Wachsen, Woche für Woche

"Das ist der kommende Wald", sagte der Sepp-Onkel.Adenis / laif / picturedesk.com
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Was Weisheit ist, das erfahre ich auf dem Küchenfenster meiner Altbauwohnung. Dort steht eine kleine Pflanze in einem Blumentopf: ein junger Ahornbaum, zum Gedenken an meinen Mühlviertler Großonkel. – Aus den letzten Texten.

In meiner Wohnung, einem Altbau auf der Wiedner Hauptstraße in Wien-Margareten, steht auf einem etwas verborgenen Platz im Schlafzimmer auf einer schwarzen Holzscheibe ein weißer Totenkopf. Ich werde von ihm täglich, wenn ich ihn anschaue, an meine Abberufbarkeit aus dem Leben gemahnt. Wenn ich meine Hand auf diesen Schädel lege, fühle ich an ihm die niedrige Temperatur des Knochens. Fordert er mich, den über Neunzigjährigen, damit auch auf, weise zu sein, „kühlen Kopf“ zu bewahren? Und ist kühle Besonnenheit ein Merkmal von Weisheit, wie auch Anteilnahme und die Wärme des Mitgefühls zur Weisheit gehören?

Martin Heidegger nannte „Gelassenheit“ einen Begleitmantel von Weisheit. Gelassenheit lässt sich ja nur durch ein Einverständnis mit der Endlichkeit gewinnen. Bin ich da auf dem richtigen Weg? Führt Todesvergegenwärtigung zu Weisheit? Lässt sich überhaupt ein allgemeines Verständnis von Weisheit gewinnen? Oder hat der „flexible Mensch“ des 21. Jahrhunderts aus den vielen Wandlungsprozessen seiner Zeit heraus gute Aussichten, so etwas wie eine „bewegliche“ Weisheit statt einer voll und ganz durchformulierten zu finden?

Man kann jedenfalls von vielen Seiten des Forschens und Beobachtens aus in den Bereich der Weisheit vordringen: So bemühten sich Robert Sternberg und Jennifer Jordan in den USA um einen historischen und psychologischen Sammelband zu dem Thema („A Handbook of Wisdom“). Die deutsche Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann legte 1991 eine geradezu enzyklopädische Sammlung von Einzeluntersuchungen und Fachbeiträgen über Weisheit vor. Dadurch wurde ein umfassendes Werk der Orientierung geschaffen, ein Nachschlagewerk zum Thema mit vielen Qualitäten, das bis heute aktuell ist.

Dieser geisteswissenschaftliche Ansatz entstand neben dem von Paul B. Baltes aus der kognitiven Psychologie entwickelten Orientierungskonzept, dem SOC-Modell (Selection, Opportunity, Compensation) für experimentell-empirische Forschung, das sich bald international ausbreitete. Dieses Modell zeigt, dass für die Entwicklung von Weisheit eine Vorauswahl, weiters die richtige Gelegenheit und eine Kompensation für zurückgestelltes Verhalten gefunden werden müssen.

Meine Ausführungen haben allerdings nicht das Ziel, einen Leitfaden zur Lebensberatung zu bieten. Sie wollen vielmehr das Nachdenken über Weisheit als Grundlage fördern: „Der Weise höre und vermehre sein Wissen“ (Altes Testament, Sprichwörter I,5). Ich sehe in der Weisheit in all dem Betrieb und Getümmel unserer heutigen Konsumwelt und den konkurrierenden politischen Angeboten eine Orientierungskraft. Sie kann dann wirksam werden, wenn sie keineswegs nur aus Traditionen oder Riten, sondern aus jeweils aktuellen Suchprozessen heraus neu entworfen wird. Dabei sind wissenschaftliche Erkenntnisse in Kernbeständen durchaus in meine heutige Weisheitssuche integrierbar, stellen aber keineswegs die notwendigen erkenntnismäßigen oder handlungsorientierenden Grundlagen für die Weisheit dar. Ich sehe diese Grundlagen vielmehr in der eigenen weisheitlichen Reflexion über Lebens- und Sozialprozesse, verarbeitet zu einer Selbstanalyse. Weisheit ist für mich ein unüberholbarer, von der inneren Überzeugung, auch von religiösem Bekenntnis getragener Einsichtsprozess. Weisheit stützt sich bei ihrem Anspruch nicht nur auf den Gewinn von Wissen, sondern auch von Verhaltensorientierung im Subjekt, zur Auswahl und Bestimmung von eigenem Handeln. Die Weisheit stellt eine Form der Selbsterfüllung mit der dazugehörigen Zuwendung zum anderen Menschen oder zu einem sozialen Aufgabenbereich dar. Sie ist mehr ein Findungsprozess als ein erworbener Zustand.

