Gott in Misskredit

Es sind nicht religiöse Inhalte, die zum Fundamentalismus disponieren, es ist die fehlende Fähigkeit, in der Vielfalt einen Reichtum zu erkennen. Von der „Politik der Angst“ zu einer „Politik des Vertrauens“: ein Plädoyer.

Die Tiefenpsychologin Monika Renz kommt dem Bild von der Vertreibung aus dem Paradies in ihren therapeutischen Begegnungen sehr nahe. In ihrem Buch „Erlösung aus Prägung“ geht sie davon aus, dass im Mutterschoß jeder Mensch gleichsam paradiesische Verhältnisse erlebt. Es ist für das heranblühende Menschenwesen ein Raum von Geborgenheit, Wärme, Schutz. Und dann folge nach dieser neunmonatigen Paradieseszeit die Vertreibung aus diesem. Die Geburt wirft das Neugeborene in eine kalte Welt. Urangst stellt sich ein.

Die große Herausforderung besteht nunmehr darin, letztlich auf sich gestellt, die Angst vor dem Tod zu zähmen. Wieder in der Bildsprache der Genesis und gleich ins Positive gewendet: Dem Tohuwabohu der Angst muss festes Lebensland namens Vertrauen abgerungen werden. Gelingt dies, kann ein Mensch zu Glauben und Liebe reifen.

Menschen, bei denen nicht genug Vertrauen wächst, so Monika Renz, greifen zu Selbstsicherungsstrategien. Sie nennt drei, die uns im persönlichen Leben wie im gesellschaftlichen Zusammenleben bedrängen: Gewalt–Terror, Gier, Lüge–Korruption. Im Umkreis ungezähmter Angst misslingt es Menschen, zu glauben und zu lieben.

Angst gebiert das Böse, so lehren einhellig Søren Kierkegaard, Eugen Drewermann, Eugen Biser und auch Benedikt XVI. „Böse“ bedeutet hier: Der Mensch ist nicht in der Lage zu werden, was er im Grunde seit seiner Erschaffung ist: eine Liebende, ein Liebender (Meister Eckhart). Angst entsolidarisiert. Der Goldkern der Liebe, der in jedem Menschen von seinem paradiesischen Urbeginn an steckt, wird durch die Angst verschüttet. Bei dieser Megaherausforderung des Lebens, der Urangst Urvertrauen abzugewinnen, steht keiner und keine für sich allein da. Wir sind eng mit anderen Lebenskünstlerinnen verwoben. Deren Geschichte prägt unsere eigene. Ein kultureller Raum formt sich.

Der französische Politologe Dominique Moïsi hat in seiner Studie „Kampf der Emotionen. Wie Kulturen der Angst, Demütigung und Hoffnung die Weltpolitik bestimmen“ dargelegt, dass die einzelnen Regionen der Menschheit von unterschiedlichen dominanten Gefühlen geprägt sind, welche die Weltpolitik nachhaltig formen. „Chindia“ – eine Zusammenfügung von China und Indien – habe eine „culture of hope“. Die Menschen in dieser Weltgegend pflegen ein positives Lebensgefühl. Sie sind aufstrebend, wirtschaftlich emsig und erfolgreich, optimistisch. Der arabische Raum sei von „humiliation“ geprägt. Der militärische Zugriff des amerikanischen Präsidenten George Bush habe die arabische Welt tief gedemütigt. Der Terror, der aus diesem Raum kommt, sei die Antwort auf diese Demütigung der islamisch geprägten, in sich aber zerstrittenen Weltregion. Die Entwicklung Amerikas und Europas verlief in den vergangenen Jahren verschieden. Das Trauma von 9/11 habe Amerika in eine „ culture of fear“ (Frank Furedi) gewandelt. In Europa verlief die Entwicklung in Ost und West unterschiedlich. Osteuropa war unter dem Kommunismus von Angst und Furcht geprägt. 1989 machte ein Fenster der Hoffnung auf. Westeuropa war nach dem Zweiten Weltkrieg eine Region der Hoffnung. Das Wirtschaftswunder, die europäische Einigung, 70 Jahre Frieden waren die bestimmenden Momente dieser „culture of hope“.

