Die ungarische Seele und das Abendland

HUNGARY HINSTORY
HUNGARY HINSTORY APA/EPA/ZOLTAN MATHE
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Tausende „Afrikaner“ vor der Tür? Das hat gerade noch gefehlt. Wie so oft in der Geschichte packt die Ungarn die kollektive Angst des Aussterbens, und dieser Angst kann nur viel Stacheldraht abhelfen. Zum Innenleben des Magyarischen.

Ungarherz hat viel zu leiden, steht im Hintergrund bescheiden, zupft sich kleines Lied auf Zitha', extra Hungariam non est vita!“ Mit diesem Schlussreim hat Peter Hammerschlag in seiner Satire von der „Ungarischen Schöpfungsgeschichte“ das Phänomen erkannt: auserwähltes Volk, allein gelassen, Selbstmitleid. Wie das auch in Textpassagen der beiden Nationalhymnen (die Ungarn haben gleich zwei davon, einen „Himnusz“ und einen „Szózat“) anklingt: „Gebüßt hat dies Volk bereits für Vergangenheit und Zukunft“ und „Außer hier gibt's für dich keinen anderen Platz auf dieser Welt“.

Ein kurzer Vergleich der Nachbarvölker in Bezug auf nationale Kollektivkomplexe zeigt, dass für die Deutschen typisch die Sehnsucht nach einem Reich ist, das sie trotz Bismarck und Hitler nur kurz, aber nie wirklich hatten; im Gegensatz zur Habsburgermonarchie etwa oder der französischen Grande Nation. Die österreichische Nation wiederum, so wirklich erst nach 1945 geboren, wurde spöttisch Hurdistan genannt nach dem damaligen Unterrichtsminister Felix Hurdes, der das Schulfach „Deutsch“ in „Unterrichtssprache“ umbenennen ließ, Goethe und Schiller zu Ausländern erklärte und der Welt glaubhaft versichern konnte, dass Hitler ein Deutscher und Beethoven ein Österreicher war. Die Serben haben den militärischen Masochismus zur selbstquälerischen Nationaltugend erhoben: Seit der Niederlage gegen die Türken auf dem Amselfeld 1389 haben sie als „Schutzschild Europas“ immer wieder „verbluten“ müssen. Die Slowaken hingegen existierten offenbar gar nicht vor 1918, weil ihr Land als „Oberungarn“ zum „Tausendjährigen Reich“ der Magyaren gehört hat und in der jüngeren Geschichte auch tüchtig magyarisiert wurde. Und die Ungarn selbst? Da genügen zwei Worte, um die kollektive nationale Schockreaktion jederzeit zu reaktivieren: Herder und Trianon.

Der deutsche Philosoph Johann Gottfried Herder hat 1770 die Prognose gewagt, dass die Sprachen der kleineren Völker in Europa aussterben werden und so auch das Magyarische. Seitdem quält diese „Herdersche Prophezeiung“ genannte Schreckensmeldung als kollektiver Nationalkomplex die ungarische Seele. Das zweite magyarische Unwort lautet Trianon, der Name jenes Lustschlosses im Park von Versailles, in dem 1920 die Siegermächte „Großungarn“ zu „Rumpfungarn“ reduziert haben. Durch Abtrennung Kroatiens, der Slowakei, des Burgenlandes und Gebietsteilen mit rumänischen, serbischen oder ukrainischen Bevölkerungsteilen wohl begründet; sehr zu Unrecht jedoch durch willkürliche Grenzziehungen mitten durch ungarische Siedlungsgebiete. Demzufolge Ungarn in Europa zum Land mit den größten Bevölkerungsanteilen außerhalb seiner Staatsgrenzen wurde. Zehn Millionen Magyaren im Stammland und fünf Millionen als Minderheiten der angrenzenden Nachbarstaaten.

Diese vereinten sich zur „Kleinen Entente“ gegen Restungarn und forderten von den Siegermächten noch mehr: Ein slawischer Korridor sollte die Tschechoslowakei mit Jugoslawien dort verbinden, wo heute das Burgenland liegt, und ein „Großrumänien“ sollte bis zur Theiß reichen, das heißt ganz Ostungarn annektieren. „Alles wieder zurück“ lautete hingegen die Devise der ungarischen Revisionisten, und sie ließen das patriotische Blut hochkochen. Hitler gestattete seinem Waffenbruder im Zweiten Weltkrieg Reichsverweser Miklós Horthy in den abgetrennten ungarischen Siedlungsgebieten eine „zweite Landnahme“. Was Sowjetdiktator Josef Stalin nach 1945 freilich wieder rückgängig machte.