Mir geht es um die Suche nach einer für das heutige Denken und Leben geeigneten Weisheitsbegründung. Ich tat dies in der „Sorge“ (Heidegger) um die eigene Daseinsgestaltung als Entwicklungsweg, mit der Absicht einer Lebensentfaltung, aber auch einer Befähigung zum Sterbenkönnen.

Ich sehe dabei Weisheit nicht als Religion an, sondern als ein Ergebnis der Arbeit und Besinnung des Menschen auf sich selbst und seine individuellen wie sozialen Handlungsmöglichkeiten, allerdings unter den Bedingungen besonderer Nachdenklichkeit und Innewerdung seiner selbst, so mühsam dies auch sein mag. Wie in religiösen Schriften oder philosophischen Texten verschiedener Weltkulturen vielfach dargestellt, sind der Weg zu Weisheit wie die Bemühung um die Bewahrung ihrer einmal gefundenen Orientierungen beschwerlich. Weisheit fällt niemandem einfach in den Schoß. Im Gegenteil: Sie ist ein unruhiger Geist und stammt aus Suchprozessen. Einmal von einem suchenden Menschen gefunden, wird dieser Geist trotzdem nicht nur zu einem ruhigen Besitztum. So schrieb schon Solon: „Ich werde alt, aber lerne dabei unablässig vieles“, was dazu beitrug, ihn zu einem weisen Neugestalter der Politik Athens und seiner Verfassung zu machen.

Weisheitsorientierungen suchen eine Konzentration auf das eigene Selbst. Diese Konzentration ist nötig, um eine Selbstständigkeit zu gewinnen in der heute starken, durch Technisierung fast unaufhaltsam gewordenen, von verschiedenen Seiten her strömenden Beeinflussungsflut zur angeblichen Lebensoptimierung in unserer Gegenwart. Weisheit ist zugleich ein Weg der Selbstbehauptung und der Selbstklärung angesichts der zunehmenden Informationsmengen, wie sie durch Reklame und Medien unablässig an uns herangetragen werden.

„Wissen bläht auf!“, schrieb Goethe im „West-östlichen Divan“. So empfahl er: „Bist du Tag und Nacht beflissen, viel zu hören, viel zu wissen, horch an einer anderen Tür!“ Diese „andere Tür“ führt zu einem persönlich ausgewählten Orientierungsbereich, der in verschiedener Weise zugänglich wird. Seine Erschließung erfordert Gelassenheit, das Abrücken vom reinen Erfolgsdruck und die Herausbildung einer eigens hierfür kultivierten Souveränität.

Weisheit begann während der Altsteinzeit, circa 35.000 bis 30.000 vor Christus, in Europa sichtbare Bedeutung als ordnende Macht zu gewinnen, weit verbreitet durch den Hinweis auf höhere Ordnungen oder Gewährung von übermenschlichen Hilfen (Höhlenmalereien, Statuetten wie zum Beispiel die Venus von Willendorf). Später, bei der Herausbildung und ganzjährigen Sesshaftwerdung von Gruppen, kam es zu Traditionen der Verehrung von Verstorbenen, der Verehrung von Vorgängern in der eigenen Sippe oder im eigenen Stamm. Sie wurden, durch Erinnerung, für ihre Taten bewundert und zu Vorbildern erklärt, besonders für die Lern- und Einweihungsprozesse der Jugend. Es kam bei zunehmender Sesshaftwerdung und entsprechenden Bauten als Schutz gegen gefährdende Witterung und Raubtiere zur Wissensakkumulation durch Priester, die den Ahneneinfluss steuerten.

Es entstanden so auch Normen, welche die Aufrechterhaltung von Partnerwahl und Gemeinschaften von Mann und Frau regelten und den Inzest durch Wahl der Frau aus fremden Gemeinschaften regulieren wollten. Regelkundige Würdenträger gewannen an Macht, durch Lebensberatung erfahrene und erfolgreiche Personen wurden als hochgeschätzt integriert. So gewann lokales und gruppengebundenes Wissen zunehmend an Macht.

