So viel Platz und keine Plätze

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Franz-Josefs-Kai, Schwedenplatz, Morzinplatz: Diese Unterscheidung ist Vergangenheit. Im hiesigen Bewusstsein hat sich der Freiraum zwischen Innenstadt und Donaukanal längst einfach als Schwedenplatz festgesetzt: ein gestalterisches Sammelsurium ohne nennenswerte Konturen. Das muss nicht so bleiben.

Mit der Errichtung des Franz-Josefs-Kais beginnt die eigentliche Geschichte der Wiener Ringstraße. Mit dem Vorhaben, es Paris gleichzutun und Wien mittels architektonischer Monumentalität und städtebaulicher Großzügigkeit in eine europäische Metropole umzubauen, fiel am 28. März 1858 der Startschuss zur Demolierung der Stadtmauer bei der Rotenturmbastei. Tags wie nachts wurde die massive Mauer abgetragen, ein erstes Straßenstück gepflastert, das sich über bescheidene 200 Meter erstreckte. Die feierliche Eröffnung fand nach nur vier Wochen anstrengendster Arbeit am 1. Mai 1858 statt, dem Tag der Praterfahrt des Kaiserpaares.

Dass die erste Strecke der später die gesamte Innenstadt einschließenden Straße nicht mit „Ring“ bezeichnet wurde, hat zwei Gründe: Zum einen griff man bei der Bezeichnung der neuen Straße auf das zurück, was sie typologisch war, nämlich ein Kai. Zum anderen war das generelle Konzept der Namensgebung nicht festgelegt, man sprach in jener Zeit noch von einem Boulevard. Als der österreichische Botschafter am französischen Hof düpiert worden und es daraufhin im Sardinischen Krieg zu einer empfindlichen Niederlage der kaiserlichen Truppen gegen das Königreich Sardinien-Piemont gekommen war – Frankreich war dessen Verbündeter –, behielt man zwar die französische Bezeichnung Quai bei, verzichtete aber auf den Begriff Boulevard und sprach nun von einer Ringstraße. Um den Gout im Namen der Straße am Donaukanal umzudeuten, wurde aus dem französischen Quai schließlich ein deutscher Kai.

Durch alle politischen Wechsel trägt dieser Stadtraum bis zum heutigen Tage seinen ursprünglichen Namen. Jedoch nicht nur zu seinem Vorteil, denn genau dieser Name hat viel dazu beigetragen, diesen Abschnitt nicht als integralen Bestandteil der Ringstraße zu sehen – wie dies zum Teil in den letztjährigen Schauen zum Ringstraßenjubiläum zu detektieren war. Gestaltungsmaßnahmen wurden an anderen Stellen der Ringstraße vorgenommen, die Nordostgrenze der Inneren Stadt jedoch blieb für lange Zeit im Schatten der innerstädtischen Stadtentwicklung.

Den Franz-Josefs-Kai vom Schweden- und vom Morzinplatz physisch abzugrenzen fällt heute schwer. Wahrnehmungspsychologisch hat es sich im Bewusstsein der Wienerinnen und Wiener längst festgesetzt, dass der Freiraum zwischen Innenstadt und Donaukanal den Schwedenplatz darstellt. Verstärkt wird dieser Eindruck durch den Namen der U-Bahn-Station. Erstaunt vergleicht man zwei Stadtpläne: Auf dem offiziellen Stadtplan der Stadt Wien sind die Bereiche Schweden- und Morzinplatz sowie der Verlauf des Franz-Josefs-Kais korrekt dargestellt. Konsultiert man hingegen die vermutlich öfter benutzte Seite von Google Maps, ist dort die oftmalige subjektive Wahrnehmung des Ortes (der Bereich zwischen Schweden- und Morzinplatz) dargestellt: Der gesamte freie Bereich wird als „Schwedenplatz“ bezeichnet, der Franz-Josefs-Kai ist an diesem Ort inexistent.

Entlang des westlichsten Donauarms befanden sich bis ins 19. Jahrhundert die wichtigsten Anlegestellen für Warenschiffe, die Wien mit Lebensmitteln und anderen wichtigen Gütern belieferten. Über das Rotenturm- und das Fischertor gelangteman mit Fuhrwerken und zusätzlich über das Laurenzer und das Schanzeltor auch als Fußgänger in die Stadt. Vor der Stadtmauer stapelte man Produkte, Materialien und verkaufte Viktualien, unter anderem Fische, wasnoch bis in die 1970er-Jahre geschah.

Die Geschäftigkeit nahm indes rasant zu, als neben dem Kärntner Ring auch am Franz-Josefs-Kai ab 1860 die ersten Parzellen für die Bebauung veräußert wurden. Das erste Theater der Ringstraßenzone, dasTreumanntheater, stand von 1860 bis 1863 hier, und so manch investitionsfreudiger Wiener Bürger ließ sein Zinshaus in dieser privilegierten Lage erbauen, lagen doch die gegenüberliegenden Bauten der Leopoldstadtfast 200 Meter weit entfernt. Die Lage am Donaukanal, die Aussicht auf Leopoldsberg und Cobenzl sowie der 1860 angelegte Kaipark machten aus dem nördlichen Stadterweiterungsgebiet eine der ersten Adressen der Inneren Stadt.

