Was war (und immer noch ist)

�sterreich, Wachau, Donauuferbahn
�sterreich, Wachau, Donauuferbahn(c) www.BilderBox.com (www.BilderBox.com)
  • Drucken

Es werden täglich mehr: die „geringfügig Beschäftigten“, die „Unqualifizierten“, die sich abkämpfenden „Ich-AGs“, das „Prekariat“. Über die 1930er, die Studie zu den „Arbeitslosen von Marienthal“ – und was wir heute davon lernen können. Eine Begegnung, 20 Bahnminuten von Wien entfernt.

Die vollkommene Gleichgültigkeit, mit der der Portier des Werks über die Ein- und Ausgehenden redete: als seien es einfach zu viele. Drinnen im Werk schien die Atmosphäre gelöst, aber auf den zweiten Blick herrschte die vollkommene Despotie. Die Scherze, welche die Arbeiter untereinander austauschten, waren ausnahmslos Drohungen oder die Zitate von Drohungen: Selbst im Spaß ging es einzig um Hinauswurf, Entlassung, Wegschicken (und der Spaß konnte im nächsten Moment Ernst werden).“ (Peter Handke, 1980)

Wie ein Gegenbild blitzte meine Erinnerung an einen Sommer auf, in dem ich am Bau gearbeitet hatte. Ein Hilfsarbeiter, der den Maurern Ziegel und Mörtel auf das Gerüst karrte und zur Jause Wurstsemmeln und Bier holte. Die Maurer waren die Herren. Als die Gattin des Bauherrn vorbeischaute, sagte einer, da (in die Kaminwand) haben wir eine Katze eingemauert, und die Frau wurde hysterisch. Das war 1969, in einem der Endjahre des „GoldenenZeitalters“, wie Eric Hobsbawm die Phase kontinuierlichen Wirtschaftswachstums bei Vollbeschäftigung, Lohnanstieg und kürzeren Arbeitszeiten bezeichnete. Bereits 1980 war das Geschichte.

Das zeigt auch ein Buch, das André Gorz 1980 zur Verschärfung der Arbeitsverhältnisseschrieb. „Arbeit ist nicht mehr eine dem Arbeiter eigentümliche Tätigkeit. In der Fabrik oder im Dienstleistungssektor ist sie überwiegend eine passive, vorprogrammierte, einem Apparat dienliche und dienstbare, jede persönliche Initiative ausschließende Aktivität.“ Und: „Die wissenschaftliche Organisation und schließlich die Automatisierung haben mit seinen Berufen auch den Facharbeiter selbst beseitigt, der stolz war auf eine gut ausgeführte Arbeit und zugleich ein ausgeprägtes Bewusstsein von seiner praktischen Souveränität besaß.“

Das fiel mir ein, als mir Linda Bilda von ihrer Kunstaktion in Marienthal erzählte, das durch die sozialwissenschaftliche Untersuchung von Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel „Die Arbeitslosen von Marienthal“ (1933) zum Fallbeispiel für Massenarbeitslosigkeit schlechthin geworden ist. Ich hatte die Studie gelesen, war aber nie in Marienthal gewesen. Es lag als Drama plötzlicher Massenkündigung irgendwo im tiefen Land der Dreißigerjahre des 20. Jahrhunderts.

