In der Stille über Kastilien

Mit Herzblut, Talent und Verstand: „Seit die Welt Welt ist“, Günter Schwaigers großer Film über einen spanischen Kleinbauern.

Vor über zehn Jahren machte sich der aus dem Salzburger Flachgau stammende, seit Langem in Madrid ansässige Filmemacher Günter Schwaiger in die kastilische Provinz Burgos auf, um Ausgrabungen in diesem archäologisch reichhaltigen Landstrich in Bild und Ton festzuhalten. Allerdings hatten nicht zutage geförderte Speerspitzen oder Scherben vom Hausrat keltiberischer Stämme Schwaigers Interesse geweckt, sondern die Exhumierung von Leichen aus der Zeit des Spanischen Bürgerkriegs. Kastilien war schon in den ersten Kriegstagen von den aufständischen Militärs unter General Franco besetzt worden, der Burgos zum Sitz des Nationalen Verteidigungsrats bestimmte. Republikanische Abgeordnete, Bürgermeister, Gewerkschafter, Lehrer sowie Mitglieder und Sympathisanten von Linksparteien fielen der faschistischen Repression zum Opfer. Sie wurden zu Tausenden verschleppt, in Straßengräben oder auf Lichtungen erschossen und an Ort und Stelle verscharrt.

Dieses Schicksal traf auch neun Bauern und Bahnarbeiter der Ortschaft Santa Cruz de la Salceda, in der Schwaiger Station machte. Die an ihnen begangenen Verbrechen waren nie gesühnt, ihre sterblichen Überreste auch nach dem Ende der Diktatur nicht geborgen worden. Der herrschenden Ideologie zufolge sollte das spanische Volk seinen Blick in die Zukunft richten. Republik wie Bürgerkrieg gehörten demnach einer überwundenen, vergessenswerten Epoche an. Erst als in ganz Spanien immer mehr Nachfahren ermordeter Republikaner mit Schaufel und Spitzhacke und unter dem Beistand von Archäologen und forensischen Anthropologen Massengräber öffneten, wollten auch Angehörige der neun Toten von Santa Cruz die Leichen ihrer Väter, Großväter und Onkel exhumieren, Gewissheit über die Art ihres Sterbens erlangen und sie in Friedhofsgräber umbetten.

Schwaiger hielt diesen Prozess der Aneignung von Familien- und nationaler Geschichte in dem mit bescheidenen Mitteln gedrehten Dokumentarfilm „Der Mord von Santa Cruz“ fest, seinem ersten überhaupt und dem besten, der zu diesem Thema in Spanien gedreht worden ist: weil er die Emotionen angesichts der Knochenfunde zeigt, aber nicht zelebriert, und weil er darauf verzichtet, mit spektakulären Bildern und Aussagen aufzutrumpfen. Es sei von Vorteil gewesen, hat Schwaiger einmal gesagt, dass er von außen gekommen sei, als ein von den Geschehnissen nicht unmittelbar Betroffener. Es sei den Menschen leichter gefallen, mit einem Fremden über ihre schmerzhaften Erfahrungen und Empfindungen zu sprechen.

Seit damals, 2005, hat Günter Schwaiger drei weitere Filme gedreht, die soziales Interesse, künstlerischen Ehrgeiz und manchmal auch ein Quäntchen Kalkül hinsichtlich des Publikumsgeschmacks verraten; mit dem vierten, der gerade in österreichischen Kinos läuft, hat er sich selbst übertroffen. „Seit die Welt Welt ist“ macht dort weiter, wo sein Erstlingswerk geendet hat: nicht in Santa Cruz, sondern sechs Kilometer weiter, im Dorf Vadocondes, das 300 Einwohner zählt, auf 800 Meter Seehöhe am Río Duero liegt und zwei Bäckereien, drei Kneipen, eine Gemischtwarenhandlung, eine Tankstelle und eine Apotheke aufweist.

