Kreuz. Kultur. Kalkül.

Was bedeutet es, wenn ein Politiker ein Kreuz nimmt und dem Publikum entgegenhält? Über unser antisemitisches Erbe und andere heimische Hinterlassenschaften.

Was bedeutet es, wenn ein Politiker ein Kreuz nimmt und dem Publikum entgegenhält? Der Politiker trägt dazu eine Jacke mit hohem Kragen in braun, auf der sehr viele silberne Zippverschlüsse glänzen und durch die vorgebliche Funktion von Taschen an den Ärmeln und an der Brust einen sportlich militaristischen Anklang aufkommen lassen. Das Kreuz ist breit und weiß oder elfenbeinfarben. Der Politiker hält es in der Faust. Er hält es hoch. Er hält es gegen das Publikum. Drohend wirkt das.

Das Kreuz ist nicht das katholische Kreuz unserer österreichischen Kultur, zu dem wir an den Wänden unserer Klassenzimmer, Spitalszimmer und Amtsstuben aufzuschauen hatten und in vielen Bereichen immer noch haben. Jedenfalls in von der ÖVP direkt beherrschten Bereichen. Auf diesem Kreuz muss der Gekreuzigte gezeigt werden und uns in seiner Todesverkrümmung an unsere Sterblichkeit erinnern und an unsere Sündenhaftigkeit gemahnen. Der Gekreuzigte auf dem Kreuz, den der Vater noch nicht zu sich zurückgenommen hat. Der noch nicht zum Vater zurückgekehrt ist. Der verlassene Sohn. Der zu Tode Gefolterte. Der geopferte Sohn. Das ist das Kreuz unserer Kultur. Das ist ein Symbol unseres Täglichen. Es ist das Symbol unseres Täglichen. Was würde sonst unsere Klassenzimmer mit den Spitalszimmern und den Amtszimmern sonst noch verbinden können.

Kurz dachten wir in den Siebzigerjahren, dass dieses Symbol, obsolet geworden, von alleine verschwinden wird. Aber so ist das nicht mit den Symbolen und der Kultur. Mittlerweile muss der Patient oder die Patientin unter diesem Kreuz nach den neoliberalen Strukturreformen sich selbst die Institution werden. Wir müssen die Hospitalisierung und die bürokratische Verfassung unseres Selbst selber an uns vollziehen. Das katholische Kreuz der österreichischen Kultur war nie weggedacht worden und danach abgenommen. Das katholische Kreuz der österreichischen Kultur wird in dieser postneoliberal vorgeschriebenen Selbstzurichtung seine Symbolkraft entwickeln.

Wie auch nicht. Wir wissen, dass politisches Handeln in unserer Kultur darauf beschränkt gedacht wird, was Politiker und die wenigen Politikerinnen machen. Das, was eine Person mit sich selbst ausmacht. Worauf eine Person ihre Entscheidungen und Handlungen begründet. Welche Ziele eine Person für ihre Entscheidungen und Handlungen fasst. All das wirklich Politische. Das Politische, das das Leben dieser Person bedingen wird. Dieses Politische ist ja schon unter diesem katholischen Kreuz als Symbol unserer österreichischen Kultur zur persönlichen Gewissensentscheidungen verschoben worden. Eine Scheinprivatisierung ist das ganz im Sinne der kapitalistischen Ziele einer Scheinprivatisierung. Die Lasten an die einzelne Person. Der Gewinn an das Kapital, das hier die Kirche ist. Das Klerikale, das längst in der Kultur aufgegangen ist und zur Benutzung brachliegt.

Erinnern wir uns. Während die Nationalstaaten rund um die k. u. k. Monarchie sich säkularisierten und das Religiöse entweder abtrennten oder in das Privatleben verbannten, war Religion im Heiligen Römischen Reich hierzulande die Basis der Herrschaft. Stabilität. Sicherheit. Überleben. Leben. Das war in der k. u. k. Monarchie über die Religion und die Teilnahme an ihr gewährleistet. Das Erzhaus war nach außen Garant und trennte die Auseinandersetzungen um die Macht mit der Kirche als Privatpolitik des Erzhauses ab. Diese Politik betraf vor allem den Kampf um die Seelen und wer über den Schulunterricht diese Seelen zur Formung in die Hand bekommen sollte.

