Nein, kein Lied mehr!

(c) Reuters (Aly Song)
  • Drucken

Dass politisch Lied ein garstig Lied sei, ist eine viel zitierte Warnung. Dennoch musste ich es singen. Mit wechselnden Texten und Weisen. Mein Leben – „meine“ Lieder: eine politische Bilanz.

Dass ein politisch Lied ein garstig Lied sei, ist eine viel zitierte Warnung aus Faust I. Dennoch musste ich es einen Teil meines Lebens singen. Mit wechselnden Texten und Weisen. Zum ersten Mal 1934 als Siebenjähriger nach der Ermordung von Bundeskanzler Dollfuß. Mein Vater war als Frontoffizier des Ersten Weltkriegs zum Kommandanten vonStarhembergs Heimwehr in Oftering ernanntworden, einem Bauernnest nahe Linz. Gottvater der örtlichen Heimwehr aber war der ehemalige k.u.k. Major Bella, der im nahen Schloss Freiling residierte und darauf bestand, dass die Heimwehr alle ihre Übungen und Feste in seinem Park abhielt.

In einer Uniform des „Österreichischen Jungvolks“ steckend, trottete ich mit meinenSchulfreunden in Marschordnung dahin, dasin der Schule (die mein Vater als Oberleh-
rer leitete) eingedrillte Lied der Jugend – Wir Jungen stehn bereit! singend. Erbarmungslos alle vier Strophen. Immer und immer wieder, so dass es heute noch voll erhalten unter anderem Zeitgerümpel abrufbereit im Dachboden meines Kopfes gespeichert ist. Sein Text gab mir einige Rätsel auf, in die ich mich verbiss, ohne sie lösen zu können:

Ihr Jungen, schließt die Reihen gut!

Ein Toter führt uns an.

Er gab für Österreich sein Blut,

Ein wahrer deutscher Mann.

Die Mörderkugel, die ihn traf,

Die riss das Volk aus Zank und Schlaf.

Wir Jungen stehn bereit!

Mit Dollfuß in die neue Zeit!

Dass ein Toter uns anführen sollte, wollte mir nicht eingehen, da er uns ja nicht vorangehen konnte und auch nicht im Sarg vorangetragen wurde. Rätselhaft warmir auch, dass er ein wahrer deutscher Mann sein sollte, wo wir doch in der Schule immer wieder das Bekenntnis zu Österreich herunterleiern mussten (Mein Vaterland, mein Österreich). Zu singen waren diese Rätsel auch nicht einfach, da der Text auf die Melodie der italienischen Faschistenhymne „Giovenezza“ gequält war. Mit diesem Lied wurde der Keim zu meiner Abneigung gegen den Gemeinschaftsgesang gelegt. Sein Wachstum wurde in den folgenden Jahren kräftig gefördert.

Im Gegensatz zum Lied der Jugend rätselte ich an den Kirchenliedern nicht herum. Die Melodien gefielen mir so sehr, dass ich über die Forderung, Jesu Herz, dir ewige Treuezu schwören, und andere Gebote nicht weiter nachdachte. In der Maiandacht aber wurde meine Fantasie durch ein Schifflein angeregt, das einen treu und mild durch die Welle zum Gnadenbild geleitete. Ich sah mich als Bootsfahrer. Ergriffen wurde ich, wenn die Orgel zum Tedeum aufbrauste unddie Gemeinde vielstimmig in jedem Sinne mit Großer Gott, wir loben dich einfiel.

Als ich mich der Mittelschulreife näherte, wurde ich der Obhut meiner Großeltern in Linz anvertraut, womit ich von der Plage des singenden Marschierens vorerst erlöst war, da mein Großvater alles Militante hasste, gleich welche Ideologie sich seiner bediente. Doch schon ein Jahr später musste ich hinter einer Fahne, die uns voranflatterte, in die Zukunft Mann für Mann für Hitler durch Nacht und durch Not für Freiheit und Brotmarschieren, bedingungslos gehorsam, denn diese Fahne ist mehr als der Tod.

