf dem Grünstreifen über den Hauptplatz gehe statt auf dem Gehsteig. Ich denke tagelang darüber nach, wie es kommt, dass ein gehender Mensch störend wahrgenommen wird, während stinkende, laute Fahrzeuge als akzeptierte Selbstverständlichkeit zum Ortsbild gehören. Ich habe schließlich eine scharfe Antwort auf Lager für die Person, die mich des Grünstreifens verweist. Aber es kommt nie so weit.

Mit leeren, sich windenden Mägen betreten wir das Wirtshaus am Hauptplatz, optimistisch und uns wirklich auf eine warme Mahlzeit freuend. Wir werden vom Wirt begrüßt, ebenso laut von den mit ihm am Tisch sitzenden Frauen. Die restliche Dorfbewohnerschaft ist offenbar beim Kirtag, wir sind die einzigen Gäste. Die Küche wird also keinen Stress haben. Der gigantische Flachbildschirm ist eingeschaltet, aber lautlos – und trotzdem das Zentrum der Aufmerksamkeit. Wir bestellen, der Wirt wiederholt es an seinem Tisch, eine der Frauen steht auf und geht in die Küche.

Was wir etwas später hier essen ist grotesk grauenhaft, jedoch sind wir durch den Nebentisch und die nun wieder dort sitzende Köchin in einer Zwangslage: Wir können uns nicht einmal darüber austauschen, wie schwer es uns fällt, das Zeug zu schlucken. Als wir das Besteck beiseite legen, räumt die Köchin selbst das Geschirr ab, denn der Wirt ist mittlerweile hinausgegangen. Wir sitzen, ohne Worte, aber gesättigt. Da kommt der Wirt bei der Tür herein, durch die wir vor einer halben Stunde gekommen sind, er trägt vor sich drei große Pizzaschachteln, setzt sie bedächtig auf seinem Tisch ab, eine unruhige Vorfreude entsteht dort. Wir schauen zu, wie er beginnt, die auswärts gekaufte Pizza unter sich, der Köchin und den anderen beiden aufzuteilen. Wir verlangen die Rechnung und verlassen den Speiseort, wo weder Köchin noch Wirt ihr eigenes Essen konsumieren.

Jeden Tag, jeden einzelnen Tag der Weitwanderung wird uns bei den Unterkünften ein Parkplatz für unser Auto angeboten. Das mag freundlich und normal erscheinen. Es geschieht jedoch auch an jenen Orten, wo wir schon am Telefon angekündigt haben: Wir wandern zu Ihnen und werden erstam frühen Abend da sein. Und an jenen Orten, wo wir schweißgebadet, verstaubt, sonnenverbrannt mit Rucksäcken am Rücken sagen, wir sind auf einer Weitwanderung. Und an jenen Orten, wo man sich gerade eingehend darüber unterhalten hat, dass wir Wanderer sind, und wo wir neugierig gefragt wurden, wann wir denn heute früh losgegangen seien. Die allermeisten Kommentare oder Fragen der Menschen, die sich für uns und unsere Reise interessieren, beziehen sich auf die Zeit und auf das Praktische: Wie ist Ihr Zeitplan? (Wir haben keinen.) Wie machen Sie das mit dem Gewand? (Wir waschen es jeden Abend.) Auch nach fünf- oder zehnminütigen Gesprächen übers Gehen wird uns völlig automatisch ein Parkplatz angeboten. Was uns jeden Tag zeigt, was für Freaks wir sind.

Wir sind Glückskinder in einem Land, wo es genug gibt und wo man das Wasser fast überall trinken kann. Wir sind und wir bleiben gesund. Und wir diskutieren gleichzeitig sehr ernsthaft darüber, was diese verrohte Ess- und Geschmackskultur über unsere Gesellschaft sagt. Finden andere Leute das gut? Finden die Köche normal, was sie da fabrizieren? Vielleicht haben Gasthäuser in Dörfern eine ganz andere Funktion als die, wofür wir sie bräuchten? Vielleicht sind Wirtshäuser nur mehr Stätten des Sozialen, ergo des Trinkens und nicht des gemeinsamen Essens? Vielleicht isst überhaupt niemand mehr dort, nur wir sind darauf angewiesen.

Mit einer Zimmerwirtin entspinnt sich beim Frühstück ein längeres Gespräch. Sie würde selbst sehr gerne nach Mariazell wandern, traut sich aber nicht, denn sie habe „überhaupt keinen Orientierungssinn“. Ich versichere ihr, dass wir jeden Tag nach der richtigen Richtung suchen und uns schon grauenhaft vergangen haben. Immer wieder kommt sie darauf zurück, dass sie sich sicher verirren würde, bis ich deutlich werde: Seinen Weg zu suchen ist ein Teil des Wegs! Die Wirtin schaut mich mit Erleichterung an: „Ach so ist das, das gehört einfach dazu!“

Zu Fuß gehen ist wunderbar. Eine Fußreise zu machen ist abenteuerlich und wunderbar. Sich als Ehepaar dabei zu vertragen, es sogar meist sehr lustig zu haben, ist ein wunderbares Geschenk. In einem Land zu reisen, wo man sicher ist (ich denke da sowohl an Tiere als auch Menschen), ist ein großes Glück. Zu Fuß zu reisen ist die langsamste aller Fortbewegungsarten. Und es ist die ereignisreichste, denn jeder Schritt bringt eine Fülle an Eindrücken. Es ist wie stundenlang großes Kino: Der Flow geht immer weiter, nur der tiefe Schlaf jede Nacht schafft Pausen. Es ist die Versöhnung mit der Welt, denn man steht ständig mit beiden Beinen mitten in ihr. Manchmal waren wir so einsam, dass wir dies dafür nützten, in den sonnenbeschienenen Weltraum zu schreien und zu testen, wie groß oder klein der Hall ist – und uns bei diesem Erkunden der Menschenleere gegenseitig wild auszulachen. Zu Fuß zu reisen ist unabhängig von Technik und losgelöst vom Verfügbarsein: der freieste Zustand, den ich kenne. Vogelfreiheit, Computerfreiheit, Wohnraumfreiheit. Und all das nur, weil frei gewählt, freiwillig – und nicht aus Not, wie so viele Menschen, die jetzt auf der Flucht sind. Die luxuriöse Freiheit, bei jedem Schritt selbst zu entscheiden, in welche Richtung es weitergeht. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.07.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.