Wir kennen die Geschichte der Konkordate und wie sie die Frage reflektieren, welche Personenkonstruktion zugelassen werden sollte. Erinnern wir uns daran, dass das Erzhaus sich von Bildung nichts erwartete und Schulbildung mit Ausbildung gleichzusetzen ist und dass ausschließlich die Regierbarkeit dieses Riesenreichs hergestellt werden musste. Erinnern wir uns, dass die Monarchie ein immer bankrotter Staat war, der alle Last auf das Volk abwälzen konnte. Wir sind in Krisen geübt, wie sie die derzeitige Bankenkrise vorstellt. Im Fall der Monarchie war es nur umgekehrt. Der Staat war bankrott, und die Banken lieferten das Geld. Finanzieren mussten das damals wie heute die Bürger über Steuerzahlungen. Erinnern wir uns, dass im Austrofaschismus Beichte und Heilige Kommunion vom Pfarrer bestätigt werden mussten, damit man ein Schulzeugnis bekommen konnte. Im Nationalsozialismus verschwanden dann die Kreuze aus den Klassenzimmern und den Amtsstuben. Im Spitalszimmer scheinen sie hängen geblieben zu sein. Das Aufhängen der Kreuze nach 1945 wurde ein Nachweis, dass es die Zeit zwischen 1938 und 1945 nicht gegeben hatte. Bis heute hängen diese bestimmten Kreuze an den Wänden. Ein Symbol dann auch der Hinterlassenschaften.

Das große weiße Kreuz des Politikers kommt also nur bedingt aus dem Erbe. Natürlich liegt der Wahl dieses kruden Kreuzes ein Kalkül zugrunde. Hätte der Politiker das Kreuz unserer Kultur genommen, dann hätte er wirklich provoziert. Er hätte wirklich die Religion gemeint. Es wäre eine Überschreitung geworden, deren Wirkung nicht abzusehen gewesen wäre. Das einfache helle Kreuz beschreibt in sich einen Protestantisierungsschritt. Wie der Gekreuzigte zu sehen ist, ist Privatsache und Auslegung, die einer selbst vornimmt. Es ist also eine Teilsäkularisierung, die uns vorgeführt wird. Und. Das Symbol ist auf die zentrale Bedeutung verdichtet. Es ist also ein populistisches Kreuz, das uns da entgegengehalten wird. Ein Kreuz, wie es Politiker der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hätten hochhalten wollen. Ein Kreuz, das auf ein Gemeinsames und Verbindendes schließen lässt, das sich gesellschaftlich erzählt. Ein Kreuz, das das Gemeinsame und Verbindende eines Gesellschaftlichen darstellt.

Was kann das aber nun sein. Dieses Gemeinsame und Verbindende. Religiöses kann nicht gemeint sein. Der das Kreuz hochhaltende Politiker ist ja kein praktizierender Katholik. So ist er von seiner Frau geschieden und findet das offenkundig entgegen katholischer Amtsmeinung sehr selbstverständlich. Wir können annehmen, dass die spirituelle Ausrichtung dieses Politikers dem Landesüblichen entspricht und in dem Spruch „römisch-katholisch und im Winter warm anzogen“ zusammengefasst werden kann. Es wird also nicht Spiritualität und eine Gemeinsamkeit in der Religionsausübung im Entgegenhalten des Kreuzes ausgedrückt. Ja. Das Entgegenhalten selbst hat etwas Missionierendes. Der Politiker geht ja nicht mit dem Kreuz voran. Er schaut nicht gemeinsam mit dem Publikum auf das Kreuz. Er nimmt das Kreuz und hält es entgegen. Er missioniert das Publikum bei der Wahlveranstaltung und muss das Symbol dinglich vorführen. Er kann das, was dieses Symbol ausdrücken soll. Das kann er nicht sprachlich vermitteln. Die Sache selbst muss zur Erscheinung kommen.

Der Grund dafür ist, dass er in den herrschenden Konventionen sogar hierzulande nicht versprachlichen dürfte, was er mit dem Vorführen des Symbols ausdrücken will. Das glatte, helle Kreuz ist die Standarte, die der Truppe gezeigt wird, damit alle wissen, hinter welchem Wahrzeichen sie sich versammeln. Welches Wahrzeichen sie verteidigen sollen. Welches Wahrzeichen sie zusammenfasst. Zu welchem Wahrzeichen sie gehören. Zu welchem Wahrzeichen die anderen nicht gehören. Die, die sich nicht hinter diesem Wahrzeichen versammeln dürfen. Wer sich hinter den Politiker um das Kreuz scharen soll, das wird nicht zur demokratischen Wahl freigestellt. Das wird von diesem Politiker und seiner Partei bestimmt. Denn. Alle, die die anderen sind. Die werden durch das Wahrzeichen erst beschreibbar. Wenn der Politiker das glatte, helle Kreuz hochhebt, dann stellt er Zugehörigkeiten her und trifft Ausschlüsse. Dieser Vorgang benutzt Demokratie als Sammelplatz von Vorurteilen und Ausschlüssen. Es wird nicht ein Katalog der Einstellungen vorgelegt, anhand dessen eine Entscheidung für Wahl oder Nichtwahl dieser Partei getroffen werden kann. Das Symbol des hellen, glatten Kreuzes aktiviert die lange Geschichte des Kreuzsymbols in unserer Kultur, in der Zugehörigkeiten oft schon nur durch Wiedererkennen von Symbolen empfunden werden.