Sterbliche Überreste bestatten

Seinen Protagonisten, den Landwirt Gonzalo Martínez Arranz, hatte Schwaiger bei den Dreharbeiten in Santa Cruz kennengelernt; Gonzalos Onkel, ein sozialistischer Gewerkschafter, war einer der neun Ermordeten gewesen, und der Neffe hatte es für selbstverständlich erachtet, die sterblichen Überreste zu bergen und in Würde zu bestatten. Der Kontakt zwischen dem Bauern und dem Filmemacher war nie abgerissen, und als mit dem Platzen der Immobilienblase 2008 Spanien in eine tiefe Wirtschaftskrise stürzte, fasste Schwaiger den Plan, anhand eines Porträts des Bauern und seiner fünfköpfigen Familie auch ein Bild vom Zustand eines Landes zu geben, in dem sich immer mehr Menschen gegen die zerstörerische Wirkung des modernisierten Kapitalismus zur Wehr setzen.

Nach 80 Drehtagen ist ein Film entstanden, der über die ursprüngliche Absicht des Regisseurs – und vermutlich auch über die seines Protagonisten – hinausgeht; ein Film, der, von Winter bis Winter, einen bäuerlichen Jahreskreis abbildet, Konflikte und Sorgen innerhalb der Familie nicht ausblendet, Sinn für Schönheit und Humor entwickelt, Freude wie Furcht zeigt und die Sympathie zu seinem Sujet nicht verleugnet. Teilnehmende Beobachtung, das Schlagwort aus den frühen Jahren der sozialwissenschaftlichen Feldforschung, bekommt hier eine neue, aktuelle Bedeutung.

Liest man das Interview, das die Filmkritikerin Karin Schiefer mit Günter Schwaiger geführt hat, dann wird einem bewusst, dass Schwaiger, der selbst Kamera geführt hat (für den Ton war Cristina García Alía zuständig, seine Lebens- und Arbeitsgefährtin), vom eigenen Arbeitsprozess überrascht war. „Je näher man einer Figur kommt, desto mehr erweitert sich der Horizont. Je tiefer man in den Mikrokosmos dringt, umso größer wird der Makrokosmos. Die Figur von Gonzalo, die familiäre Beziehung, das Dorf, die Entvölkerung, die Landschaft – all das zusammen stellt etwas Universelles dar. Je länger wir dort arbeiteten, umso klarer wurde mir, dass dieses Dorf für so vieles symptomatisch ist, was nicht nur in Kastilien, sondern in der ganzen Welt passiert.“

An anderer Stelle erwähnt Schwaiger seine Faszination für das archaische Spanien, die Anziehungskraft, die die leeren Weiten der kastilischen Hochebene auf ihn ausüben. Sie stellten für ihn etwas Archetypisches dar, das er in seinem zersiedelten Herkunftsland nicht gefunden habe: ein weiterer Beweggrund, diesen Streifen zu drehen. Aber anders als bei einem früheren Film, über den Stierkampf ist Schwaiger der Faszination für Archaisches nicht erlegen. Das liegt in erster Linie an seinen bei allem Eigensinn nüchternen Helden – am 55-jährigen Gonzalo, an dessen Frau Rosa Ríos Monge und am ältesten Sohn Luis alias „Punky“, der die Landwirtschaft vielleicht eines Tages übernehmen wird. Rosa arbeitet als Krankenschwester in der nahen Kreisstadt Aranda, und nur ihr regelmäßiges Einkommen ermöglicht es Gonzalo, den Betrieb weiterzuführen. Als Mischwirtschaft, mit Anbau von Getreide, Zuckerrüben, Mais und Wein. Früher, so Gonzalo, hätten sie vom Ertrag der halben Anbaufläche leben können. Um den Weinbau kümmert sich Punky, der mit Irokesenhaarschnitt und anarchistischer Gesinnung nicht unbedingt dem Klischeebild des Jungbauern entspricht und gelegentlich eine Rockband in das Dorf bringt. Kurios, wie gut deren wilde Protestsongs zu den alten Mauern und in die stille Landschaft passen.

