Einmal kurz, einmal lang

Viel Geld soll investiert werden, um die Bahn ins 21. Jahrhundert zu führen. Auf einer Bahnlinie durch den Wiener Speckgürtel hat noch nicht einmal das 20. Jahrhundert begonnen. Abenteuer Aspangbahn: ein Lokalaugenschein.

Ueber die Fasane muss sich Christoph Mitter immer wieder wundern. Über ihre geradezu selbstmörderische Trägheit. Gelassen bleiben die Vögel auf der Schiene sitzen, wenn Mitters 44 Tonnen schwerer Dieseltriebwagen heranrollt, erst in letzter Sekunde fliegen sie auf. Manchmal zu spät. Dann kleben die Federn zwischen Puffern und dem Logo der Österreichischen Bundesbahnen. Sind die Tiere wirklich so dumm, fragt sich Lokführer Mitter. Oder machen sie das absichtlich?

An Mitters Lieblingsstrecke leben viele Fasane, er kann sie in den Feldern sehen, wenn der Weizen noch grün und niedrig steht. Er kann auch fröhlich plantschende Kinder in den Gärten der neuen Einfamilienhäuser beobachten – oder Senioren, die auf korrekt getrimmten Golfrasen ihren Abschlag perfektionieren. Zeit zum Schauen bleibt immer. Selten kann Mitter seinen Zug beschleunigen, oft muss er sich mit Tempo 40 begnügen. Uralte Schienen und Schwellen lassen keine höhere Geschwindigkeit zu. Gerade die Langsamkeit der Züge verleitet Menschen jedoch dazu, das Risiko falsch einzuschätzen. Hundebesitzer spazieren mit ihren Lieblingen auf dem Bahndamm, Autofahrer queren das Gleis knapp vor dem Zug. Dann kann Mitter einen Zusammenstoß nur durch scharfe Bremsung verhindern. Dieses Verhalten der Anrainer hält er für ähnlich suizidär wie jenes der Fasane.

Wien Südbahnhof (Ostseite) – Maria Lanzendorf – Laxenburg – Guntramsdorf – Traiskirchen – Tattendorf – Felixdorf – Wiener Neustadt: Im Jargon der Eisenbahner heißt die Strecke immer noch „EWA“, die Abkürzung für „Eisenbahn Wien–Aspang“. Ringsherum entstehen neue Betriebe und Siedlungen, Straßen und Lärmschutzwände. Die Südautobahn ist hier achtspurig, das „Industriezentrum Süd“ hat eine eigene Autobahnabfahrt samt Kreisverkehr bekommen, in dessen Zentrum ein Würfel mit dem blau-gelben Niederösterreich-Logo rotiert. Dahinter beginnt das Labyrinth von Zufahrtsstraßen, Lagerhallen und Bürogebäuden. Und mitten durch diesen Speckgürtel der Großstadt dämmert der sogenannte „innere Ast“ der Aspangbahn im Dornröschenschlaf. Man könnte die Strecke auch als lebendiges Industriemuseum bezeichnen, denn im Gegensatz zu anderen Nebenbahnen ist sie keineswegs heruntergekommen. Ihre Bahnhöfe gehören zu den schönsten Österreichs: Schmucke Ziegelbauten im Schatten mächtiger Kastanienbäume, Trinkwasserbrunnen, pittoreske Stellwerkerhäuschen aus Holz. Das Personal verkauft zwar keine Fahrkarten mehr, fertigt aber die Züge ab, gießt Blumen und hat stets Zeit für einen kurzen Plausch mit den Lokführern: „Wie geht's deiner Familie?“ oder „Wie lange hast noch Dienst?“.

Auch die Fahrgäste werden begrüßt und verabschiedet, oft mit Namen. Es sind ja nur wenige, die in der Früh nach Wien und am Abend nach Hause fahren. Steht einer nicht rechtzeitig am Bahnsteig, wartet der Zug ein bisschen länger.

