Mein Jahr mit einer Toten

Denisa Soltísová: der ungeklärte, nämlich vertuschte Fall einer slowakischen „24-Stunden-Pflegekraft“ in Vöcklabruck. Eine persönliche Bilanz.

Vor einem Jahr wurde ich in einen Kriminalfall gezogen. Ich bin Österreicher, lebe in der Slowakei und saß an einem Junimorgen des Jahres 2008 vor einer slowakischen Zeitung. Ich las von einer jungen Slowakin, die im Winter von einem oberösterreichischen Fluss angeschwemmt worden war, nackt. Die oberösterreichischen Behörden schlossen den Fall innerhalb von fünf Stunden ab, als Selbstmord. Die Leiche wurde in die Slowakei überführt und dort obduziert. Die Obduktion brachte ans Licht: zwei Medikamente gegen Krankheiten, an denen die Frau nicht litt. Und: „Gewalt von größerer Intensität“.

Die Ertrunkene war eine von 40.000 meist illegalen und meist slowakischen Pflegerinnen, die in Haushalten meist gut situierter Österreicher „24-Stunden-Pflege“ leisten. Mir fiel auf, dass in der Slowakei seit Februar 2008 eine Mordermittlung geführt wurde, die slowakischen Medien schrien seit fünf Monaten Mord. Mir fiel weiters auf, dass der Name der Verstorbenen in österreichischen Medien noch nie vorgekommen war. Im Land ihres Todes herrschte Schweigen. Als hätte es in Oberösterreich nie eine Denisa S?oltísová gegeben.

Ein Jahr, nachdem ich auf die Tote stieß, will ich ihren Fall noch einmal erzählen. Ich erzähle ihn in der Hoffnung, einen Abschluss zu finden, eine Auflösung, ein Ende. Die Hoffnung ist leise.

Ich kannte Denisa Soltísová nicht und hätte sie wohl nie kennengelernt. Sie starb mit 29. Sie war Beamtin beim slowakischen Sozialamt gewesen, per Fernstudium hatte sie es zu einem akademischen Grad gebracht. Sie hatte zehn Jahre denselben Freund. Bekannte beschrieben diese Beziehung als „sportlich“, man trennte und versöhnte sich häufig. Denisa Soltísová führte das Leben der slowakischen Mittelschicht. Sie hinterließ eine kleine Eigentumswohnung, etliche Sparbücher, Vorsorgefonds. Beständig, realistisch und konservativ arbeitete sie auf ein Grundstück hin, auf ein Haus, auf eine Familie.

Denisa Soltísová, wohnhaft in der mittelslowakischen Bezirkshauptstadt Rimavská Sobota, wurde zuletzt lebend gesehen, als sie in der Nacht des 19. Jänner 2008 durch die oberösterreichische Bezirkshauptstadt Vöcklabruck irrte, in Unterwäsche und ohne Schuhe. Eine Nachbarin hatte sie gesehen. Es war an einem späten Samstagabend, berichtete mir die sympathische Jungmutter, Denisa Soltísová ging in nächster Nähe an ihr vorbei. Die Pflegerin habe einen verwirrten Eindruck gemacht. Die Vöcklabruckerin hatte ein schlechtes Gewissen, sie hatte Denisa auf der engen Wohnstraße nicht angesprochen. „I hab ja gar nix gwusst“, rechtfertigte sie sich, „i hab net gwusst, hat sie si mit an Freind troffen oder was.“ Der Gedanke, Slowakinnen würden ausgezogen und verstört durch die Winternacht irren, wenn sie einen Freund getroffen haben, lässt uns die nationalpsychologischen Vorstellungsweltender 24-Stunden-Pflege bereits erahnen.

Weitere Vöcklabrucker müssen die Ausländerin in jener Winternacht gesehen haben. Niemand meldete sich. Laut Obduktionsbericht hatte Denisa Soltísová noch eine Begegnung, kurz vor ihrem Tod. Blutergüsse an den Unterarmen deuteten darauf hin, dass sie sich gegen jemanden wehrte. „Die Entstehung von Unterhautblutergüssen mit solchem Charakter und Grad, Zusammendrücken der weichen Gewebe der Haut und der Unterhautschicht, verlangt eine Gewalt von größerer Intensität. Die Blutergüsse auf der Innenseite der Oberschenkel imitieren offensichtlicheine sexuelle Motivation mit Druck der Fingerund mit Auseinanderziehen der Oberschenkel.“ Die junge Frau war zehn Tage abgängig. Am 29. Jänner 2008 fand man die Leiche in der Ager. Das war um 15 Uhr 40, um 20 Uhr 40 gab sie der Staatsanwalt zur Beerdigung frei. Am 7. Februar wurde sie in der slowakischen Stadt Martin obduziert. Außer dem Hinweis auf einen „physischen Konflikt“ lieferte die Obduktion eine mögliche Erklärung dafür, dass die Slowakin in der letzten Woche ihres Lebens Anzeichen von Verwirrung zeigte.