Erstaunen, als ich vom Hauptbahnhof Wien mit der S-Bahn in 20 Minuten in Gramatneusiedl war, von dessen Bahnhof ich nach 20 Minuten Gehen – entlang einer Landstraße mit dichtem Verkehr wie in so vielen Orten „am Land“ – im Zentrum der ehemaligen Arbeiterkolonie war. Der heftigste Eindruck beim Gehen war der einer Katze, die präzis in einer Lücke der Autokette wie unbekümmert die Straße querte. Im Museum, das, als die Arbeiterkolonie florierte, der Raum der Konsumgenossenschaft war, ein eigenes Gebäude, beinah wie das Gegenstück zu einer Kapelle, frappierte mich die an die Frontwand applizierte Ansicht der – längst abgerissenen – Fabrik, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert eine der größten Textilfabriken in Kontinentaleuropa gewesen war, ein gewaltiger Komplex: Spinnerei, Weberei, Bleiche, Appretur, Färberei, Druckerei, Wäscherei, Schmiede, Schlosserei, Eisendreherei, Tischlerei, Zimmerei. Die fabrikeigenenWohnhäuser, der Konsumverein, Fabrikspital mitApotheke, Badeanlage, Totenhaus, Fabrikgasthaus mit Tanz- und Theatersaal, Gewächshäuser, ein Musikpavillon mit Kegelbahn, eine Schrebergartenkolonie.

Auf dem Weg zum Museum hatte ich wenige der ehemals vorhandenen Gebäude gesehen, das meiste war beseitigt: destruktives 20. Jahrhundert, Erster Weltkrieg, schwere Krise, Faschismus/Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg, ignoranter „Wiederaufbau“. Marienthal wirkte entkernt (wie die Miniatur zerbombter Städte, die unter der Doktrin der „aufgelockerten, entmischten und autogerechten Stadt“ „wiederaufgebaut“ worden waren). Im Museum dichte Bilder der Geschichte. Hinweise auf die Kämpfe zur Milderung der Härte der Arbeit und zur Durchsetzung von Rechten, die ein Leben jenseits der Arbeit erst ermöglichten. DieErinnerung an die Vielzahl der Vereine: ein Krankenverein mit Krankenkasse, der Konsumverein, die „Dilettanten-Bühne“, der Arbeiterturnverein, der Männergesangsverein, der „Arbeiter-Radfahr-Verein“, die „Freiwillige Betriebsfeuerwehr“, der „Athleten-Club Alice“, der „Volksbildungs-Verein Fortschritt“, die „Arbeiter Fußballriege“. Dicht gehängte Fotos der Arbeiterkultur in Alltag und Fest, Lernen und Vergnügen, nicht ohne Übernahme bürgerlicher Werte (die nie das Eigentum einer Klasse waren), aber im Stolz (emblematisch die Trachten der aus Mähren Zugewanderten) und Eigensinn einer eigenständigen „Klasse“. Ein Lebensgelände, das jenem in den berühmten Gemeindebauten des Roten Wien der Zwanzigerjahre um nichts nachstand.

„Es gab eine Arbeiterkultur, eine Arbeiterethik und eine Arbeitertradition mit eigener Autonomie und eigenen Werten. Einmal an der Spitze der Arbeiterhierarchie, brauchte man die bürgerliche Hierarchie um nichts zu beneiden. Im Gegenteil, man war Repräsentant einer eigenständigen Kultur und stand dem Repräsentanten der Bourgeoisie als Gleicher gegenüber, stolz und entschlossen, mit ihm in der Produktion nur insoweit zusammenzuarbeiten, als er mit einemselbst zusammenarbeitete, als er Überlegenheit und Souveränität des Spezialisten anerkannte.“ So André Gorz. Ein letztes Mal, bereits im Niedergang, hatte ich dies 1969 am Bau erlebt.

Aber bereits Anfang der Dreißigerjahre (Geschichte kommt und geht in Wellen,scheint es, während sie auch das Ergebnis von Kämpfen, Siegen und Niederlagen ist) wusste ein im Museum repräsentierter Arbeitsloser von Marienthal: „Man hat in fremden Ländern Fabriken aufgemacht, und unsere Arbeit braucht man nicht mehr.“ Die Begründung der plötzlichen Massenkündigung weist – nicht wie von einem fernen Stern – in Gegenwart und Zukunft. Dabei war die unmittelbare Ursache der Liquidierung eine missglückte Bankenspekulation.