Das sei noch „Eisenbahn, wie sie früher einmal war“, sagen die Bahnbediensteten, obwohl sie die „gute, alte Zeit“ höchstens aus Erzählungen ihrer Väter kennen. Auf der alten Aspangbahn wird an den Geräten aus der Monarchie eine neue Generation Eisenbahner eingeschult. Lokführer Christoph Mitter ist 26 und erst seit Kurzem bei den ÖBB, zuvor reparierte er Kirchenorgeln. Mitter kennt auch die neue Bahn, er führt doppelstöckige Wieselzüge von Wiener Neustadt über die Südbahn nach Wien – und er fährt „gerne schnell. Aber hier auf derAspangbahn, das ist etwas ganz Besonderes.“

Besonders schräg lag diese Bahn immer schon in der Landschaft. Nie sollte sie das sein, was sie schließlich wurde, oft war sie Teil großer, länderübergreifender Projekte, die im Sand verliefen. Am Anfang stand der Plan für einen Wasserweg, auf dem Holz und Kohle aus den Kalkalpen bis an die Adria geschifft werden sollten. Der „Wiener Neustädter Kanal“ wurde nur bis Wien gebaut, eine technische Meisterleistung war er trotzdem, heute ist er als Erholungsgebiet erhalten.

Mitte des 19. Jahrhunderts erkannte die Kanalgesellschaft die Bedeutung des Eisenbahnbaus, holte sich belgisches Kapital und plante eine neue Schienenverbindung durch Südosteuropa, von Wien über den Wechsel nach Kroatien, über Bosnien, den Sandschak und den Kosovo bis nach Griechenland. Die Wirtschaftskrise 1873 ließ das Projekt auf eine 80 Kilometer lange Privatbahn von Wien entlang des Kanals bis Sollenau und weiter nach Aspang schrumpfen. Diese Bahn konnte sehr gut von den Ziegeleien, Webereien und Metallfabriken im Steinfeld leben sowie von einer riesigen Munitionsfabrik der k.u.k. Armee. Es gab auch regen Ausflugsverkehr zum Wechsel und zum Schneeberg. In der Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre wurde sie verstaatlicht und nach dem Krieg von einer Haupt- zur Nebenbahn degradiert. Der riesige Aspangbahnhof in Wien fiel Anfang der 1970er-Jahre der Spitzhacke zum Opfer. An das ursprüngliche Projekt erinnern heute noch Grenzsteine mit den Initialen „WSB“: Wien-Saloniki-Bahn.

Einmal kurz, einmal lang schrillt die Glocke an der Wand. Marsel Zugaj hebt den Telefonhörer ab, nimmt eine Meldung entgegen, schreibt sie in ein Buch: „Drei Wagen auf Trumau, verstanden.“ Dann dreht er an der Kurbel des Fernmeldegeräts, lässt den Klingelton im Nachbarbahnhof ertönen und gibt die Meldung weiter: Ein Güterzug nähert sich. Zugaj setzt die rote Fahrdienstleiterkappe auf und geht hinüber zu einer kleinen Holzhütte unter Kastanienbäumen. Erst greift er zur grauen Kurbel, die über Ketten und Drahtseile mit dem Schranken am nördlichen Ende des Bahnhofs verbunden ist. Mit den ersten zehn Kurbeldrehungen aktiviert er das Läutwerk – „schön langsam, damit die Glockenschläge gleichmäßig klingen“ –, mit 40 weiteren Umdrehungen werden die hölzernen Schlagbäume gesenkt. Danach legt Zugaj Weichen- und Signalhebel um, Ketten rasseln, Drahtzüge singen. Vor dem Bahnhof schwenkt der Signalarm in die Stellung „Freie Fahrt“, im hohen Gras zirpen die Grillen, im Stellwerk riecht es nach Altöl.

Zugaj ist 24 Jahre alt und seit ein paar Monaten Fahrdienstleiter im Bahnhof „Traiskirchen Aspangbahn“. Er bedient hier Gerä- te, die doppelt bis dreimal so alt sind wie er. Das Stellwerk wurde 1912 gebaut. Dennoch lobt er die Verlässlichkeit der alten Mechanik, Probleme gebe es „immer nur mit dem Faxgerät“. Der Dienst des jungen Fahrdienstleiters beginntkurz nach fünf Uhr, bis acht Uhr muss er drei Pendlerzüge nach Wien abfertigen, danach haben er und die ganze Strecke Pause bis kurz vor 13 Uhr. Am Nachmittag fahren vier Züge Richtung Wien und sechs Richtung Wiener Neustadt, oft kommt ein Güterzug dazu. 19.50 Uhr ist Dienstschluss. Samstags läuft der Betrieb nur bis Mittag, an Sonn- und Feiertagen ist die Strecke geschlossen.

