Die Schönheit von Utøya

„Expedition Europa“: Oslo, fünf Jahre nach den Morden des Anders Breivik.

Multikulturalismus, Arbeiterbewegung, Islamismus und die Ästhetik von Massenmord – das Denken, ja Aussprechendieser nur filigran verbundenen Themen verbietet sich im Grunde. Dennoch musste ich über Utøya reflektieren. Am 22. Juli sind es fünf Jahre, dass Anders Breivik auf der norwegischen Insel 69 Mitglieder der sozialdemokratischen Arbeiterjugend AUF erschoss. Ich traf einen Überlebenden. Eskil Pedersen leitete AUF 2011, Breivik wollte ihn unbedingt ermorden. Er prägte sich dafür Fotos von Pedersen ein.

Anstoß gab mir ein Essay mit abstoßendem Titel, „Literarische Eloge auf Anders Breivik“. Autor Richard Millet wertet den Massenmörder darin auf weiten Strecken ab, als „exemplarisches Produkt dieser westlichen Dekadenz, in Gestalt eines amerikanisierten Kleinbürgers“. Von einer „formalen Perfektion“ und einer „literarischen Dimension“ der Tat wagt er nur in einem Satz zu sprechen. Dabei entscheidet gerade die Bildmacht von Terrorismus über Leben: Die einstürzenden Zwillingstürme und die Hinrichtungen des IS üben propagandistischen Sog aus, die Attentäter von Paris und Brüssel waren ästhetische Nieten.

Ich ging in den verwaisten Osloer Regierungsbau. Fotos der Opfer. Die Rede des damaligen Premiers, Stoltenberg: „Die Antwort ist noch mehr Demokratie.“ Bilder aus der Geschichte von Utøya: Als der heutige Nato-Chef AUF-Chef war, wurde ein Transparent „Nato-fri zone“ gehisst.

Gemüse statt Scharia-Patrouille

Ich fuhr in das einzige Viertel Norwegens, das den Ruf genießt, die Schreckensvision des wertkonservativen Franzosen Millet abzubilden. Grønland war aber einfach nur gemischt. Pakistan, Nahost, Afrika, genug Norweger auch. Gemüsediscounter statt Scharia-Patrouille. Das Schockierendste war der Hinweis eines Tuchgeschäfts, der Kinder auf den Teppich vor der Kassa verwies.

Eskil Pedersen, 32, homosexuell, trug grüne Wollsocken und eine kompakte Föhnwelle. Er empfing mich beim Schlachthausbetreiber Nortura. 2010 bis2014 AUF-Obmann, nimmt er eine Auszeit von der Spitzenpolitik. Es gab einiges, das sich mir auszusprechen verbot. Die literarische Eloge hatte er nicht gelesen, wie könnte man sie aber auch mit Überlebenden diskutieren. Ich fragte nicht nach den Vorwürfen, die er für seine Flucht von Utøya im einzigen Boot erhielt. Da Breivik als Polizist verkleidet mordete, hatte Pedersen einen Staatsstreich vermutet. Ich fragte auch nicht nach den Vorwürfen für die Wiederaufnahme der Sommerlager. Wo in seiner „Arbeiderpartiet“ die Arbeiter abgeblieben sind, vergaß ich zu fragen.

2016 sah er in Norwegen mehr Demokratie, „die Jugendteilnahme ist höher“. Dass ein kurdisches Flüchtlingskind sein Nachfolger wurde, sei nicht aus Trotz gegen Breivik geschehen. Auch wenn er „nicht viel betet“, unterstützte er bei den Kirchenwahlen die Liste, welche nun die Einführung der kirchlichen Homo-Ehe erzwingt. „Religion wird von Extremisten gekidnappt“, sagte er. „Es wäre absurd, die norwegische Kirche für Breivik verantwortlich zu machen.“ – „Die predigt auch keine Gewalt.“ – „Muslimische Autoritäten auch nicht.“ – „Manche Imame schon.“ – „Hm.“ Den Begriff „Multikulturalismus“ gebrauchte er stets als Realität, nie als ideologisches Ziel. „Was hieße das, gegen Multikulturalismus zu sein? Deportationen?“

2015 hatte er wieder am Sommercamp teilgenommen. „Kann man denn auf UtøyaSpaß haben?“, fragte ich ihn. „Es war so ruhig wie nötig“, erwiderte Pedersen, „wir fanden die Balance. Über Politik diskutieren und dann wieder nur einfach jung sein.“ Ich selber ließ auch diesen Tag wieder in Grønland ausklingen. Das war aber kein Bekenntnis. Oslo ist die teuerste Stadt Europas, den Wein konnte ich mir nur im polnischen Tschecherl leisten. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.06.2016)

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