Die Verwendung des glatten, hellen Kreuzes eines Protestantischen stellt dann eine ödipale Bewegung des jüngeren Politikers von der Geschichtstradition des katholischen Kreuzes weg dar. Ein winziger Widerstand wird angedeutet. Bei schnellem Hinschauen kann sich so eine Bewegung als Dynamisch niederschlagen. „Modern“ kann so etwas genannt werden. Der Vorgang des Ausschließens durch die Notwendigkeit, sich mit dem entgegengehaltenen Kreuz zu identifizieren. Der Vorgang des Ausschließens der anderen und des Einschließens von sich selbst beruft sich dann ja auch auf die einzige klare Erbschaft der österreichischen Kultur. Der Vorgang des Ausschließens erinnert, ohne eine einzige Erwähnung tun zu müssen, an den Antisemitismus.

Während die deutsche Nation oder die italienische sich über einem Antiklerikalismus in die Deutungsmacht des Nationalen brachte, musste in der österreichischen Monarchie der Antisemitismus diese Veranderung leisten. Während die Verstoßung der Religion und des Religiösen als irrational und unmännlich die Nationenbildung etwa des deutschen Mannes oder des Italieners des vereinigten Italiens ermöglichte, musste der österreichisch deutsche Mann sich mit dem Antisemitismus als idenitätsstiftende Strategie zufrieden geben. Die Konstruktion „österreichischer deutschsprechender Mann“ hatte die katholische Religion zur Verfügung. Eine tiefe Unterwerfung unter die gottgewollte Herrschaft des Erzhauses.

Der Antisemitismus der österreichischen Spielart war auch das einzige wirkmächtige Männlichkeitsmodell, das gegen das Ideal des adeligen Mannes entwickelt werden konnte. Der katholische Mann sollte ja in seiner Unterwerfung unter die Gebote der Kirche und des Erzhauses verhaftet bleiben. Die Industrialisierung ließ eine solche Verhaftung jedoch nicht zu. Der Kleinbürger. Der Bürger. Der landflüchtige Proletarier. Wenn dem adeligen Mann der Erhalt des Namens zur Existenzberechtigung bis zur Stilbildung des Täglichen zur Verfügung stand. Was machte ein Mann, dem das nicht gegeben war. Und erinnern wir uns. Die scharfen Grenzen der Klasse ließen keine Verhandlungen zu und hätten Gesellschaft geschaffen. Einzig Aufsteigen erschien erstrebenswert. Hinter sich lassen und sich in neue Erbschaften reklamieren. Das war die eine Möglichkeit, die das Erzhaus förderte, war das doch der Weg, sich besonders treue Diener in der Politik zu sichern. Entbürgerlichung war das Programm, und im Beamtenadel sich einer Gefolgschaft zu versichern, die so wenig bürgerliche Gedanken wie nur möglich verfolgte. Die Industrialisierung wurde ohnehin vom Adel selbst betrieben und das mit dem Kapital aus der Bauernlegung 1848. Das wenige Bürgerliche durfte nicht deutsch sein. Wollte nicht. Konnte sich nicht entschließen. Der Antisemitismus wurde zur Hilfsformel für die Herstellung quasibürgerlichen männlichen Bewusstseins. Und ist das geblieben.

Wenn wir uns intensiver mit der Entwicklung des 19. Jahrhunderts beschäftigten, müssten wir dann auch noch feststellen, dass Religiosität als etwas dem Weiblichen Zugehöriges verstanden wurde. Dass Katholizität dem Weiblichen zugeordnet wurde. In der Auseinandersetzung um deutsche Männlichkeit muss diese Einschätzung ihre Wirkung auf die österreichische Verfasstheit von Männlichkeit gehabt haben. Die Rhetorik des Antisemitismus stellte einen Ausweg dar, sich über die Veranderung des Jüdischen die eigene Bedeutung zu verschaffen.