Besonders die Vormittage allein im Bahnhof „können schon lang werden“, sagt Zugaj. Dennoch ist er „sehr froh, dass ich hier gelandet bin“. Er kennt die Arbeit in modernen Stellwerken, wo Züge nur noch farbige Striche auf Bildschirmen sind: „Hier muss ich hinaus, auch bei Schnee oder Hagel. Aber dafür kann ich mit den Kollegen reden.“ Unlängst hat ihm eine junge Lokführerin von Laptops auf den Führerständen erzählt, die Fahrbefehle übermitteln. Mit Zugajs Eisenbahnwelt wäre das schwer vereinbar. „Bei uns kommt das sicher nicht so bald“, sagt er und kurbelt an seinem Fernsprecher. Einmal kurz, einmal lang: Der Nachmittagszug aus Wiener Neustadt rollt heran.

Sechs Bahnhöfe mit Personal leisten sich die ÖBB an der knapp 40 Kilometer langen Strecke. Wenn in Guntramsdorf die Güterwagen für das Industriezentrum rangiert werden, hat die junge Fahrdienstleiterin ziemlich viel zu tun. In Oberwaltersdorf hingegen ist der Mann im Bahnhof nur für einen Bahnschranken zuständig. Angeblich soll bald ein Elektromotor die Muskelkraft ersetzen. Sicher ist das nicht.

Pläne für die Modernisierung der Strecke gab es in der Geschichte der Aspangbahn immer wieder, und es gibt sie auch heute. Michael Fröhlich hat sie in der Schublade liegen: Elektrifizierung und neue Gleise sollen Geschwindigkeiten von 120 bis 140 Stundenkilometer erlauben, mit einer neuen Gleisschleife bei Laxenburg könnte eine Schnellbahnlinie ins Zentrum Wiens geschaffen werden. „Aus unserer Sicht hat die Strecke Potenzial“, sagt der Regionalleiter Ostregion in der Personenverkehrs AG der ÖBB: Die Gemeinden entlang der Bahn wachsen, die Straßen nach Wien sind schon jetzt verstopft. Seit ein paar Jahren steige auch die Zahl der Fahrgäste auf der inneren Aspangbahn, allerdings auf bescheidenem Niveau: Derzeit benützen rund 500 Personen täglich die Züge, und Fröhlich glaubt, dass „unser Angebot bis 2020 ausreichend ist“.

Von seinem Büro beim Wiener Westbahnhof kann Fröhlich eine der vielen Großbaustellen der Bahn beobachten: Die Bahnhofshalle wird restauriert, um Bürogebäude und ein Shoppingcenter im Keller erweitert. In dieses und andere Großprojekte investiert der Bund in den kommenden Jahren 3,5 Milliarden Euro. Die Modernisierung der Aspangbahn steht nicht auf der Agenda.

Wie viel würde es kosten, die Strecke auf den Stand des 21. Jahrhunderts zu bringen? Von den ÖBB sind dazu keine Zahlen zu bekommen. Es bleibt die Möglichkeit des Vergleichs: Die gleich lange Strecke entlang des Neusiedler Sees wird gerade um 50 Millionen Euro modernisiert. Das ist viel für die marode Bahn, wenig aber im Vergleich zu den Hunderten Millionen, die das Land Niederösterreich in den Bau neuer Schnellstraßen steckt. Wo die Aspangbahn bei Sollenau in die Südbahn mündet, wird gerade für 80 Millionen Euro eine neue Umfahrungsstraße errichtet. Noch eine niederösterreichische Besonderheit: Hier ist der Landeshauptmann höchstpersönlich für den Straßenbau zuständig und lässt sich keinen Spatenstich entgehen. Der öffentliche Verkehr hingegen gehört zur Agenda eines Landesrates namens Heuras, der sich nebstbei um die Jugend und das Glücksspiel kümmern muss.

Natürlich investiert auch Niederösterreich in den Schienenverkehr: Bahnhöfe werden saniert, Schrankenanlagen und Lärmschutzwände errichtet, neue Züge bestellt. Doch das Geld fließt vor allem in die Westbahn, etwas weniger in die Südbahn. Abseits der Hauptstrecken geht es „langsam voran“, sagt Otfried Knoll. Der Geschäftsführer der Niederösterreichischen Verkehrsorganisations-Gesellschaft (Növog) sieht in der Aspangbahn eine „strategische Bypass-Funktion“ für die überlastete Südbahn, aber für den Ausbau gebe es derzeit noch keine Mittel in den Rahmenplänen der ÖBB. In einem Vorwort zu dem Buch „Die niederösterreichischen Landesbahnen“ betont Knoll die Bedeutung der Regionen im Entscheidungsprozess: Wenn Regionalbahnstrecken attraktiviert werden sollen, „müsste sich die Region aktiv zu ihnen bekennen und bereit sein, Verantwortung zu übernehmen“.