Die Finanzkrise, die 2008 aus den USA nach Europa überschwappte, hat Westeuropa von der Hoffnung in die Angst getrieben. Ost- und Westeuropa haben sich in der Angst endgültig geeint. Die Herausforderung durch zwei Millionen flüchtende, Frieden suchende Menschen hat die Ängste der Menschen weiter verstärkt. So ist die reiche Welt des nordatlantischen Bereichs eine Weltregion der Angst geworden. Die Angst, biografisch ererbt, kulturell begünstigt, erfährt eine zusätzliche Verstärkung, wenn sich eine „Politik der Angst“ dazugesellt. Eine solche erscheint auf den ersten Blick als eine vernünftige Antwort auf die in der Gesellschaft/in den Menschen vorfindbare Angst. „Man muss die Angst der Leute ernst nehmen“, so erklären viele Politikerinnen und Politiker. Am Beispiel der Flüchtlinge, die nach Europa streben, um dem Krieg oder der Hoffnungslosigkeit der Armut zu entrinnen und Frieden sowie Überleben zu finden: Der „globale Marsch“, der ein fahrlässig unvorbereitetes Europa erreichte und anfangs in beängstigend ungeordneter Weise ablief, hat in den Bevölkerungen vielfältige Ängste ausgelöst: vor einer Überforderung des Sozialstaates, des Wohn- und Arbeitsmarkes, Angst vor sozialem Abstieg, vor kultureller Überfremdung, Kriminalität, Terror, Krankheit.

Eine „Politik der Angst“ orientiert sich an diesen Ängsten. Sie setzt auf Abwehr der Friedensuchenden, will sie vom Land fernhalten, erschwert den Durchgekommenen den Familiennachzug. Zäune werden errichtet, Europa wird zur Festung ausgebaut. Gegen Flüchtende kommt das Militär zum Einsatz. Eine solche Politik baut Ängste nicht ab, sondern hält diese wach. Die Maßnahmen der Angst verstärken die Angst. Sie wirken kurzzeitig als eine Art Beruhigungsmittel. Solche Politiker gleichen einem Arzt, der bei einem Herzinfarkt Schmerzmittel verabreicht, damit der Patient die Schmerzen nicht spürt. Die Politik der Angst hat nicht den langen Atem, die Ursachen des „globalen Marsches“ zu beseitigen. Dass sie dennoch gemacht wird, ist für „rechte“ Parteien überaus nützlich. Sie gewinnen jene, die Angst haben, und indem sie die Ursachen der Ängste nicht beheben, stabilisieren sie die Angst und binden die neuen Wählerschichten noch stärker an sich. Das ist ein Phänomen, das man derzeit in ganz Europa beobachten kann.

Tragisch ist, dass die politische Mitte – auch aus Angst: nämlich ihre Mehrheit zu verlieren – in der Wende zu einer auf den ersten Blick erfolgreichen Politik der Angst sich nach „rechts“ öffnet. Dass sie dabei ihre „Werte-gestützte“ Politik aufgibt und damit Kernschichten verloren gehen, wird in Kauf genommen. Christdemokratische Parteien hören dann auf, „christlich“ zu sein, sozialdemokratische Parteien sind nicht mehr „sozialistisch“. Wahlen zeigen, dass dies zur politisch fatalen Implosion der politischen Mitte führt. Verängstigte wählen dann lieber das Original denn das Wendeduplikat. Eine Zukunft hat die politische Mitte nur,wenn sie mit langem Atem eine Alternative zur „Politik der Angst“ entwickelt.

Es gibt eine Alternative zur „Politik der Angst“, nämlich eine „Politik des Vertrauens“. Auch sienimmt die Ängste der Leute ernst, versucht sie aber durch politisches Handeln abzubauen. Dabei verbündet sich eine solche „Politik des Vertrauens“ mit einer Bildungs- sowie einer Kommunikationsoffensive. Eine Politik des Vertrauens setzt nicht an den Symptomen der Flucht in den Frieden an, sondern bei den Ursachen. Ein erstes Ziel ist ein dauerhafter Waffenstillstand. Außenminister fahren dann nicht zur Besichtigung von Grenzzäunen, sondern machen Friedensdiplomatie. Eine solche auf einen gerechten Frieden zielende Politik überprüft auch die einträglichen Waffenlieferungen, die keineswegs immer nur der Herstellung des Friedens dienen, sondern auch der eigenen Wirtschaft. Wichtig ist eine Ordnung in den Fluchtbewegungen. Die meisten Menschen versuchen, in der Nähe der Heimat zu bleiben. Das geht aber nur, wenn die Zustände in den Flüchtlingslagern erträglich sind. Es muss beispielsweise Sorge dafür getragen werden, dass die Kinder nicht jahrelang keinen Zugang zur Schulbildung haben. Jeder verantwortliche Vater, jede verantwortliche Mutter muss sich auf den Weg machen, wenn es die einzige Chance ist, dass die Kinder in die Schule gehen können. Dass es in den Flüchtlingslagern nicht ausreichend zu Essen gibt, wie das UNHCR klagt, gehört auch zu den bedauerlichen Weiterflucht-Ursachen.