Laut Obduktionsbericht muss Denisa Soltísová über Wochen oder Monate den blutzuckersenkenden Wirkstoff Glibornurid und das Gichtmedikament Sulfinpyrason eingenommen haben – Medikamente gegen Krankheiten, an denen sie nicht litt. Sie hätte sich diese Medikamente kaum selbst beschaffen können, Sulfinpyrason ist in Österreich nicht verfügbar, Glibornurid nicht in der Slowakei. Miteinander kombiniert, haben die beiden Medikamente eine verheerende Wirkung.

Wie der Gutachter erläuterte, „potenzierte sich die hypoglykämische Wirkung des Glibornurids auch in Folge des herabgesetzten Blutdurchflusses durch die Niere (Wirkung von Sulfinpyrason), was bereits zu demim Sachverständigengutachten beschriebenen Zustand führen konnte (Desorientation, Verwirrtheit, Bewegungsstörungen, Sprachstörungen, Simulation von psychischen Erkrankungen/Schizophrenie). Die Feststellungdieser zwei Medikamente und deren gegenseitige Wirkung könnte eben die unbegreifliche Handlung der Genannten erklären, als sie nur in Unterwäsche auf der Straße unterwegs war.“

Das Obduktionsergebnis, das in der Slowakei eine Mordermittlung auslöste, lag seit März 2008 auch den oberösterreichischen Behörden als Zusammenfassung vor. Der Ermittler, der den Fall in Oberösterreich geschlossen hatte, blieb mit Denisa ?oltísová betraut, bis heute wird die Tote unter „Abgängigkeit Volljähriger“ geführt. Äußerer Druck führte vereinzelt dazu, dass der Ermittler zu Zeugenbefragungen ausrückte. Dieoberösterreichische Generallinie war jedoch, dass man auf die offizielle Übersetzung des Obduktionsgutachtens aus dem Slowakischen wartete. Man wartete über ein Jahr, bis April 2009.

Im Juli 2008 brach ich auf. Die Welten der Pflegenden und der Gepflegten lagen 700 Kilometer auseinander. Die Einkommen in Oberösterreich betrugen das Vierfache von Denisas mittelslowakischer Heimatregion Gemer. Fortwährend pendelten vorbestellte Autos zwischen Ost und West, gefüllt mit Pflegerinnen. Ich fandDenisas Eltern in einemHochland von Gemer,nur über langwierigeSerpentinen zu erreichen. Es war ein altesLand aus Laubwäldern und Weiden, mit alten Dörfern. Die Weißenhatten das Hochlandmehr und mehr verlassen. Ein vor den Augen der Welt verborgener Roma-Staat hatte sichentwickelt, altertümlich, bukolisch, langsam, arm.Denisas Eltern, ein bürgerliches Paar, lebten im letzten weißen Dorf. Sie glaubten nicht, dass Denisa Selbstmord begangen hatte, ebenso wenig wie ihre Freunde. Die Familie, in deren Haus Denisa anderthalb Jahre gelebt und gearbeitet hatte, habe nicht einmal Beileid bekundet, sagte der Vater. Die Tochter habe in Österreich „nur ihr Deutsch verbessern wollen“, sagte die Mutter. Denisa habe sich bereits in der Slowakei um Jobs beworben. Es sei ihr letzter 14-Tage-Turnus gewesen. Sie habe nur noch drei Tage bis zu ihrer endgültigen Rückkehr gehabt. „Sie wollte in die Slowakei zurückkehren.“

Ich fuhr nach Vöcklabruck. Denisas Pflegefall, ein weithin respektierter ehemaliger Primar, lag inzwischen im Sterben. Seine 85- jährige Gattin, Denisas Arbeitgeberin, beschäftigte einen ganzen Kreis von Personen für Dienstleistungen; sie strich ihre Großzügigkeit heraus. Ich fragte sie, warum sie der Familie ihrer toten Pflegerin nicht kondoliert habe. Sie antwortete: „Darauf habe ich gar nicht gedacht.“

Denisa habe nicht verkraftet, dass ihr slowakischer Freund sie verlassen habe, erklärte die agile Hausherrin. Wenn ich von den Spuren einer Gewalttat sprach, hatte niemand in Vöcklabruck davon gehört. Die Frau des sterbenden Primars erschrak kurz, fragte aber nicht nach. Kurz darauf redete sie wieder so, als wäre der Selbstmord erwiesen. Eine Nachbarin reagierte ähnlich und deutete in aller Freundlichkeit an, „dass die Eltern vielleicht was außerhaun wollen“.