Schließlich kamen in der Entfaltung von Hochkulturen durch die Verschriftlichung von Wissen neue Formen von Weisheit in Umlauf. Indien kultivierte die Meditation bereits ab 1000 vor Christus. In Europa ging es den Philosophen um die Auseinandersetzung mit dem Mythos als Pfad individueller Verselbstständigung. Es entstanden Lehren über die Natur und das menschliche Grundverhalten in der Ethik, die wie Kämpfe um die Klärung des Lebens auftraten, vom Marktplatz bis zu den Trinkgelagen, über die Platon schrieb.

Meine eigene Bühne zur Vergegenwärtigung von Weisheit ist zurzeit das Küchenfenster meiner Altbauwohnung im 5. Wiener Gemeindebezirk. Das Fenster führt hinaus auf einen kleinen Park mit den dazugehörigen Bänken, auf denen teils alte Frauen sitzen und miteinander reden, teils Liebespaare einander herzen. Das Küchenfenster hat aber auch ein Fensterbrett nach innen, und dieses innere Fensterbrett ist meiner Ahnenverehrung gewidmet. Dort steht, neben vielen anderen, eine kleine Pflanze in einem Blumentopf. Sie steht dort zum Gedenken an einen meiner Mühlviertler Großonkel und Ahnen zu seiner Verehrung wie zu meiner Lebensfreude.

Mein Großonkel Joseph Rothbauer war Mitte der 1930er-Jahre ein weißbärtiger Mann, wohl um die 70, als ich acht oder zehn Jahre alt war. Der Großonkel war als Bauer und Familienoberhaupt auf den Feldern, die zu seinem Hof gehörten, im Dorf Lichtenberg bei Ulrichsberg im oberen Mühlviertel ansässig. Er war es auch, der die Arbeit für die Woche einteilte. Er entschied darüber, wer von der Verwandtschaft und wer von den Häuslern, also der Unterschicht des Dorfes, als „Knecht“ oder „Dirne“ welche Arbeit leisten sollte. Und er teilte Woche für Woche die Arbeiten für die ganze diensttuende Mannschaft seines Hofes ein. Joseph Rothbauer widmete den Sonntagnachmittag dem Gang zu seinen Feldern, nach dem Gottesdienst und dem Friedhofsbesuch am Vormittag und dem durch zwei Weißbrotschnitten aufgewerteten sonntäglichen Mittagessen. Weil er meinen von mir als Buben gehegten Wunsch bemerkte, ihn zu begleiten und zum Wachstum der Feldfrucht Erklärungen zu bekommen, fragte er mich immer wieder einmal, ob ich bei seinem Kontrollgang mitkommen wolle. Ich lehnte nie ab. Der Großonkel vermittelte mir sehr viel Bereitschaft, mir, einem Kind, Auskunft zu geben. Und er konnte in der Tat diesem Kind vieles erklären und es damit weiter neugierig machen.

Immer wieder setzte der Sepp-Onkel, wie ich ihn nannte, bei den sonntäglichen Rundgängen ein paar Schritte in das Feld, das er zu begutachten sich vorgenommen hatte. Er musste ja Entscheidungen über die bevorstehende nächste Phase der Bewirtschaftung dieses Feldes in der kommenden Woche treffen. Er wich bei seiner Erkundung des Feldes aber nur wenig von dem grasbewachsenen Feldrain ab, um das Niedertreten von Halmen mit seinen schweren Schuhen zu vermeiden.

Manchmal klang sein Urteil, das er in meiner Gegenwart laut vor sich hin sprach, besorgt. „Nur keinen Regen!“, hieß es dann. Der Onkel hatte einen fruchttragenden Halm geknickt und abgebrochen und zeigte mir die Ähre mit den Fruchtkörnern. Sie waren durchwegs gelb. Sepp-Onkel erklärte mir, dass die Halme in diesem Feld bald geerntet werden müssten und vor dem Schnitt nicht mehr intensiv regennass werden sollten. Bei der Lagerung vor dem Drusch könnte die nass heimgebrachte Feldfrucht leicht faulig werden. Ich begriff damals schon, dass das bäuerliche Leben mit Bedingungen zu rechnen hatte, welche man selber nicht kontrollieren konnte. Man musste sich aber nach diesen Bedingungen richten, sollte die eigene Arbeit Erfolg bringen. Und das hieß, bestimmte Vorgänge in der Natur, zum Beispiel die Herausbildung der Erntefähigkeit der Gewächse, richtig einschätzen. Nur so konnte man die Arbeit auf dem Feld für die nächsten Tage für die Mannschaft seines Hofes richtig einteilen.