Dollfuß, die Nazis, die Wehrmacht, die GIs und die „Internationale“

Zum ersten Mal hörte ich dieses Lied, als wir drei Tage nach dem Einzug Hitlers in Linz vom Humanistischen Gymnasium auf der Spittelwiese geschlossen in das nahe Lifka-Kino zur Vorführung des Propagandafilms „Hitlerjunge Quex“ getrieben wurden. Obgleich von meinem Großvater mit Unbehagen gegen diese neueste der neuen Zeiten vollgestopft, war ich wie alle meine Mitschüler vom Opfertod dieses Hitlerjungen ergriffen. Tage zuvor noch hatte ich heldenhaft auf meinem Regenumhang die Parole „Rot-Weiß-Rot bis in den Tod“ geheftet gehabt und nicht verstanden, warum ein Mann auf der Straße mit dem Rat an mich herantrat: „Bub, jetzt tät ich das runter!“

Meine Bewunderung für Quex reichte indes nicht aus, meine Abneigung gegen die disziplinierende Qual des Marschierens und gemeinschaftlichen Singens zu mildern. Sie wurde noch verstärkt, als ich mich über Druck der Schule um die Aufnahme in das „Deutsche Jungvolk“ (DJ) bewarb, denn dabei wurde eine „Mutprobe“ verlangt – zwei Meter in die Tiefe springen –, die ich mehr gestoßen als entschlossen bestand. Ich war nie ein Raufer, und der Todesmut von Quex war mir bei aller Ergriffenheit fremd.

Die Strafversetzung meines Vaters an die zweiklassige Volksschule eines Dorfes fernab jeder Mittelschule veranlasste meine Eltern, mich im Konviktsgymnasium der Benediktiner in Kremsmünster anzumelden. Als ichnach einer langen und umständlichen Bahnfahrt zu Schulbeginn 1938 dort eintraf, war das Stiftsgymnasium bereits in eine „Deutsche Oberschule mit NS-Schülerheim“ umgewandelt worden, die ein österreichischer Direktor leitete, ein Altphilologe.

Für die feierliche Schuleröffnung, zu der wir im Karree auf dem Sportplatz anzutreten hatten, wurde uns das Horst-Wessel-Lied eingedrillt, das immer vor der Hymne Deutschland, Deutschland über alles, über alles inder Welt gesungen werden musste. DerenMelodie von Haydn hatten wir ja vor Kurzemnoch mit dem Text Sei gesegnet ohne Ende, Heimaterde wunderhold gesungen. Für HorstWessel, einen 1930 ums Leben gekommenenSA-Raufbold, der zur Kultfigur emporgehoben worden war, mussten wir Die Fahnehoch halten und singend erklären, dass Kameraden, die Rotfront und Reaktion erschossen, im Geist in unseren Reihen mitmarschierten. Sooft wir in den folgenden Jahren unsere Stimmbänder für diese Geistermarschierer strapazierten, konnten wir uns darunter nichts Genaues vorstellen, schon deshalb nicht, weil uns die Begriffe Rotfront und Reaktion nichts sagten. – Um unsere Gesinnung zu verbessern, mussten wir für das Exerzieren im DJ-Dienst das Lied einüben:

Es zittern die morschen Knochen

Der Welt vor dem großen Krieg,

Wir haben den Schrecken gebrochen,

Für uns war's ein großer Sieg.

Wir werden weiter marschieren,

Bis alles in Scherben fällt,

Denn heute gehört uns Deutschland

Und morgen die ganze Welt.

Niemand hörte – oder man wollte es vielleicht überhören –, wenn wir zu unserem Gaudium den Anfang veränderten: Es zitternbeim Oasch die Knochen... Einmal erschien der Direktor, um unseren Fortschritt im singenden Gleichschritt zu überprüfen, und belehrte uns, es hieße nicht: Denn heute gehört uns Deutschland, sondern: Denn heute, DA HÖRT uns Deutschland. Wir wunderten uns, warum gerade er nicht wollte, dass uns morgen die ganze Welt gehöre, griff er doch in der Folge immer tiefer in das kriegerische Liedgut, um unsere Erziehung weiter seinem Ideal nahezubringen.

Bei der Feier vor Ferienbeginn durften wir in der Aula das Gaudeamus igitur singen, was wir mit Inbrunst taten, denn wir waren der letzte Jahrgang des traditionellen Humanistischen Gymnasiums mit Griechisch und Latein im Lehrplan. Für die Jahrgänge nach uns galt der Lehrplan der „Deutschen Oberschule“ ohne Griechisch und mit stark reduziertem Lateinunterricht. Wir aber hatten ab der ersten Klasse Latein, ab der dritten Griechisch, erst ab der fünften Englisch. Unser Englisch-Lehrbuch hieß „Hans und Grete besuchen London“. Wir lasen, wie die beiden die Westminster-Abtei und die St.-Pauls-Kathedrale besichtigten – während diedeutsche Luftwaffe jede Nacht Bomben auf London warf. Nach der Schule aber schmetterten wir beim DJ-Dienst: Flieger sind Sieger, / Sind allezeit bereit, / Zu sterben / Für Deutschlands Herrlichkeit. Seltsam, dachte ich, Sieger starben doch nicht, sondern ließen andere sterben. Bei Karl May.