Die Gemeinden im Wiener Becken aber zeigen wenig Interesse an der Aspangbahn. Die Züge sind höchstens Ärgernis, wenn geschlossene Bahnschranken die Straßen blockieren. Fragt man die Bürgermeister von Trumau oder Teesdorf nach der Bedeutung der Bahn, erhält man keine Antwort. In einer vom Museumsverband Pitten herausgegebenen Festschrift zum 125. Geburtstag der Aspangbahn wünscht sich die Bürgermeisterin von Oberwaltersdorf, dass „unsere so vertraute Aspangbahn weiterhin auf Schienen bleibt und aus einer neu entwickelten Identität uns noch lange mit ihrem Brausen und Pfeifen erfreuen wird.“ Aber die Jungfamilien in der Reihenhaussiedlung fahren lieber mit ihren Mittelklassewagen, und in Frank Stronachs bizarrer „Fontana“-Siedlung hat man vom „Bahnhof Oberwaltersdorf“ noch nie gehört.

Als im Juni 2008, während der Fußballeuropameisterschaft, die italienische Mannschaft in der Oberwaltersdorfer Bettfedernfabrik residierte, reiste ein Journalist aus Japan mit der Bahn an. Der Sportreporter hatte den Appell der Veranstalter, doch bitte öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, allzu wörtlich genommen – was ihm ein ganz neues Reiseerlebnis bescherte. Für seine weiteren Fahrten nahm er dann doch das Taxi.

Wann er das letzte Mal mit der Aspangbahn gefahren sei? Tattendorfs Bürgermeister, Dietrich Reinfrank, muss kurz überlegen: Zehn Jahre sei das sicher her. In seiner Gemeinde wecke die Bahn höchstens sentimentale Gefühle, sagt Reinfrank, „benützt wird sie kaum noch“. Tattendorf hat derzeit 1300 Einwohner, in ein paar Jahren sollen es 2000 sein. Kommendes Jahr wird das Projekt „Wohnen für Generationen“ fertiggestellt – eine Reihenhaussiedlung für Senioren im Erdgeschoß und junge Singles im ersten Stock. Im Nachbarort Teesdorf wartet die Ruine der alten Weberei auf den Umbau in ein familienfreundliches „Sonnendorf“. Für die Fahrt zu ihren Wiener Arbeitsstellen würden die Pendler mit der Aspangbahn bis zum Südbahnhof 55 Minuten benötigen, über die Südautobahn sind sie in 25 Minuten in der Stadt. Theoretisch. Im Stau kann die Autofahrt auch eine Stunde oder länger dauern. Viele Pendler würden gern auf die Bahn umsteigen, ist Bürgermeister Reinfrank überzeugt, „aber dafür müsste sie ausgebaut werden“.

Tattendorfs Bahnhof steht mit seinem mächtigen Wasserturm unter Denkmalschutz und diente oft als Filmkulisse. Über viele Jahre versahen hier Vater und Sohn einer bekannten Weinhauerfamilie ihren Dienst. Auch der neue Fahrdienstleiter ist nebenberuflich Winzer, kommt aber aus einem Nachbarort und fährt gern mit dem Motorrad zur Arbeit. Ortsfremde Reisende erkennt Johannes Hanl auf den ersten Blick. Was nicht besonders schwer ist: Meistens tragen sie wallende weiße Gewänder und sind auf dem Weg zum neuen Meditationszentrum. Richtig viel Betrieb herrscht nur, wenn eine Ausflugsgruppe zum Heurigen fährt oder wenn Bahnnostalgiker einen Dampfsonderzug in Betrieb setzen. Dafür sei die Strecke ideal, sagt Fahrdienstleiter Hanl und fragt sich, ob die innere Aspangbahn nicht als historische Linie betrieben werden könnte, mit alten Lokomotiven und Waggons im Planverkehr: „Das würde Besucher aus ganz Europa anlocken.“

Aber das sind Fantastereien, in Wirklichkeit wäre Hanl froh, wenn sein kleiner Bahnhof den Tattendorfer Winzern als Vinothek dienen könnte. Darüber wird wenigstens verhandelt. Auch der Bürgermeister zeigt jetzt Interesse und will „unbedingt“ wieder einmal mit dem Zug fahren. Er hat es seinem vierjährigen Sohn versprochen, der immer so fasziniert den tuckernden, hupenden Dieseltriebwagen nachschaut. Diesen Sommer soll es so weit sein, sagt Dietrich Reinfrank: „Da werden wir uns ein kleines Abenteuer leisten.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.06.2009)

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