Im August 2008 schrieb ich im „Spectrum“über den Fall, der Name Denisa Soltísová war damit erstmals in Österreich genannt. Der Residenz Verlag schlug mir vor, ein Buch über den Fall zu schreiben. Ich halte mich sonst von Kriminalfällen fern, sagte aber Ja. Ich hatte schon einige Jahre außerhalb Österreichs gelebt, in der Ukraine, fünf Jahre in der Slowakei, inzwischen auch in Brüssel. Nun sollte mich Österreich zu sich zurückziehen, das Österreichische sog mich tiefer denn je in sich hinein.

Im September 2008 begann ich, den Menschen zu suchen, der schuld war an Denisas Tod. Ich ging davon aus, dass es sich um zwei Fälle handeln konnte. Die versuchte Vergewaltigung konnte jeder begangen haben. Anders die Medikamente, zu diesen hatte nur ein eingeschränkter Kreis Zugang. Ich durfte nicht ausschließen, dass sie freiwillig Medikamente nahm, gegen Schmerzenoder gegen ein plötzlich auftretendes psychisches Problem. Wieso aber hätte sie zu zwei Medikamenten greifen sollen, die gegen ihre möglichen Probleme nicht halfen, die niemand im Haus ihrer Arbeitgeber verschrieben hatte und die weder in Österreich noch in der Slowakei einfach zu bekommen waren? Wieso hätte sie zu dieser verheerenden Kombination greifen sollen? Wenn man ihr die Medikamente nicht einflößte, wer hätte sie ihr besorgt und gegeben, wer hätte sie ihr einzureden vermocht?

Ich bekam die Akten und Zeugenaussagen,sowohl der slowakischen als auch der österreichischen Polizei. Ich reiste nach Osten, zum Dreißigerfest der Toten, das auf einem mittelslowakischen Friedhof endete; ich lernte ihre Freunde und ihren Exfreund kennen, ihr Milieu. Ich reiste nach Westen, zu den oberösterreichischen Wohlstandsbürgern, die um ein würdevolles Sterben in den eigenen vier Wänden ringen. Ich verfolgte, wie der sprichwörtliche Gärtner ins Visier geriet. Ich freundete mich mit einigen Roma des Gemer-Hochlands an und feierte Silvester mit ihnen, eine erschütternde bitterkalte Nacht lang. Ich forschte bis zur Jahreswende 08/09. Nach und nach lernte ich alle nennenswerten Verdächtigen kennen. Wenn die Klärung des ungeklärten Falls auf Mord lautet, ist mir der Mörder wohl begegnet.

Ich bekam am Tatort sonderbare Antworten. Der leutselige oberösterreichische Wirt, 200 Meter vom Fundort der Leiche ausschenkend, wusste von nichts. Er sagte sofort: „Des is eh net verkehrt, mit de slowakischen Pflegerinnen.“ Er nannte Bekannte, die solche Pflegerinnen gehabt hatten, man sei mit ihnen sehr zufrieden gewesen. Er betonte, er habe nie von der Flussleiche gehört. Er wiederholte, das mit den slowakischen Pflegerinnen, das finde er „net verkehrt“.

Gelegentlich begegnete mir ein Schulterzucken der Art: „Na ja, man hätte halt bei uns obduzieren sollen.“ Hat halt einer einen Fehler gemacht, Fehler passieren, geschenkt. Das eigentlich Entsetzliche lag jedoch nicht in einem einzelnen Versagen, sondern in ei- ner ununterbrochenen Kette des Versagens, welche den Fall Denisa ?oltísová in Oberösterreich bis heute beschreibt.

Das begann mit dem Gemeindearzt, „gut bekannt“ mit den Arbeitgebern der nackten Flussleiche. Er räumte freimütig ein, dass er sich bei der Totenbeschau nicht allein vom Aussehen der Leiche leiten ließ: „Sie hat bei einer Familie gelebt und war ja dort gut aufgehoben.“ Er sagte auch, man finde das immer wieder, dass Selbstmörder nackt ins Wasser gehen, „das haben wir hier schon mehrfach erlebt in Vöcklabruck“.

