Polen: Vorwärts zurück

Jaroslaw Kaczynski
Jaroslaw KaczynskiREUTERS
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Polens Wirtschaft wächst seit 25 Jahren. Und dennoch: Da ist auch das „Polen B“ der Modernisierungsverlierer östlich der Weichsel, da sind „Müllverträge“, mit denen sich die Jungen von Job zu Job hanteln müssen. Und da ist eine Partei an der Regierung, der Vergangenheit wichtiger als die Gegenwart ist.

Der „Gute Wandel“, den die nationalkonservative Regierung in Warschau ihren Wählern versprochen hat, manifestiert sich sowohl in großen Vorhaben als auch en détail. Der Umbau Polens nach den Vorstellungen von Jarosław Kaczyński, dem Chef der Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS), wird seit dem fulminanten Wahlsieg im Herbst 2015 nicht nur im Verfassungstribunal, dem Sozialministerium oder dem Außenamt vorangetrieben, sondern auch in der Hauptnachrichtensendung der öffentlich-rechtlichen Telewizja Polska. Lange Jahre stand beim abendlichen Pendant der „Zeit im Bild“ der Warschauer Palast der Kultur und Wissenschaft im visuellen Mittelpunkt – jenes 237 Meter hohe Wahrzeichen der polnischen Metropole, das Stalin in den Jahren 1952 bis 1955 als „Geschenk des Sowjetvolkes an das polnische Volk“ im Zentrum der Hauptstadt errichten ließ. Doch eine der ersten Maßnahmen, die der neue, von den Wahlsiegern installierte TVP-Generaldirektor Jacek Kurski setzte, war die Verbannung des Kulturpalastes aus der Sendung: Seit Jahresbeginn moderieren die Sprecher der Abendnachrichten vor dem Hintergrund des Uhrturms des Warschauer Königsschlosses.

Man kann die Tatsache, dass der stalinistische Wolkenkratzer Kaczyński offenbar ein Dorn im Auge gewesen sein muss, als Petitesse abtun und sich stattdessen darüber freuen, dass im polnischen Fernsehen der königlichen Residenz nun mehr Platz eingeräumt wird als der sozialistischen Zuckerbäcker-Architektur von Moskaus Gnaden. Bei näherer Betrachtung entpuppt sich die Rückbesinnung auf die gute alte Zeit der polnisch-litauischen Adelsrepublik freilich als Schimäre: Das Schloss ist kein authentisches Monument, sondern eine in den 1980er-Jahren fertiggestellte Kopie. Nachdem die Nazis den alten Stadtkern Warschaus komplett zerstört hatten, wurde er in der Nachkriegszeit anhand der vorhandenen Bilder und Pläne möglichst detailgetreu rekonstruiert.

Doch auch in Polen ist Geschichte nicht in Stein gemeißelt, sondern eine Tochter der Zeit. Und für einen Kampf um die historische Deutungshoheit bietet Warschau den denkbar günstigsten Austragungsort. Der Aufstand gegen die deutschen Besatzer im Sommer 1944 kostete die polnische Hauptstadt rund 200.000 Menschenleben sowie 80 Prozent der innerstädtischen Bausubstanz. Und was die Nazis aus Zeitmangel nicht mehr sprengen konnten, wurde von den nachrückenden Kommunisten plattgemacht,um Platz zu schaffen für die neuen Kathedralen der Arbeiterklasse.

Es dürfte kein Zufall sein, dass die zwei gewichtigsten neuen Museen im Warschau der Nachwendezeit der Vergangenheit gewidmet sind: das 2004 eröffnete Museum des Warschauer Aufstands sowie das 2013 eingeweihte Museum der Geschichte der Juden in Polen, das auf dem Areal des ehemaligen Warschauer Ghettos errichtet wurde. Für den längst überfälligen Neubau des Museums moderner Kunst, das seit Jahren provisorisch in einem ehemaligen Möbelsalon im Schatten des Kulturpalastes haust, konnte bis dato kein geeigneter Standort gefunden werden. Die Gegenwart muss weiter warten.

Angesichts der objektiv messbaren Erfolge erscheint es unpassend, den Untergang des polnischen Abendlandes heraufzubeschwören – Polen wächst nicht nur seit mittlerweile 25 Jahren, es ist auch der einzige Mitgliedstaat der EU, dessen Wirtschaft im Zuge der globalen Finanzkrise nicht geschrumpft ist; im Zeitraum 2014 bis 2020 sollen weitere 80 Milliarden Euro aus EU-Fördertöpfen nach Warschau überwiesen werden; und mit dem ehemaligen Premierminister Donald Tusk hat man einen Landsmann an der prestigeträchtigen Spitze des Europäischen Rates. Prosperierend, politisch stabil, von freundlichen Nachbarnumgeben: Im Gegensatz zum 20. Jahrhundert scheint es das 21. mit Polen gut zu meinen.