Verschobene Selbstverachtung führt zu besonders wütender Rhetorik gegen das Objekt der nach außen gelenkten Verachtung. Selbstverachtung ist in Österreich, in Wien vor allem, eine der Hinterlassenschaften der langen Geschichte. Diese Selbstverachtung kann sich dann auch des Prinzips der Ehre entschlagen. Wenn wir den Leutnant Gustl ohne jede Scham glücklich finden, wenn am Ende das Duell nicht stattfinden muss, weil der Gegner in der Nacht gestorben ist. Wenn wir also sehen, dass das Konzept der Ehre in diesem Fall ausschließlich von außen oktroyiert ist und keine Entsprechung im Inneren hat, das auf eine absolute Erfüllung dringt. Dann finden wir einen kleinen Hinweis darauf, warum in unserem Land nie etwas Moralisches geschieht. Nicht geschehen muss. Es gibt keine innere Dringlichkeit eines Prinzips. Es hat ja keines gegeben. Jedenfalls keines, das sich nicht durch Druck zu Wirkung verholfen hätte.

Der Antisemitismus musste dann ja auch erst mit der Möglichkeit zu einem solchen absoluten Prinzip verschmolzen werden, um zur Shoa zu führen. Angeleitet darin, war die Erfüllung hierzulande allerdings wieder sehr leicht und eifrig möglich. Während nun eine Kultur wie die Westdeutsche nach 1945 zur Nationenbildung zurückkehrte und in der Adenauerzeit einen Rückfall ins Reaktionär-Konservative durchmachte, in dem Moral aber einen gewissen Stellenwert besaß. Während die 68er-Generation in der BRD gegen dieses Reaktionär-Konservative und Muffig-Religiöse ihren Widerstand entwickelte und auf Aufklärung der Verstrickungen der Nazizeit dringen konnte. Währenddessen kehrte der österreichische Mann zum Österreichertum zurück. Im Österreichischen dieser Zeit fand der Austrofaschismus sich als identitätsstiftende Sinneinheit. Die Linke blieb damit der stimmenstärkere, aber unterlegene Gegner. Eine der vielen antidemokratischen Erbschaften.

Und. Der Antisemitismus musste nicht zum Vorschein kommen. Im Antikommunismus konnten sich alle Emotionen genau so anordnen wie im Antisemitismus und darin diesen erhalten. Der so umgefärbte Antisemitismus empfahl sich den Westmächten als westliche Parteilichkeit und führt direkt zum entgegengehaltenen, glatten, hellen Kreuz im EU-Wahlkampf in Österreich 2009.

Zwar hatten mit dem Zustimmen zum Beitritt zur EU die Österreicher und Österreicherinnen das erste Mal überhaupt einen demokratischen Beschluss gefasst, sich der Welt anzuschließen und nicht im Schockzustand der Amputation nach dem Ersten Weltkrieg zu verharren. Dafür hatte die Politik, die zu diesem Beitritt führte, verheerende Folgen in der Jugoslawienkrise und trug maßgeblich zu den Verfassungsbrüchen vonseiten der Slowenen bei, die dann den Zerfall dieses Staates nach sich zogen. Mit all den Folgen. Wiederum mit Folgen für die Zivilbevölkerung. Wiederum mit Folgen, die besonders die Frauen betrafen. Das Herumfuchteln mit Kreuzen bringt diesen Konflikt sehr schnell in Erinnerung, in dem ganz bestimmte Kreuzformen die Zugehörigkeiten verfassten und die Folgen davon. Schon hier ging es um den Halbmond und das Kreuz. Symbolische Verkürzungen mit verheerenden Folgen.

Symbole sind Verkürzungen. Dass der Politiker, der das glatte, helle Kreuz seinem Wahlkampfpublikum entgegenhält, gleich auch noch auf den Begriff „Kreuzzug“ kommen kann, beschreibt das ungeheure Ausmaß der Begriffsfüllung eines Symbols, wie dieses glatte, helle Kreuz es darstellt. Dass dieser Politiker auf diesen Begriff kommen kann und wie sofort verstanden wird, welche Begriffsräume aufgerissen werden, das beschreibt, wie die Hinterlassenschaften funktionieren. Wie gut es sich weitergibt, was gemeint sein kann. Wie perfekt das Erbe des Antisemitismus und seiner Argumentationsketten weitergegeben worden ist. Wir alle sind in diese Erbschaft initiiert. Diese Erbschaft ist darin eine Grundlage unserer Kultur. Wir wussten, was gesagt werden sollte, als Jörg Haider in Wien – ich zitiere – „die Ställe ausmisten wollte“. Zitatende. Wir wissen, was gemeint ist, wenn an den österreichischen Berufsschulen eine Mail-Kampagne läuft, in der behauptet wird, dass Juden in Österreich keine Steuer zahlten. Wir wissen ganz genau, was gesagt werden soll, wenn dieser Bekannte gesprächsweise so sagt, ich zitiere: „Die sind eine andere Rasse. Die Türken. Und da können Sie gar nichts machen.“ Zitatende.