Daraufhin der Ermittler und der Staatsanwalt, Fall geschlossen. Nach Eingang der slowakischen Obduktionsergebnisse schworsich der Sicherheitsdirektor persönlich auf Selbstmord ein. Der Ermittler wurde nicht ausgetauscht, er suchte den Selbstmord zu beweisen. Er verschonte die hoch angesehene Familie des inzwischen verstorbenen Primars, bis in den Herbst 2008 hinein. Die Hauptzeugin, Denisas betagte Arbeitgeberin, wurde erst gegen Weihnachten vernommen, nach fast einem Jahr. Ein Verdächtiger erzählte mir, der Ermittler habe ihm geraten, mich zu klagen.

Dann das nächste Versagen, im Justizministerium, die Übersetzung des Obduktionsberichts wurde bis April 2009 verschleppt. Als die Übersetzung endlich vorlag, begann man den Obduktionsbericht in Zweifel zu ziehen. Die Analyse eines viel beschäftigten Linzer Gerichtsmediziners musste her, diese Analyse dauert. Der Linzer Gerichtsmediziner verlangt aus der Slowakei Proben und ein „detailliertes toxikologisches Gutachten“.

Am meisten überraschte mich, dass sich oberösterreichische Medien an der Vertuschung des Verbrechens beteiligten. Im August 2008 interviewte mich eine Redakteurin der Fernsehnachrichten „Zeit im Bild“ ausgiebig zum Thema. Sie sagte dann, sie müsse das Thema an das Landesstudio Oberösterreich abgeben, dort verschwand es. Die „Oberösterreichischen Nachrichten“ berichteten ein Jahr lang gar nicht und bezeichneten ihre Berichterstattung dann als „exklusiv“. Kein oberösterreichischer Journalist interessierte sich je für die slowakische Seite, die Sprachregelung der eigenen Behörden wurde übernommen. Meistens schrieb man nichts.

Im März 2009 kam mein Buch heraus. Das Schweigen in Oberösterreich wurde dröhnend. Überall sonst wurde das Buch auf die übliche Weise angenommen, nur
in Oberösterreich wollte mich niemandsprechen. Kein regionales Medium berichtete. Allein die „Krone“ schrieb – und die „Krone“ schoss. Noch nie ist es mir gelungen, einem Ausländer zu erklären,was die „Krone“ für Österreicher bedeutet. Reine Natur, liebe Hunderln, saubere Blondinen. Der Kanzler ihr Protegé, der Kardinal ihr Kolumnist. Unser Wasser geben wirnicht her, und bitte wieder Grenzen gegen jene, die der Hausdichter „Ostgesindel“ nennt. Im März 2009 begann mich die „Krone“ mit drohendem Unterton anzugreifen: „Unsere angepatzte Polizei will nun Druck auf ihren Kritiker machen.“

Das führte mich zurück in meine Studentenzeit, in Stiegenhäuser des Wiener Bezirks Favoriten. In einem dieser Stiegenhäuser roch es immer nach einem großen kranken Hund, vor einer Wohnungstür war die Fußmatte angekettet. Ich würde mich an diese Stiegenhäuser nicht erinnern, hätte ich damals nicht die „Krone“ ausgetragen. Meine Kollegen waren Araber und Sikhs, wir arbeiteten bei Nacht. In den Liften las ich die Zeitung.

Ich lese die „Krone“ auch heute. Als Auslandsösterreicher will ich wissen, was mein Land spürt. Im April 2009 verschärfte die Zeitung den Ton gegen mich: „Es drohen bis zu zwei Jahre Haft.“ In dem Artikel wurde Denisa Soltísovás Tod ein Selbstmord genannt, gleichzeitig warf man mir vor, den Mörder dieser Selbstmörderin zu kennen und zu decken. Das war falsch, ich hatte mich im Buch auf keinen Täter festlegen können.

Der Sprecher der Sicherheitsdirektion machte sich in der „Krone“ über mich lustig: „Man kann immer die Fantasie spielen lassen – bis hin zu Mordtheorien und Außerirdischen.“ Das wäre nicht weiter schlimm gewesen, hätte die oberösterreichische „Krone“ in diesen Artikeln nicht auch die Verstorbene verhöhnt. Sie wurde eine „Roma-Slowakin“ „mit Liebeskummer“ genannt, eine „Roma-Magistra“, die sich „aus Liebeskummer“ „ertränkt hat“. Denisa Soltísová war weiß, sie war ethnisch Slowakin. Eine Zigeunerin aus ihr zu machen war offenbar ein Kalkül mit Ressentiments. Slowakin war wohl nicht genug. In jenen Wochen, als aus einer namenlosen eine verhöhnte Tote wurde, stand ich in Oberösterreich allein gegen die „Krone“. Meine Familie wohnt im westlichen Niederösterreich, dort wird seit je die Oberösterreich-„Krone“ verkauft und gelesen. Meine Schwester bekam einen besorgten Anruf, ob ich wirklich einsitzen muss.