Sepp-Onkel beeindruckte mich als genauer Beobachter. Daraus, dass er Feldfrucht im Vergleich zu den Witterungsbedingungen betrachtete, zog er Folgerungen für die bevorstehende Arbeit. Da mich seine Beurteilung und die daraus gezogenen Folgerungen für die Arbeitseinteilung berührten, merkte ich mir diese Erlebnisse. Langzeiterinnerungen, die den Menschen berühren, halten meist das Wesentliche fest. Mit Sepp-Onkel verbinden mich Langzeiterinnerungen in besonderer Weise.

Jeder Dorfbewohner, ja jedes Kind im Dorf wusste, dass ein in den Hügel oberhalb des Dorfes hineinragendes Stück des Böhmerwaldes zum Rothbauern-Hof gehörte. Die Rothbauern hatten als Einzige im Dorf ihre tief in die Felder hineinragenden Waldstücke nicht geopfert, um mehr Grundfläche zum Anbauen der Feldfrucht zu gewinnen. Es war eine von den anderen Bauern als Grundstücksbesitzer abweichende Entscheidung gewesen.

Daraus sollte ich nun lernen. Sepp-Onkel trug auf allen seinen Beobachtungsgängen immer einen Rechen mit einem langen Stiel bei sich. Er trug ihn über der Schulter, mit den eisernen Zinken am Balken des Rechens weit hinter sich. Der Rechen war ein Instrument der Erkundung.

Manchmal kratzte oder scharrte er irgendwo damit, ganz ungehemmt auch auf fremdem Grund. Er wollte immer irgendetwas entdecken. Das gefiel mir. Im eigenen, vom Hügelkamm herabziehenden Walddreieck angelangt, setzte er in meiner Gegenwart den mitgeführten Rechen fest und kraftvoll ein und brachte dadurch den aus getrockneten Blättern und Nadeln gemischten, festen Bodenbelag des Waldes in Bewegung. Er öffnete mit seinem Rechen den Boden. Ich fragte ihn, warum er da so herumgrabe. Er sagte mir, dass er, wenn es die anstehenden Ernteprozesse erlauben sollten, oder später, wenn der Regen im Herbst den Waldboden noch nicht allzu sehr aufgeweicht hätte, einige Fuhren von diesem Waldboden in den Stauraum neben dem Stall in seinen Hof bringen lassen wolle. Stroh sei eigentlich zu kostbar als Unterlage für die Tierhaltung im Stall. Am besten sei es, Stroh zusammen mit Heu in klein geschnittener Form als Häcksel für die Fütterung der Tiere aufzubereiten. Der Waldboden, mit eigenen, trogartigen Fahrzeugen zum Stall gebracht, sei die ideale Unterlage für eine gute Tierhaltung, erklärte mir Sepp-Onkel in seiner eigenen Sprache. Er überprüfe nun die diesjährige Substanz des Waldbodens, wie weit oder tief er ihn würde abtragen lassen können, ohne dass dabei der Wald zu Schaden komme.

Natürlich vollzogen sich die Antworten Sepp-Onkels sprachlich etwas anders, als ich sie hier wiedergebe. Der Onkel begleitete seine Erklärungen immer wieder auch damit, dass er den Rechen einsetzte, um den Boden zur Überprüfung bis zu einer gewissen Tiefe offen zu legen. Und da fiel mir etwas auf, was ich als damaliges Erlebnis bis zum heutigen Tag nicht vergessen habe. Bei seinem Herumgraben legte der Onkel kleine, grüne Pflanzen frei, die sich nach der Abdeckung des im Wesentlichen dunkelbraunen Bodens zeigten.