Diese Version der Wirklichkeit wird allerdings nicht von allen geteilt: Nicht von den abgehängten Verlierern der Modernisierung im „Polen B“ östlich der Weichsel, nicht von jenen jungen Menschen, die sich dank sogenannter „Müllverträge“ von Gelegenheitsjob zu Gelegenheitsjob hanteln müssen – und nicht von Kaczyński, der seit dem Wahlsieg einen regelrechten Feldzug gegen die Gegenwart gestartet hat. Die Wirklichkeit des „Herrn Präses“, wie der Parteichef von seinen Anhängern ehrfurchtsvoll tituliert wird, sieht folgendermaßen aus: Die geordnete Abwicklung des real existierenden Sozialismus, die Solidarnosc und die Vereinigte Polnische Arbeiterpartei Anfang 1989 am „Runden Tisch“ (der übrigens zum Überbegriff für arrangierte Machtwechsel wurde) besiegelt hatten, war eine Farce, Polen wird weiterhin von ehemaligen kommunistischen Eliten kontrolliert, am Gängelband der mächtigen Nachbarn gehalten und daran gehindert, seinen rechtmäßigen Platz in Europa einzunehmen. Das polnische Wort, mit dem dieser Zustand beschrieben wird, lautet „układ“. Es lässt sich wahlweise als Pakt, Arrangement oder Struktur übersetzen – und wer Kaczyńskis Weltsicht erfassen will, muss die drei Begriffe nur miteinander kombinieren.

Die Beschreibung der Wende von 1989 als abgekartetes Spiel, bei dem die wahren Helden des antikommunistischen Widerstandes über den „Runden Tisch“ gezogen wurden, ist nicht neu, sondern eine Spielart des gesellschaftlichen Pessimismus, der bevorzugt am rechten Rand des politischen Spektrums kultiviert wird. Zu den langjährigen Wegbegleitern Kaczyńskis zählte etwa die renommierte Soziologin und Buchautorin Jadwiga Staniszkis, Jahrgang 1942, die den Begriff „Generation 84“ geprägt hatte: Demnach sollen die Kommunisten angesichts des unaufhaltsamen Kollaps bereits im Jahr 1984 eine Gruppe junger Funktionäre mit fundierter Wirtschaftsausbildung und sauberen Lebensläufen dazu auserkoren haben, nach dem sich abzeichnenden Systemwandel die politischen und ökonomischen Schaltstellen im neuen, demokratisch-marktwirtschaftlichen Polen zu besetzen. „Rund die Hälfte der gegenwärtigen Elite hatte im Zeitalter des Kommunismus in leitender Funktion gearbeitet“, beklagt sie in dem 2001 erschienenen Buch „Postkomunizm“. Und die widerstandslose Kapitulation der Kommunisten deutet sie als „eine Ohrfeige“, und zwar nicht nur für die Opfer des Regimes, sondern auch für dessen Vertreter und Mitläufer.

Es ist eine Sicht, die nicht von allen geteiltwird: Der britische Historiker Timothy Garton Ash, der 1989 den Ostblock bereiste, stellte in seinem 1990 erschienenen Augenzeugenbericht „The Magic Lantern“ mit Erstaunenfest, dass die ehemaligen Apparatschiks mit Eifer und Loyalität bei der Sache waren, als ob Solidarnosc und Arbeiterpartei nicht viel anders wären als „zwei rivalisierende Fußballmannschaften“.

Die harte Kritik am geschmeidigen Regimewechsel bedeutet allerdings nicht, dass Staniszkis eine Apologetin des „Guten Wandels“ wäre. Als im Spätherbst des Vorjahres klar wurde, dass das Verfassungstribunal als erste Bastion der alten Ordnung geschleift werden soll, sagte sich die Wissenschaftlerin von ihrem einstigen Protegé los: Kaczyńskis Herrschaft sei eine „infantile Diktatur“, er wolle einen „antikommunistischen Bolschewismus“ etablieren. Doch zu diesem Zeitpunkt hatte Kaczyński sein intellektuelles Feigenblatt nicht mehr nötig: Zum nächsten Ziel von „Recht und Gerechtigkeit“ wurde der Held von 1989, Solidarnosc-Vorsitzender Lech Wałesa, dem Kollaboration mit dem kommunistischen Geheimdienst vorgeworfen wurde. Unter dem Codenamen „Bolek“ soll der Friedensnobelpreisträger andere, aufrichtigere Dissidenten bespitzelt haben – ein alter Vorwurf, den Wałesa immer wieder bestritten hat.