Eine Politik des Vertrauens setzt auch darauf, dass eine Heimkehr von Flüchtlingen möglich ist. Dazu gehört jetzt schon eine Art Marshall-Plan für Syrien. Jene Frau, die mir erzählt, dass sie Sehnsucht nach ihren Marillenbäumen bei Aleppo hat, muss eine Chance bekommen, diese wieder zu bewirtschaften. Eine Politik des Vertrauens kümmert sich um effiziente Entwicklungszusammenarbeit mit verarmten (ländlichen) Regionen Nordafrikas. Zudem sind legale Formen der Flucht zu schaffen, nicht durch Internierungslager und auch nicht durch eine Migration, bei der nur die Gebildeten eine Chance haben. Bluecards, mit denen die Intelligenz der armen Regionen abgeschöpft wird, schwächen genau die erforderliche Entwicklung. Begünstigt werden durch eine Politik des Vertrauens auch Rückführungen, und zwar nicht durch Abschiebung mit polizeilicher Gewalt, sondern durch Anreize. Ich traf dieser Tage zwei evangelische Pastoren auf der Rückreise von Skopje. Sie hatten einer rückgeführten Familie aus Mazedonien, die kein Asyl bekam, geholfen, daheim eine kleine Bäckerei aufzubauen.

Politische Bildung ist heute wichtiger denn je. Menschen neigen zur Generalisierung. Sie orientieren sich an ihren Bezugsgruppen in ihrer kleinen Lebenswelt. Manche Medien tragen zu einer differenzierten Bildung kaum bei. Sie leben vorrangig von „bad news“, die sich in den Teufelskreis der Angstvermehrung nahtlos einfügen.

Hohe Bedeutung hat heute interreligiöse Bildung. Der Islam ist vielen eine fremde Religion. Teile des Islams führen einen Krieg des Islams gegen den Islam (Navid Kermani) – ähnlich wie im Dreißigjährigen Krieg das Christentum in Europa Krieg gegen das Christentum geführt hat. Religiöse Bildung macht einsichtig, dass gewaltförmige Menschen Gott gewaltförmig zeichnen und verformen. Damit bringen sie Gott in Misskredit, wie das Aufkommen des europäischen Atheismus gut belegt. Auch lehrt die Geschichte des Christentums in Europa, dass es religiösen Frieden nur gibt, wenn sich die politische Gewalt „säkularisiert“. Erst dann stehen dem Streit um die Wahrheit keine todbringenden Waffen mehr zu Verfügung.

Religionsfreiheit ist ein wesentliches Ziel einer Politik des Vertrauens. Diese verlangt allerdings auch nach einer entsprechenden „Pluralitätstoleranz“ bei den Menschen. Fundamentalisten tun sich mit einer solchen schwer. Es sind nicht religiöse Inhalte, die zum Fundamentalismus disponieren, sondern fehlende Fähigkeit, in der Vielfalt einen Reichtum zu erkennen.

Das dritte Element auf dem Weg zu einer „Politik des Vertrauens“ sind Begegnungen mit friedensuchenden Menschen. Ich traf kürzlich in Stams ein 13jähriges Mädchen namens Narges. Sie stammt aus Südafghanistan. Ihr Vater ist von den Taliban umgebracht worden. Mit Mutter und Bruder floh sie zunächst in den Nordiran, musste auch von dort fliehen. Auf der Flucht durch die Türkei verloren die Kinder ihre Mutter, von der sie bis heute nicht wissen, ob sie noch am Leben ist. Unbegleitet kamen sie nach Österreich. Narges wurde in einem Heim der Don-Bosco-Schwestern aufgenommen. Sie baute aus Spaghetti in fünf Monaten einen Eiffelturm. Sie wollte den Menschen sagen, dass der Terror in Paris nicht islamisch sei: „Das ist nicht Islam. Die sind wie Tiere. Allah hat verboten, Unschuldige zu töten.“ Als ich sie frage, wie es ihr in Stams gehe, beginnt sie zu weinen und sagt: „Jetzt in Stams kann ich zum ersten Mal in die Schule gehen.“ Politikerinnen und Politiker, die solche Erfahrungen machen, taugen zu einer „Politik des Vertrauens“. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.06.2016)

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