Ich befragte deswegen den in meinen damaligen (und auch meinen heutigen) Augen nicht nur liebenswert-sanften, sondern auch wissend-weisen Onkel, was es mit diesen nach der Freideckung des Bodens sichtbar gewordenen kleinen Pflanzen auf sich habe. Im vollen Bewusstsein seines eigenen Wissens um die Natur antwortete er unverzüglich: „Das ist der kommende Wald.“ Ich verstand das vorerst nicht. Ich begann es erst zu begreifen, als er auf einzelne dieser kleinen Pflanzen hinzeigte und sie beim Namen nannte: Das war einmal, wenn auch nur wenig mehr als eine Handbreit hoch, eine Buche, dann ein Ahorn, schließlich, zum Teil noch kleiner, eine Fichte, eine Föhre und so weiter. Da begriff ich erst, was er den künftigen Wald genannt hatte. Es war das, was unter einer sanften Decke des von den großen Bäumen abgeworfenen Laubes und den abgefallenen Nadeln nachwuchs.

Der Gedanke eines unter dem Boden heranwachsenden kleinen Waldes überraschte mich völlig. Er setzte sich in mir erst später als großzügige Vorbereitung der Natur für deren jeweils eigene Zukunft fest.

Diese Erinnerung an die Fähigkeit zur Vorbereitung und Dauerhaftigkeit in der Natur trat in den ersten Wochen des Frühjahres 2014 in Wien plötzlich an mich heran. Neben dem Eingang zum Flur des Mietshauses, wo ich etwas oberhalb der barocken Kirche Sankt Thekla auf der Wiedner Hauptstraße wohne, stehen schulterhohe Blattpflanzen in großen Kübeln vor den Auslagen eines Optikergeschäftes.

Ich gehe täglich bei den schon aus Gesundheitsgründen für mich notwendig gewordenen Ausgängen an diesen Blattpflanzen samt ihren kniehohen Kübeln vorbei. Und da fiel im Frühjahr mein Blick auf ein etwa fingerlanges grünes Pflänzchen, das sich da knapp nahe dem Kübelrand herausstreckte.

Sofort kam mir meine durch den Waldgang mit Sepp-Onkel gewonnene Kindheitserinnerung in den Sinn. Der ungeplante kleine Spross trug ein einziges größeres Blatt und zwei kleinere stark gezackte Blättchen auf einem zarten Stiel. Bei näherer Betrachtung wurde mir aus der Form dieser kleinen Blätter klar, dass die Pflanze nur von einem Samen eines nahe am Straßenrand stehenden Ahornbaums stammen konnte.

Ich wandte mich dann etwas weiter unten auf der Wiedner Hauptstraße an den ägyptischen Blumenhändler. Er schenkte mir in einem kleinen Blumentopf besonders wachstumsbegünstigende Erde. So ausgerüstet begab ich mich zurück in das Optikergeschäft, wo ich ebenfalls als Kunde bekannt bin, und fragte, ob ich die kleine Nachwuchspflanze für mich ausgraben dürfe, die sich in einem ihrer Kübel angesiedelt hatte. Das wurde mir gerne bewilligt und brachte mich dazu, die Pflanze mithilfe eines großen Löffels aus der eigenen Küche und großer Sorgfalt auszugraben und in den ägyptischen Blumentopf mit der feinen Erde einzusetzen.

Seit einiger Zeit hat auf meinem inneren Küchenfenster der kleine Baum nun zu seinen ursprünglich drei bis vier Blättern mehr als ebenso viele weitere Blätter hinzugewonnen. Er ist auch ein ganzes Stück größer geworden. Und er wächst weiter. Von Woche zu Woche wird ein kleines Bäumchen aus ihm. Das vom Ahnen Sepp-Onkel gewonnene Wissen hat unerwartete Freude in meinen Alltag gebracht. Ich möchte ihm diese Freude in die Rätselhaftigkeit des kosmischen Geschehens ins Jenseits nachsenden.

Ich werde mich in den mir noch verfügbaren Lebensjahren um den kleinen Ahornbaum kümmern und dabei Sepp-Onkels gedenken. Haben nicht auch Zufälle ihre eigene Antriebskraft für Weisheit, die zum Leben erweckt wird im Aufgreifen von Erinnerung? Durch die Auffindung und Umpflanzung des kleinen Bäumchens wurde mir der Wert des von den „Ahnen“ persönlich übermittelten Wissens als eine „Wachstumsweisheit“ bewusst. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.03.2016)

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