Um sich den Rückhalt der in Polen besonders wertkonservativen katholischen Kirchenfürsten zu sichern, sprach sich die Partei, mit Premierministerin Beata Szydło und „Herrn Präses“ an der Spitze, für ein totales Abtreibungsverbot aus: Als gläubiger Katholik stehe er hinter der Lehre, die Bischöfe verkünden, ließ Kaczyński Ende März wissen. Und zu guter Letzt startete „Recht und Gerechtigkeit“ eine Suche nach neuen Kriegshelden, nachdem die alten gesellschaftlich zu breit verankert sind, um von nur einer Partei vereinnahmt zu werden. Fündig wurde man bei den sogenannten „verstoßenen Soldaten“, die nach 1945 den Partisanenkampf gegen die Sowjetbesatzung und ihre polnischen Handlanger fortgesetzt hatten. Problematisch an der neuen Heldenverehrung ist nur, dass ein Teil der „verstoßenen Soldaten“ eine rassistische, großpolnische, antisemitische Weltsicht pflegte und seine Kampfzone auf Zivilisten, Angehörige der weißrussischen Minderheit sowie Juden ausweitete, weshalb sich bis dato im Pantheon der polnischen Heroen kein Platz für sie gefunden hat – was PiS nun schleunigst ändern will.

Für diesen Rückwärtsdrang gibt es mindestens drei Gründe: Zum einen scheinen viele Entscheidungsträger der Regierungspartei Angst vor dem unübersichtlichen 21. Jahrhundert zu haben. Der zweite Grund ist der nationale Unabhängigkeitskult, der Polen durch die Jahrzehnte der Fremdherrschaft getragen hat, aber in Zeiten, in denen immer mehr Entscheidungen auf transnationaler Ebene gefällt werden, kontraproduktiv erscheint. Und zu guter Letzt kommt Jarosław Kaczyńskis Lebenslauf hinzu: Gemeinsam mit seinem 2010 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommenen Zwillingsbruder Lech war er in den 1980er-Jahren Teil der antikommunistischen Opposition, wurde von Wałesa unter die Fittiche von Solidarnosc genommen und saß mit am „Runden Tisch“. Doch kurz nach der Wende brach er mit dem Establishment: Der vom ersten frei gewählten Ministerpräsidenten, Tadeusz Mazowiecki, durchgesetzte „dicke Schlussstrich“ unter die Ära 1945 bis 1989 war ihm zu dick – er wollte die totale Abrechnung mit dem alten Regime.

Der Wunsch nach historischer Gerechtigkeit mag zwar persönlich verständlich sein – politisch klug ist er nicht immer, wie der US-amerikanische Autor David Rieff in seinem kürzlich erschienenen Essay „In Praise of Forgetting“ (Yale University Press) argumentiert. Ausgangspunkt seiner Überlegung ist die These des Politologen Benedict Anderson, wonach Nationen „erfundene Gemeinschaften“ seien, deren gemeinsame Narrative den gesellschaftlichen Zusammenhalt garantieren. Wird das Narrativ umgedeutet, kann es zu Spannungen führen – wie etwa in Jerusalem, wo sich die fundamentalistische Siedlerbewegung regelmäßig auf ihren biblischen Anspruch auf das gesamte „Eretz Israel“ beruft. Einen Anspruch, der laut Rieff genauso konstruiert ist wie die islamistische Gleichsetzung des Westens mit den Kreuzzügen des Mittelalters. Als Gegenentwurf schlägt er einen „Pakt des Vergessens“ vor, wie er in Spanien nach dem Ende der Franco-Diktatur geschlossen wurde. SeinFazit: Die Erinnerung mag zwar eine Verbündete der Gerechtigkeit sein, aber sie ist keine Freundin des Friedens.

Kaczyński dürfte diese Sicht der Dinge nicht teilen, wie der Name der von ihm 2001 gegründeten Partei suggeriert: „Recht und Gerechtigkeit“ war Ansage, Versprechen und Selbstverpflichtung zugleich. Doch spätestens seit dem orchestrierten Angriff auf die Unabhängigkeit des Verfassungstribunals wird deutlich, dass in Kaczyńskis Polen Gerechtigkeit über dem Recht steht. Und Vergangenheit Vorrang vor der Gegenwart hat. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.04.2016)

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