Günter Schwaigers Film steht in einer großen Tradition. In Stoff, Gehalt und Intensität erinnert er an Nicolas Philiberts „Être et avoir“ („Sein und Haben“, 2002) über eine Dorfschule in der Auvergne, vor allem aber an Raymond Depardons „La Vie moderne“ („Neue Zeiten“, 2008), der das Bauernsterben im französischen Zentralmassiv ergründet hat. Hier wie da der lange, geduldige Blick auf Mensch und Tier, die Freude im Umgang mit ihnen, die verhohlene Zärtlichkeit. Der Unterschied liegt sowohl im zeitlichen Aufwand der Filmemacher, denn Depardon hatte den Schauplatz seines Films über 15 Jahre lang immer wieder aufgesucht, als auch im Temperament der gefilmten Personen: Obwohl den Kastiliern innerhalb Spaniens ein trockener Charakter nachgesagt wird, wirken Schwaigers Helden – einschließlich der alten und uralten Nachbarn der Familie – vergleichsweise lebhaft und gesellig.

Trotz der Landflucht und der immens großen Schwierigkeiten des Familienbetriebs, dem Druck der Agrarkolosse standzuhalten, will man im Grunde nicht glauben, dass diese Welt über kurz oder lang verschwinden wird. Es ist, als würde Gonzalo noch aus den Unbilden der Witterung – Überschwemmung, Frost,Regen zur Unzeit – die Kraft schöpfen, weiterzumachen. Dabei ist er alles andere als stoisch. Aber er hat gelernt, politisch zu denken. Seine Bedürfnisse und die seiner Frau, der Kinder sind überschaubar. Sie wissen, dass sie in den herrschenden Strukturen gefangen sind. Aber schon das Wissen darum gibt ihnen ein Gefühl von Freiheit, und in der Arbeit sind sie ganz bei sich. Die Konsumwelt bedeutet ihnen wenig. Trotzdem sind sie keine Asketen.

„Seit die Welt Welt ist“ ist auch ein Film über die tiefe Bedeutung, die Gonzalo der Geschichte beimisst. An einer Stelle des Films erklärt er japanischen Journalisten, warum es so wichtig war, die toten Republikaner aus der Anonymität der Massengräber zu befreien, bei anderer Gelegenheit erinnert er sich an den Umhang seines Großvaters, der lange nach dessen Tod als Hundedecke verwendet wurde – was ihn, Gonzalo, immer mehr bedrückt hat, weil der Umhang für eine Lebensweise steht, die nicht vergessen werden darf.

Was scheinbar nicht zusammengehört

So schafft es der Film, zusammenzubringen, was scheinbar nicht zusammengehört. Geschichte und Gegenwart. Einsamkeit und Weltoffenheit. Härte und Toleranz. Pragmatismus und Sehnsucht. Zweckgemeinschaft und Liebe. Zurückhaltung und Inbrunst. Stille und Lärm. Im Hochsommer steigt die Zahl der Dorfbewohner sprunghaft an: Das ist die Zeit, in der die früheren Nachbarn, die auf der Suche nach Arbeit in die Städte emigriert sind, für ein, zwei Monate in ihre alten Häuser zurückkehren. Mit ihnen kommen die Kinder, die Enkelkinder, die angeheirateten Verwandten. Das ist, wie überall in Spanien, mit viel Radau verbunden. Dennoch sagt Gonzalo: „Obwohl sie dauernd stören, ist es wunderbar.“ Menschen um sich zu wissen, die lachen, feiern, die halbe Nacht durchquatschen. Gonzalo ist nicht belesen, aber er weiß um die Vorläufigkeit menschlichen Tuns. Das macht den Film so realistisch und utopisch zugleich.

Einmal ärgert sich Gonzalo über eine schlampig verrichtete Tätigkeit des ältesten Sohnes, und er begründet seinen Ärger damit, dass es bei der bäuerlichen Arbeit keine Mitte zwischen Gelingen und Versagen gebe: „Du machst sie entweder gut oder schlecht.“ Eine Auffassung, die Günter Schwaiger sich zu eigen gemacht hat. Mit Herzblut, Talent und Verstand. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.06.2016)

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