Die Wiener Weltausstellung von 1873 hinterließ hier ihre Spuren, als anstelle des abgebrannten Treumanntheaters das Hotel Metropole als Nobelherberge errichtet wurde. Der Abbruch der Franz-Josefs-Kaserne und der Einbau der Stadtbahn zogen eine tiefgreifende Veränderung des Franz-Josefs-Kais nach sich – sein Gesicht änderte sich nachhaltig. Im nördlichen Bereich wurde ein Eckhaus bereits nach vier Jahrzehnten Bestand wieder abgerissen, um dem modernen Kaipalast zu weichen – eindrücklich zeichnete sich derselbe Modernisierungsschub wie an anderen Stellen der Ringstraße ab. Zwischen Stubenring und Schwedenplatz wurden unter anderem der Herminenhof und der Industriepalast in wenigen Jahren (1890 bis 1906) errichtet, womit die Stadtfassade am Franz-Josefs-Kai respektive an der Ringstraße komplettiert war.

Der Kampf um Wien 1945 hatte dramatische räumliche Veränderungen zur Folge, und die Wiederaufbauplanungen der Nachkriegszeit sahen im Geiste der aufgelockerten – sprich: verkehrsoptimierten – Stadt von einer geschlossenen, aber räumlich ausdifferenzierten Komplexität zugunsten einer offenen Situation ab.

Während der südliche Bereich des Kais durch den Bau der Urania bereits 1909/1910 seinen städtebaulichen Abschluss erhalten hatte, wurde an seinem nördlichen Ende mit dem Ringturm (1953 bis 1955) ein zweites vertikales Merkzeichen geschaffen. Damit kommt dem Franz-Josefs-Kai eine stadtbildprägende, aber auch identifikatorische Funktion zu, die nicht zu unterschätzen ist.

Als Teil der Stadtinfrastruktur und als komplementierender Teil der Ringstraße spielte der Franz-Josefs-Kai von Beginn an eine essenzielle Rolle. Mit der Zunahme des städtischen Verkehrs, zuerst des öffentlichen und dann des motorisierten Individualverkehrs, veränderte dieser Straßenabschnitt sein Aussehen in jeder Dekade der Nachkriegszeit. Lagen die Fahrbahnen in beiden Richtungen des Franz-Josefs-Kais zuerst direkt vor den Häusern, getrennt von einem breiten Gehsteig, wurden diese im nördlichen Bereich in den 1970er-Jahren separat geführt. Dafür opferte man den ausgedehnten Kaipark und fügte statt der Promenade entlang des Geländers zum Treppelweg Fahrbahnen ein. Mit einem weiteren Anstieg der Verkehrsfrequenz wurde vor den Gebäuden eine verkehrsberuhigte Nebenfahrbahn errichtet und der gesamte Verkehr in Richtung Kanal verlegt.

Auf historischen Ansichten, beginnend mit so berühmten Darstellungen wie jener aus der Schedelschen Weltchronik von 1493, wurde Wien stets von Nordosten her gezeigt. In dieser Bildtradition stellte der aktivste Fotograf der Bauten des Roten Wien, Martin Gerlach jr., am Vorabend des Zweiten Weltkrieges ein beeindruckendes Bilddokument von der nördlichen Schauseite der Inneren Stadt her.

Von der gegenüberliegenden Donaukanalseite aus operierend, führte er in 13 Aufnahmen sämtliche Bauten des Franz-Josefs-Kais von der Urania bis zur Rossauer Kaserne panoramaartig vor. Neben der Chronologie der Bauphasen, die bei der Betrachtung der eindrücklichen Gesamtfassade der Innenstadt zu sehen ist, sind die eindeutig voneinander abgegrenzten Aufweitungen von Schweden- und Morzinplatz auszumachen. Was sichheute als lang gezogener, undifferenzierter Raum präsentiert, folgte ursprünglich einer zwar dichteren, aber durchausraffinierteren städtebaulichen Logik, als dies heute der Fall ist. Bis zum Zweiten Weltkrieg unterbrachen diese zwei klar ausformulierten, in ihrer Größe und Urbanität sich unterscheidenden Stadtplätze den Franz-Josefs-Kai und rhythmisierten so die ansonsten durchgehend bebaute Stadtfront. Spannte sich der kleine Morzinplatz zwischen einer neobarocken Fassade eines Wohn- und Geschäftshauses sowie dem Hotel Metropole auf, so war der etwas größere Schwedenplatz durch seine Läden und Kaffeehäuser ein beliebter Treffpunkt an der geschäftigen Kaistraße.