Noch heute könnte ich Japans Hymne korrekt mitsingen

Wir sangen, was gesungen werden musste, ohne über das Gesungene nachzudenken. Gar nichts anfangen konnten wir mit Brüder in Zechen und Gruben, insbesondere mit der Strophe: Hitler ist unser Führer, / Ihn lohnt nicht goldener Sold, / Der von den jüdischen Thronen / Vor seine Füße rollt. Keiner von uns hatte bewusst je einen Juden gesehen, geschweige denn ihre Throne und das rollende Gold. Mit Antisemitismus, so merkwürdig es klingen mag, wurden wir nicht indoktriniert. In der dritten Klasse schied ein Mitschüler aus. Erst viel später erfuhren wir, dass er Halbjude war.

Von Kriegsbeginn an hatten wir durch denStiftshof und den Ort den einzelnen Feldzügen hinterherzubrüllen (ausgenommen nur der Polenfeldzug, der mit seinen 18 Tagen zu kurz war, um Goebbels' Dichter und Komponisten zu beflügeln). Gegen die Sowjetunion war Freiheit das Ziel, Sieg das Panier,worauf sich kurz und bündig reimte: Führer befiehl, wir folgen dir! Bei Panier dachte ich sehnsuchtsvoll an Schnitzel.

Dann sahen wir in der Wochenschau – derentwegen geduldet wurde, dass wir uns auch in nicht jugendfreie Filme hineinschwindelten –, wie deutsche Soldaten nach der Schlacht Spiegeleier auf den von der afrikanischen Sonne aufgeheizten Stahlplatten ihrer Panzer brieten. Es rasseln die Ketten, es dröhnt der Motor! / Panzer rollen in Afrika vor! Ein Lied, das mit Rommels Rückzug aus Afrika jäh verstummte.

Mit den Feldzügen hatte der Direktor unsere militärischen Übungen samt begleitenden Gesängen drastisch gesteigert, so dass uns so gut wie keine Freizeit mehr blieb. Als er auch noch anordnete, dass der kurze morgendliche Schulweg zwischen Internat und Gymnasium in Marschordnung mit ei- nem Lied auf den Lippen zurückgelegt werden müsse, überlegten wir, wie wir ihm singend eins auswischen konnten. In der Internatsbibliothek entdeckten wir Japans Hymne. Noch heute beherrsche ich Text und Melodie, die wir am Klavier so lange einstudierten, bis sie saßen. Als ich 1970 an der Eröffnung einer österreichischen Wintersportmesse in Tokio teilnahm, konnte ich zum Erstaunen der japanischen Gäste ihre Hymne korrekt mitsingen. – Wie gewöhnlich betrat der Direktor am Morgen zugleich mit uns den Stiftshof, als wir sie anstimmten:

Kim mi ga yo wa

Chi-yo ni

Yachi-yo ni

Sazare ishi no

Iwao to narite

Koke no musu made.

„Was soll dieser Unsinn?“ – „Die Hymneunseres Verbündeten Japan!“, schmetterten wir unserem Disziplinwächter entgegen.

Unser verdeckter Widerstand wurde zum offenen und endete mit Flucht vor der Teilnahme an einem seiner Ausmärsche, was als „Befehlsverweigerung“ ausgelegt wurde und „mit Erlass des Reichsstatthalters von Oberdonau IIb/V- 7/1 v. 24.2. 1943“ zur Verweisung von sieben „Rädelsführern“ von derhöheren Schule wegen „gefährlicher Auflehnung gegen die nationalsozialistischenGrundsätze der Einordnung im Sinne derGemeinschaftserziehung“ führte. Zugleichwurde die Verweisung von der Schule im Hinblick darauf sistiert, dass in Kürze unsere Einberufung zur Flak als Luftwaffenhelfer bevorstehe. Das Flakkommando würde von unserem Verhalten unterrichtet werden.

Am 15. März 1943 war es so weit. Eben erst15 geworden, musste ich statt in brauner nun in blaugrauer Uniform weiter marschieren, doch nicht mehr mit allen gewohnten Liedern auf den Lippen. Das folgende blieb in Kremsmünster zurück:

Hört ihr die Motoren singen:

Ran an den Feind!

Hört ihr's in den Ohren klingen:

Ran an den Feind!

Bomben! Bomben!

Bomben auf Engeland!