Unser Alltag ist durchsetzt von diesen schnell hingeworfenen Sätzen des Schwarz und Weiß der Ausschließungen, die immer den zugrunde liegenden Antisemitismus als Interpretationsmuster verwenden können. Wenn zum Beispiel die Lehrer wieder einmal „total deppert“ sind und endlich einmal „arbeiten“ sollen, dann klingt da so eine Menge Hass mit, der vollkommen unverhältnismäßig einer Berufsgruppe aufgebürdet wird, die das Erbe ihrer Berufsgruppe darin antreten muss, ohne dass dieses Erbe klar wird oder den Beurteilern ihre eigenen Erbschaften als Bedingung ihrer Aussagen bekannt ist. Immer aber kann ein solches Urteil in die Totalität der Ausgrenzung durch die Zuweisung eines einzigen ausschließenden Merkmals kippen.

Wir alle sind in die Geiselhaft dieser Kultur des Antisemitischen geraten. Ob wir wollten oder nicht. Der Dogmatismus gerade des Antikommunismus hat meine Generation etwa gezwungen, aus der Rhetorik des Kalten Kriegs abzuleiten, dass die Probleme der Gegenwart zu bearbeiten sind und dass es möglich ist, je neu und unschuldig zu reagieren. Wir mussten feststellen, dass es dieses „Neu“ und auch diese „Unschuld“ nicht gab. Dass es überhaupt keinen Neuanfang gibt und dass die Erbschaften sich hineindrängen. Dazwischendrängen. Zugrunde liegen. Es gibt keinen Befreiungsschlag gegen die Hinterlassenschaften. Das Entschlagen des Erbes kann nur in je kleinen Schritten von diesem Erbe wegführen und muss, um sich selbst zu kennen, die Sprache dieses Erbes vorsichtig und langsam verlernen, um wiederum nicht in Sprachlosigkeit zu verfallen.

Der Politiker, der das glatte, helle Kreuz seinem Wahlkampfpublikum entgegenhält, kann uns wie eine Karikatur aller Grundlagen unserer Kultur vorkommen. Er ist aber wahrscheinlich ganz einfach die Repräsentanz der Kontinuitäten. Die Enge dieser Kontinuitäten erlaubt nur Angst als Ausdruck. Angst, die den Ängstlichen nicht einmal das Begehren auf einen eigenen Platz in der Gesellschaft erlaubt. Angst, die sich nur noch im Wunsch der Vernichtung der anderen ausdrückt, ohne Überlegung, wo man dann selber bleiben kann, wenn diese Vernichtung stattfindet. Im radikalen Ablehnen eines Bezugs zu den Abgewerteten beraubt der Abwerter sich ja selber eines sicheren Raums. Darin erfüllt sich dann jene Totalität, die in der österreichischen Kultur immer den Institutionen überlassen werden musste.

„Wenn die Argumente ausgehen, dann braucht man Gewalt – Ihr seids armselig, armselige Geister seids ihr.“ So schimpft der Politiker, der das glatte, helle Kreuz entgegenhielt. Er täuscht sich da. Die Argumente sind schon die Gewalt und haben damit die Armseligkeit des Geists bewirkt.

Diese Armseligkeit ist eine Männerkonstruktion, die von lange herkommt. Keine Frau dürfte in einer Wahlveranstaltung ein Kreuz entgegenhalten. Dieses glatte, helle Kreuz als Quasi-Emanzipation von der herrschenden Politik. Dieses Kreuz hat der Politiker von Wolfgang Schüssel übernommen, der im Jahr 2000 schon den Pakt mit dem Neoliberalen einging, seine Partei vom Anblick dieses verkrümmten Sohn Gottes zu befreien und nur noch in der Erinnerung an ein kulturelles anprotestantisiertes Christentum. – Erinnern wir uns, dass unser Bundeskanzler im Stephansdom predigte und damit nur die Umkehr der Nichttrennung von Kirche und Staat vorführte oder wie beim Begräbnis des Bundespräsidenten plötzlich von der Kirche die Mehrfachheirat anerkannt worden war. – Nur noch als kulturelle Festhaltematrix sollte die Religion da erinnert werden und so der Weg freigegeben werden für die ungehinderte Entfaltung des kapitalistischen Markts. Schüssel hielt keine Kreuze. Das hat die Krise wieder notwendig gemacht. Oder möglich. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.06.2009)

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