Die oberösterreichische Öffentlichkeit blieb mir versperrt, also lud ich mich selbst nach Vöcklabruck ein. Ich fühlte mich beklommen, als ich im April 2009 den Keller einer Buchhandlung betrat. Der Saal war gut gefüllt. Die Veranstaltung verlief aber würdig, die Vöcklabrucker Zuhörer reagierten mit aufrichtigem Erschrecken.

Zwei Zeugen, die von der Polizei nicht oder nicht ausreichend gehört worden waren, meldeten sich mutig zu Wort. Darunter befand sich der Mann, der die Leiche gefunden hatte, ein Bauleiter und ausgezeichneter Kenner des Flusses. Er äußerte Zweifel, dass die Leiche an der Fundstelle angeschwemmt worden sein konnte, die Fließrichtung habe für die andere Seite des Flusses gesprochen. Der bewegende Abend zeigte mir ein anderes Vöcklabruck, aber wieder war kein regionales Medium gekommen. Der Korrespondent einer Schweizer Tageszeitung war da, aus Oberösterreich nicht einmal das Bezirksblatt.

Ich wollte den Journalisten kennenlernen, der mit seinen drohenden und höhnenden Artikeln definierte, wer Denisa Soltísová für den durchschnittlichen Oberösterreicher war. Ich erfuhr, dass es sich um den stellvertretenden Chefredakteur der Oberösterreich-„Krone“ handelte, nebenbei um das liebende Herrchen eines Boxers. Ich schlug ihm ein Kennenlernen vor. Ich fragte sehr höflich an. Er weigerte sich.

Im Mai 2009 war plötzlich etwas anders. Plötzlich rissen sich alle österreichischen Medien um den Fall, die Zeitungen, das Fernsehen. Eine Anfrage im Nationalrat wurde eingebracht, von einer Wiener Grünen, die mitregierenden oberösterreichischen Grünen schweigen. Im Mai wurde erstmals „die Leib-und-Leben-Gruppe beigezogen“. Denisa Soltísová wird aber weiterhin von der Abteilung „Abgängigkeit Volljähriger“ betreut. Staatsanwaltschaft und Polizei beharren weiterhin auf ihren Ausflüchten.

Jetzt ist Juni, es ist schon wieder ziemlich still. Das aus Gefälligkeiten und Feigheit gestrickte Machtgewebe, als das ich das behördlich-politisch-mediale Oberösterreich kennenlerne, hält dicht. Ich habe mein Jahr mit der unbekannten Toten erzählt, und ich sehne mich nach einem Ende. Ich will nicht mehr über Denisa Soltísová schreiben müssen.

Dann aber bekomme ich diese Anrufe. Es sind Anrufe von Bürgern Oberösterreichs, immer in das Gewand des Zuspruchs gehüllt, Anrufe aus dem gemischten Gefühlsleben des österreichisch-slowakischen Familiengemäldes, welches die 24-Stunden-Pflege auch ist. Von diesem Gefühlsleben ist nie die Rede, nicht in den Debatten um den legalen Status der ausländischen Pflegerinnen und nicht in den Diskussionen, ob der Tod Denisa Soltísovás nun Mord oder Selbstmord war oder ein beunruhigendes Dazwischen, ein Getriebenwerden in den Fluss.

Die Pflegerinnen werden „wie ein Familienmitglied behandelt“, hallt es aus den Anrufen heraus. Tatsächlich kenne ich Beispiele herzlichster Beziehungen, und doch schickt man so manches Familienmitglied zwischendurch zum Putzen des Pools hinaus. Die slowakischen Pflegerinnen „spionieren für die polnische und ukrainische Mafia unsere Vermögensverhältnisse aus“, sagte mir eine Linzer Dame. „Für unsere alten Leute ist das leider nun einmal so“, hallte es aus dem Telefon, „für die sind das Frauen, mit denen man alles machen kann“. Herzliche Helferinnen, diebische Dienstboten und Huren – all das sind die slowakischen 24-Stunden-Pflegerinnen in der österreichischen Psyche. Ein Anrufer erzählte mir, Denisas Arbeitgeberin habe Angst gehabt, ihr sterbender Mann würde seiner geliebten Denisa etwas vererben.

Juni 2009, es wird schon wieder still. Muss ich weiter und weiter schreiben? Will nicht endlich ein Mensch auftreten, der die Kette des Versagens durchbricht? Es bräuchte eigentlich nicht viel. Ein klein wenig Mut vielleicht. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.06.2009)

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