Das mussten wir bei der Flak nicht mehr anstimmen, da die Bomben statt auf Engeland nunmehr auf Deutschlands Städte und auch auf Linz mit seinen Hermann-Göring-Werken fielen, was wir mit unseren 8,8-Flak-Kanonen am Pöstlingberg nicht verhindern konnten. – Gegenüber der Ausbildung an denGeschützen musste das exerzierende Marschieren auf die vorgeschriebene Pflichtübung zurückgedrängt werden. Die Unteroffiziere hatten fast alle einen Fronteinsatz hinter sich und befahlen im Gegensatz zum Direktor keine bestimmten Lieder. So ließen wir häufig das bekannte kleine Blümelein,das Erika hieß, auf der Heide blühen. Oder priesen die Heckenrosen, die so schön waren wie das Küssen und das Kosen, das nur in unserer Fantasie blühte. Eine uns nicht bewusste Selbstverhöhnung war der Refrain: Jugend und Schönheit vergeht, / Drum nützt die Zeit, / denn die Welt ist so schön!

Die alten Kanoniere sangen nach der Melodie einer bekannten Polka, an die sie den Marschtritt anpassten, den anzüglichen Text:

Sie geht nicht!

Die Nähmaschine geht nicht!

Ich hab die ganze Nacht probiert

Und das ganze Öl verschmiert.

Leg dich hin, Hedwig,

Ich hau mich drauf, Hedwig,

Keine Angst, Hedwig,

Ich pass schon auf!

Gegenüber dem, was wir gewohnt waren, empfanden wir diese Gesänge als ungeheuer kühn und lustig und stimmten bereitwillig mit ein. Nicht alle. Einige versuchten sich immer vom Mitsingen zu drücken. Meine Abneigung gegen den Gemeinschaftsgesang hatte sich zum Hass gesteigert, ich machte nur die Lippenbewegungen mit. Der Spieß und die Unteroffiziere aber suchten solche „Drückeberger“ zu entdecken, und hatten sie einen im Verdacht, traten sie dicht an ihn heran und schrien: „Lauter! Ich höre nichts! Lauter! Ich höre noch immer nichts!“

Dann und wann gab es ein Batteriefest, für das wir Luftwaffenhelfer des BatteriechefsLieblingslied, Lützows wilde verwegene Jagd,einübten. Der Hauptmann war ein Überbleibsel des Hunderttausend-Mann-Heeres des VersaillerVertrages und ertränkte seine Frustration über ausgebliebene Beförderungen in Alkohol. Unser Lützow-Chor rührte ihn stets zu Tränen. Von der Gestapo über unsere „Befehlsverweigerung“ unterrichtet, ließ er uns in seine Baracke rufen und sagte nur: „Teufel auch, mit diesen Brüdern legt ihr euch an.“

Uns Flakhelfer-Buben fehlten die klugen Ratgeber von heute

Ohne Aufsicht in der Baracke sangen einige von uns gerne nach einer Schlagermelodie:

Heut ist Flak-Konzert,

Die Polizei hat abgesperrt.

Alle Flieger sind schon da,

Aus USA und Kanada.

Das waren sie denn auch: immer öfter und immer mehr und immer nachts.

Die Buben der sogenannten Luftwaffenhelfer-Generation ließen mit sich geschehen, was geschah. Was hätten wir wohl tun sollen? Es fehlten uns eben die klugen Ratgeber von heute. Vor uns lag nur die Zukunft eines Todes für das Vaterland, zu dem wir uns singend bekennen mussten. Viele erlitten ihn noch in den letzten Kriegstagen. Hannes Redlingshofer, der Erste, den er traf, hatte sich schon lange zuvor aufgegeben mit der ständig wiederholten Erklärung, alles sei gleichgültig, da wir uns doch die Erdäpfel bald von unten anschauen müssten.

Im August 1944 wurde ich aus dem Dienst in der Flak entlassen, um Tage später zum RAD (Reichsarbeitsdienst) nach Mitterndorf im Ausseerland einberufen und in die Berge zum Holzfällen getrieben zu werden, da es längst an Holzknechten mangelte. Auf dem Wege in die steilen Wälder, wo wir Unkundigen uns nicht wenige Verletzungen zufügten, hatten wir „ein fröhliches Lied“ anzustimmen, um den Ortsbewohnern frohen Mut zu zeigen. Manchmal versicherten wir einander singend: Draußen vor dem Tore, wartet Hannelore!