Im Juni 1929 wurde die Spinnerei geschlossen, im August die Druckerei, im Februar 1930 die Weberei. Wenige Tage später begannen „unter großer Erregung“ die Arbeiten zum Abbruch der Gebäude (durch den noch nicht gekündigten Belegschaftsteil: So teilt man die Belegschaft). „Von ihren Fenstern sehen die Arbeiter auf ihrer früheren Arbeitsstätte Schuttfelder, verbeulte Kessel, alte Transmissionsräder und halb verfallenes Mauerwerk“, hielten Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel fest. Die Identifikation mit dem Aggressor vollzog sich tief persönlich: „Die Leute verlieren allmählich ihre Berufs- und Arbeitstradition: Sie empfinden ,Arbeitslossein‘ bereits als einen eigenen Berufsstand.“

Vor dem Museum (der ehemaligen Konsumgenossenschaft, die nichts mehr anzubieten hatte, das leistbar war) ein von Linda Bilda errichteter Tisch, ein an diesem Tatort fast befremdlich schönes Objekt (aber gleich dahinter beginnt die Zeile der nach wie vor hoch ästhetischen und vorbildlich restaurierten Werkswohnungen). Wieder – diesmal im Außenraum – ein Innehalten und Schauen. Die Tischplatte ist zweifach funktionell, Ablagemöglichkeit und zugleich wetterfester Stadtführer, der die Orte von Bildas Rauminterventionen zeigt, intensive Punktationen im weitläufigen Gelände, in leuchtendem und zugleich transparentem „LightGlass“ gearbeitet: ein Stoffmuster aus der Produktion der verschwundenen Textilfabrik am Fluss, die wie die Arbeit die Quelle desReichtums war, irisierend im Wasser; die elegante Gestalt des Fabrikdirektors Todesco, der die Fabrik nach vorn brachte, ein Patron, der im Rahmen, den Linda Bildazeigt, auch ein Mäzen war; ein befremdlich schönes Bild im Fenster eines der noch existierenden Arbeiterwohnhäuser, in dem jetzt Modernisierungsverlierer wohnen; dann Bilder in einer explodierenden Baumblüte, wie die Manifestation der Heterotopie des Gartens (Michel Foucault), der auch ein Selbstversorgergarten für Arbeiterfamilien sein kann: subtil und präzis gezeichnete Allegorien, Wachrufungender Vielfalt dessen, was war (und immer noch ist, wieder ist, sein wird).

Jedes dieser poetischen Zeichen ist ein Statement zur verschwundenen, ausgelöschten und dennoch vielleicht nicht nur in der Erinnerung (im Museum) noch immer vorhandenen, untergründig arbeitenden und vielleicht einmal, vielleicht sogar plötzlich und (für nicht wenige) unverhofft wiederkehrenden Geschichte, eine Variation und Neuschrift der Erzählung: Es war einmal . . . Ein Dialog mit dem, was war, was verschwunden ist, was überliefert ist, was vergessen ist, was ist; und, weiter im Dialog, der aber zugleich eine Herausforderung, eine Hervorrufung ist: dessen, was sein wird, und dessen, was anzustreben ist. Gleich und unverrückbar in Grundsätzen und Prinzipien und zugleich anders als das, was war.

„Die Nicht-Klasse der Nicht-Arbeiter umfasst die Gesamtheit der aus der Produktion durch den Prozess der Arbeitsvernichtung Ausgestoßenen oder der in ihren Fähigkeiten durch die Industrialisierung der intellektuellen Tätigkeit (Automation und Informatik) Unterbeschäftigten. Sie umfasst die Gesamtheit der Überzähligen der gesellschaftlichen Produktion: gegenwärtig und virtuell, permanent und zeitweilig, total und partiell Arbeitslose.“ ( André Gorz)

Es werden mehr – die tendenziell nicht mehr Arbeitsfähigen, die „geringfügig Beschäftigten“, das „Prekariat“, die besonders gefährdeten Alleinerzieher und Alleinerzieherinnen, die „Unqualifizierten“, die sich abkämpfenden „Ich-AGs“, und vielleicht nimmt unter ihnen und auch den anderen, die noch „stabil beschäftigt“ sind, die Einsicht zu, dass man Arbeit nicht haben kann (wie man in Wien bis vor Kurzem eine Wohnung hatte), dass ein Recht auf Arbeit nicht existiert. Man kann sich Arbeit(haben) nur begrenzt erarbeiten.

