In der Kälte des Frühlings

„Expedition Europa“: Ivan Mikloš, eine Begegnung in Kiew.

Ich warte in Kiew auf den slowakischen Reformer Ivan Mikloš. Als ich 2004 aus dem verknöcherten Österreich in seine Slowakei zog, war ich noch jung, und seine radikale Steuerreform – 19 Prozent auf alles – übte auf mich verführerische Wirkung aus. Zeitschriften priesen ihn damals als besten Finanzminister der Welt. Zwölf Jahre realen Alltags unter Tatra-Tigern und die Finanzkrise trieben mir dann jede Art von Wirtschaftsliberalismus aus. Das habe ich ihm angekündigt. Wie viele andere Ausländer ist Mikloš nun Berater der ukrainischen Regierung. Dass er seine letzte Ministerschaft 2012 damit beschloss, dass die Steuereinhebung der slowakischen Finanzämter für Monate kollabierte, ist kein Hindernis.

Ich erwarte ihn im Kiewer Regierungsviertel, im von ihm vorgeschlagenen Café „Gorchitsa“. Zu meiner großen Überraschung stellt mir die Kellnerin einen Untersatz unter meinen Handkoffer. In dem Moment, da Mikloš, schlank und hochgewachsen, eintritt, wird er noch als künftiger Finanzminister der Ukraine angesehen. Er wählt einen anderen Tisch, ich muss meinen auf dem schmiedeeisernen Gestell thronenden Handkoffer nachziehen. „Entschuldigen Sie!“, versuche ich die patscherte Operation aufzulockern. „Die haben mir meinen Koffer in einen Käfig gesteckt.“ Er verzieht keine Miene.

Ich frage ihn, ob er immer noch eingefleischter Hayekianer ist. Er bejaht, die Warnungen aus Hayeks „Weg zur Knechtschaft“ hätten sich im Kommunismus „auf unglaublich genaue Weise“ bewahrheitet. Ich verrate ihm, dass Hayek in der Heimat der „Österreichischen Schule“ wenig rezipiert wird. Mikloš darauf: Die Österreicher „sollten das lesen“.

Griwna: eine stabile Währung?

Ungefragt breitet er eine Analyse darüber aus, dass Schwedens wirtschaftlicher Erfolg einem hohen Maß an wirtschaftlicher Freiheit zu verdanken ist. Wegen der schlechten Kommunikation, sagt er, „wird kaum anerkannt, dass die Ukraine in den zwei Jahren seit dem Maidan mehr Reformen gemacht hat als in den 20 Jahren davor“. Als „größte Erfolge“ des Maidan führt er an: „Makroökonomische Stabilität, Senkung des Defizits, stabile Währung.“ Stabile Währung? Sie brach auf ein Drittel ihres Werts ein. „Angesichts des Zustandes der Wirtschaft war die Griwna überwertet“, findet er. „Das war die Rechnung für die Vergangenheit.“

Mit Bezug auf die Forderung von Julia Timoschenko, den Mindestlohn zu erhöhen, frage ich ihn: „Kann ein Mensch vom Mindestlohn leben?“ Weder er noch ich kennen die Höhe des aktuellen Mindestlohns – es sind umgerechnet 47 Euro –, aber Mikloš regt sich plötzlich furchtbar auf: „Sie sind aus einer anderen Welt, aus Timoschenkos Welt. Das ist eine falsche Argumentation. Glauben Sie nicht, dass es noch schlimmer kommen kann? Wenn sich die Populisten durchsetzen, beendet der IWF sein Programm.“ Er führt aus, dass Timoschenkos Forderung nach einer Rückkehr zur staatlichen Stützung der Gaspreise nur „die Korruption und Abhängigkeit von Russland“ erhöhen würde. Da gebe ich ihm recht. Er wechselt von Slowakisch auf Englisch, wenn er sagt, was die Lage von Politikern erfordert: „Leadership, Ownership, Communication.“

Meine Zeit ist um, ich ziehe meinen Handkoffer aus dem Gestell. Mikloš nennt das „Gorchitsa“ sein liebstes Lokal in Kiew, es sei auch gar nicht teuer. Ich gehe meinen kleinen Braunen zahlen. Er kostet 88 Griwna, das Dreifache des Üblichen, um den Preis habe ich zuvor um die Ecke zu Mittag gegessen. Ich trete aus dem warmen Café in den kalten Frühlingstag hinaus, subjektiv meine ich, aus der Kälte zu kommen. Ich gehe zur Metrostation Maidan hinunter, vorbei an den kleinen Denkmälern für die 100 Toten des Februars 2014. Ich fühle mich richtig scheiße. Finanzminister wird Mikloš nicht, aber Chef des Beraterstabes. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.04.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.