Unser Holzfällereinsatz war nur eine kurze Episode. Schon Ende September 1944 wurden wir zur Wehrmacht einberufen und damit zu Vollsoldaten gemacht, die wir seit unserem Luftwaffeneinsatz ja waren, ohne als solche anerkannt zu werden. Zugleich mit meiner Überstellung zur Wehrmacht wurde aus den nicht mehr Wehrpflichtigen der „Volkssturm“ zusammengestellt, dessen „Kämpfer“ einander mit grimmigem Humor zuflüsterten: Wir alten Affen / Sind die neuen Waffen. Mein Vater war als Offizier des Ersten Weltkriegs für eine Führungsrolle vorgesehen und so wie ich in die Auhof-Kaserne bei Linz zur Ausbildung einberufen worden.

Warum ich 1947 Mitglied der Kommunistischen Partei wurde

Beim Ausmarschieren zum Geländedienst hatten die Rekruten im ersten Glied auf Befehl des Unteroffiziers „Ein Lied!“ vorzuschlagen. Da ihnen fast nie etwas anderes als der Westerwald einfiel, ließen wir Tag für Tag über seine Höhen den Wind so kalt pfeifen, während Nacht für Nacht die Bomben über Linz oder Steyr pfiffen.

Auch über Znaims Klosterbruck-Kaserne pfiffen sie, wohin ich Mitte Jänner 1945 auf ROB-Lehrgang (Reserve-Offiziers-Bewerber) geschickt worden war. Unbeirrt davon wurden wir streng nach dem Ausbildungsprogramm im Parademarsch, in der Beherrschung widerspenstiger Pferde, in Waffenmechanik und Taktik gedrillt. Auf dem Marsch zu den Übungsplätzen entlang der Thaya wurde immer nur ein Lied angestimmt, das mir so verhasst war wie kein anderes, weil ich es als beleidigende Unterstellung empfand, mir ein Mädel zu wünschen, das schwarzbraun wie die Haselnuss, gerade so wie ich war. So wollte ich nicht sein, und das Mädel sollte – nun ja, blond sein. Dieses Lied sollte den Krieg überdauern und manchen als wieder neues Bekenntnis zum alten dienen.

Die Absurdität der Ausbildung ging im Inferno der zusammenbrechenden Ostfront unter. Nach abenteuerlicher Flucht kam ich im Sommer 1945 zu Hause an. Der Ort lag in der amerikanischen Besatzungszone Oberösterreichs. Noch herrschte Fraternisierungsverbot, aber die beiden GIs an der Brücke über die Faule Aschach langweilten sich so sehr, dass sie meine Schwester und mich ansprachen. Wir luden sie zu uns nach Hause in die etwas abseits gelegene Schule ein. Zwei nette Burschen, die nach Familienanschluss dürsteten. Sie kamen wieder, brachten Lebensmittel mit, und meine Mutter lud sie zum Essen ein. Danach wollten sie das Geschirr abwaschen, was meine Mutter mit Entsetzen abwehrte. Solches Verhalten entsprach nicht ihrem Rollenverständnis.

Der eine war New Yorker und neckte seinen Freund zuweilen, weil der aus Montana stammte. Gegenseitig mühten wir uns unter viel Gelächter in Englisch und Deutsch ab, wobei wir es etwas leichter hatten, da wir ein wenig Schulenglisch mitbrachten. Als sie merkten, dass die ältere meiner beiden Schwestern gut Klavier spielte, brachten sie ein Bündel Noten mit, Musicalsongs. Wir waren in keiner Marschordnung, daher sang ich aus voller Kehle mit: My sugar is called candy, / Candy is sweet to me, / And I am sweet to Candy.So lustvoll habe ich nie wieder zusammen mit anderen gesungen.

Mit Herbstbeginn wurden die beiden GIs mit ihrer Einheit abgezogen, und ich ging nach einem schulischen Zwischenspiel in Linz nach Wien, um an der Universität zu inskribieren. Zwischen den Trümmern der zerbombten Häuser im Schutt und Staub wurde nicht mehr marschiert und gesungen.

1947 schloss ich mich erstmals aus freiem Willen einer Gemeinschaft an: Ich wurde Mitglied der Kommunistischen Partei. Ein paar Jahre hindurch hielt ich sie für die einzige Kraft, international das Wiederaufleben von faschistischen Bewegungen zu verhindern und den Kapitalismus sozial zu zähmen. An die Weltrevolution hatte ich nie geglaubt. In dieser Gemeinschaft wurde viel diskutiert, aber wenig gesungen. Wenn, dannohne mich. Selbst bei Ertönen der Internationale blieb ich stumm. Zu viele Zukünfte hatte ich schon herbeisingen müssen. Keine war Gegenwart geworden. Auch die kurze Zeit von mir ersehnte nicht. Ein unverdientes Glück. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.06.2009)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.