Die Sozialgeschichte (wenn man die sozialen Kämpfe so nennen kann) ist nicht am Ende. Der Zyklus der Arbeit, der nach der großen Krise, dem Terror des Faschismus und des Nationalsozialismus und dem Krieg im „Wiederaufbau“ noch einmal einen, zunächst fast humanen Wiederaufschwung nahm, hat sich wiederum erschöpft. Womöglich nachhaltiger denn je.

Auf der Frontseite von Linda Bildas Plakazin (eine im Museum affichierte, dichte Packung aus Plakat und Magazin), dessen Thema der Arbeitsfluss ist, sitzt, liegt, döst, träumt (?) eine Katze. Katzen sind präfiguriert, keine Rudel und Rudelführer anzuerkennen. Man kann mit ihnen nicht beliebig spielen. Und gelegentlich sind sie sprungbereit. Die Katze des Plakazins steht (liegt, döst, träumt) für diejenigen im äußersten Widerspruch zum Arbeitsfluss, für die Arbeit nur ein hektisches Tun sein kann. Aber die (dösende, träumende, wartende) Katze den Arbeitslosen zuzuordnen wäre grundfalsch – wie die nicht seltene Meinung: Sie liegen auf der faulen Haut. Die Katze zeigt ein Potenzial, das ebenso real wie utopisch ist: die in eigenen Rhythmen und selbstverantwortlichen Entscheidungen Sinnhaftigkeit, gesellschaftliche (undökologische) Verantwortung und ein Ensemble von Fähigkeiten fordernde (und gebende) Arbeit. Die Möglichkeit (und Notwendigkeit) eines neuen Arbeitsflusses jenseits von Überlastung und der Angst: „Arbeit ist knapp, gleich bist du sie los.“ Nicht nur in Kunst und Design, Forschung und Entwicklung, der sogenannten „creative class“, sondern in allen Feldern.

In Marienthal hat sich ein Ereignis der komplexen Geschichte des 20. Jahrhunderts durch die Studie von Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel zu einem Mythos verdichtet, der als Warnung für überall figuriert, während der konkrete Ort durch kontinuierliche Interventionen (das Engagement von Reinhard Müller, die Gemeindepolitik, das niederösterreichische Kunst-im-öffentlichen-Raum-Programm und vieles andere, von dem ich nichts weiß) wieder zu einer Identität gefunden hat, ein Leben nach der Krise. Die Erinnerungskultur ist eine der besonderen Stärken dieses Ortes. Wege, beinahe Pfade, entlang derer, unverhofft und umso schöner, Linda Bildas Rauminterventionen blitzen. Nichts verhüllend, nichts verdeckend, durchlässig, Farben und Schatten werfend, wie Juwelen.

Ich lümmelte mich auf Linda Bildas Bank vor dem Kriegerdenkmal, die anders als die mir bekannten Bänke vor Kriegerdenkmälern ist: der Heroisierung der Geschichte abgewandt. Im Blick auf die Durchzugsstraße, die die Katze überquerte, die nicht überfahren wurde, hörte ich John Lennons „Working Class Hero“ und trank ein Bier, wie am Bau vor bald 50 Jahren. Zurück in Wien, dessen Erinnerungskultur fragmentiert ist – wie die in den Asphalt oder Beton der Gehsteige mancher Straßen und Gassen eingelassenen Trittsteine zur Erinnerung an die deportierten und ermordeten Juden – las ich: „Müßiggang ist aller Laster Anfang, aller Tugenden Krönung“ (Franz Kafka). ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.03.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.