Heute konzentriert sich das Leben auf dem „Schwedenplatz“ am Kreuzungspunkt der Rotenturmstraße mit dem Franz-Josefs-Kai sowie zwischen den beiden U-Bahn-Abgängen und nimmt bis zu den beiden Enden hin graduell ab. Über die Jahre wurde eine immer größere Nutzungsmischung implementiert, die ein gestalterisches Sammelsurium nach sich zog, sodass an kaum einer Stelle das Gefühl eines städtischen Platzes aufkommt, der diesem innerstädtischen und neuralgischen Ort auch gerecht wird. Potenziale bestehen nichtsdestoweniger im Bereich des inzwischen verschwundenen Kaiparks und des Abschnitts zwischen Schweden- und Julius-Raab-Platz.

Legt man Schnitte durch den Kai (den Bereich von den Hausfassaden bis zum Ufer des Donaukanals), erkennt man an jeder Stelle eine hohe Funktions- und Verkehrsmitteldichte. Im Laufe der vergangenen 150 Jahre hat dieser Stadtbereich Veränderungen erfahren, die den eigentlichen Kai – typologisch ist das eine uferbefestigte Straße an einem Wasserlauf – zu einer einseitig bebauten Straße transformierten. War die Kaistraße anfangs nur durch eine Böschung vom Donaukanal getrennt, schoben sich mit der Zeit zwischen Wasser und Stadtfassade unterschiedliche Bauten und Funktionen. Zuerst wurde das Ufer des Donaukanals befestigt, bald darauf folgte die Einfügung der Stadtbahn.

Unter dem verbreiterten Straßen- und Platzniveau der Stadt fährt heute die U-Bahn, auf ihrem Niveau liegt ein breiter Treppelweg moderner Art. Nicht nur ist der Wasserlauf physisch weit entfernt vom städtischen Leben auf dem „Schwedenplatz“. Die Implementierung immer zahlreicherer Verkehrsbauten und -streifen hat auch auf psychologischer Ebene die Distanz zum Donaukanal stets vergrößert.

Viele Städte weltweit haben in den vergangenen Jahren innerstädtische Kaianlagen gestalterisch aufgewertet und attraktiviert. Gerade französische Städte mögen hier mit ihrer städtebaulichen Tradition als Vorbild dienen. Etwa Bordeaux, das es durch Gestaltungsmaßnahmen geschafft hat, den Kai auf ingeniöse Art an die historische Stadt anzubinden. Wien täte gut daran, den Bereich zwischen Schweden- und Morzinplatz nicht nur punktuell zu betrachten und gestalterisch aufzuwerten. Wichtiger und richtiger wäre es, den Stellenwert der Transversale des Franz-Josefs-Kais innerhalb des Stadtverkehrs zu hinterfragen und mittels systemischer Untersuchung eine schrittweise Verbesserung einzuläuten.

Mit dem derzeitigen politischen Willen, den „Schwedenplatz“ aufzuwerten, besteht die einzigartige Möglichkeit, diesem Stadtraum den Rahmen zurückzugeben, den es an dieser Stelle braucht, und es wird wichtig sein, dengesamten Kai in zukunftsweisende Überlegungen einzubinden und die vorhandenen Potenziale des Treppelweges und seine Erreichbarkeit bestmöglich auszuschöpfen. Wider alle Einwände stelle ich hier eine maßvolle Bebauung des „Schwedenplatzes“ zur Diskussion. Dies würde nach sich ziehen, dass Bauvolumina die beiden historischen Platzräume wiederherstellen würden. Systemisch gedacht, würde dieses flächig geringere Freiraumangebot – im Verein mit einem größeren Gebäudeangebot – entlang des heutigen „Schwedenplatzes“ dazu führen, dass die vorhandene Nachfrage nach Erholungs- und Freiräumen eine Ebene tiefer entlang des Donaukanals befriedigt werden könnte. Dies nicht nur an sonnigen Tagen, sondern auch nachts, was eine damit einhergehende Lärmbelastung von den Häusern weg ans Wasser verlagern würde.

In Zeiten, in denen, beeindruckt von wachsenden Städten, die Stadt der Dichte postuliert wird, sollte ein gangbarer Weg nicht außer Acht gelassen werden. Die Wiedererrichtung der zwei Platzsituationen an einem der wichtigsten Innenstadtbereiche und die Schaffung einer dem Ort entsprechenden Stadtfassade im Verein mit einer Attraktivierung des tiefer liegenden Treppelweges werden ein Gleichgewicht von bebauter Stadt und attraktiven Freiräumen erzeugen, wie es die Lage am Nordeingang der Stadt – die Leopoldstadt wird sich auch in den nächsten Jahren rasant verändern – brauchen wird.

Der Erfolg aller Interventionen im Bereich des „Schwedenplatzes“, aber auch des gesamten Franz-Josefs-Kais wird davon abhängen, welche städtebauliche Spannung an diesem Ort mit ungeahntem Potenzial in Zukunft aufgebaut werden kann. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.05.2016)

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