Das magyarische Trauma fand somit kein Ende. Nach 150 Jahre währender Türkenbelagerung und noch längerer Habsburger-Fremdherrschaft folgte nun die Sowjetdiktatur und damit die Fortsetzung der Kollektivangst, die nationale Identität des Ungartums aufgeben zu müssen. Ein kleines Volk, durch seine sonderbare Sprache isoliert, weltweit gänzlich ohne Verwandtschaft, umzingelt durch einen geschlossenen Kreis von slawisch-romanisch-germanischen Völkern. Die angebliche Verwandtschaft mit den Finnen im fernen Norden war Ende des 19. Jahrhunderts als nationale Beruhigungspille gegen das depressive Gefühl des ungarischen Alleinseins erfunden worden. Gegen Erstickungssymptome in einem Meer von einer rundum fremden, feindlich gesinnten Welt.

Und nun stehen Tausende von „Afrikanern“ vor der Tür. Das hat gerade noch gefehlt. Für das geburtenschwache Deutschland sind mediterrane oder äquatoriale Flüchtlinge volkswirtschaftlich „nützlich“, und jeder Parteistratege hofft auf mehr zukünftige Wähler seiner Partei. Die Ungarn allerdings packt erneut die kollektive Angst des Aussterbens, und dem kann nur ein kleiner kerniger Teufelskerl entgegenwirken, der eine Wagenburg errichtet rund ums kleine Ungartum. Ein David gegen Goliath, das phänotypische Selbstbild der ungarischen Seele. „Der Pfeffer ist klein, aber scharf“ – so lautet eine gängige Redewendung der Magyaren, und so waren auch alle ihre legendenumwobenen nationalen Idole. Der kleinwüchsige Krieger Botond etwa, der der Sage nach mit seinem Streitkolben die Tore von Byzanz eingeschlagen hat. Oder König Matthias Corvinus, der erfolgreichste Herrscher auf dem ungarischen Thron, der als kleinwüchsiger Ritter den böhmischen Riesen Holubar aus dem Sattel stieß. Klein und stämmig war auch der mehrfache Boxweltmeister László Papp. Oder Ferenc Puskás, weltweit bester Torschütze seiner Zeit. Und jetzt nun Viktor Orbán. Klein, zäh – und Viktor heißt bekanntlich Sieger. Wenn nötig, gegen halb Europa und bereit, die Tore von Brüssel einzuschlagen, wie einst Botond die von Byzanz.

Viktor, der magyarische David, ist zur Projektionsfläche der Sehnsüchte sehr vieler, aber freilich längst nicht aller ungarischen Seelen geworden, denn er zeigt's „denen da oben“ in der Europäischen Union. Und wenn er seinen Stacheldrahtzaun an der Südgrenze Ungarns als Schutzwall für das christliche Abendland rechtfertigt, meint der hochintelligente, rhetorisch brillante Orbán freilich keineswegs die Europäische Gemeinschaft, von der er sein Land am liebsten ebenso abzäunen würde. Er meint damit Existenz, Identität und Seele des in Europa sprachlich isolierten Volkes der Magyaren.

Als in der Endzeit der großen Völkerwanderungen vor rund 1000 Jahren mit den Ungarn zusammen Dutzende verschiedener anderer Völker vom Ural bis Pannonien gezogen waren, Awaren etwa oder Skythen, Petschenegen oder Kumanen, waren die Sprachen aller dieser Völker bald danach aufgegangen in die der hier ansässigen Bewohner. Einzig das Ungarische hat sich bis heute halten können, selbst der berüchtigten Herderschen Prophezeiung zum Trotz. Pannonien ist allen voran Sprachheimat der Magyaren, welches sie nun mit einem Stacheldrahtzaun zu retten versuchen. Eine freilich völlig unwirksame Notreaktion, aber ein Spiegel der ungarischen Seele. Menschenverachtend, aber von der Motivation her erklärbar. Allerdings: Nicht einmal die Chinesische Mauer hat sich im Laufe der Geschichte als beständig und luftdicht erwiesen! ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.11.2015)

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