Magischer Realismus

Wie kommt Kaiser Franz Joseph nach Nicaragua?

Wie kommt unser Kaiser Franz Joseph nach Nicaragua? Das darf wohl doch nur virtuell sein! Wie zum Beispiel im Roman „Der himmlische Gemahl“ von Francisco Goldmann, der in seiner Biografie all das Hybride vereint, wie man es vom „magischen Realismus“ der lateinamerikanischen Erzähltradition erwartet. Goldmann, Sohn einer katholischen Guatemaltekin, die einen New Yorker jüdisch-osteuropäischer Herkunft ehelichte, untergräbt die abendländische Logik mittels kabbalistischer, indianischer, christlicher oder erotischer Wunder und lässt auf diese Weise eine Ex-Nonne zur „Königin der Mosquitia“ aufsteigen. Freilich muss das an Kaiser Franz Joseph scheitern, weil sein „Wiener Schiedsspruch“ von 1881 gegen Großbritannien Nicaraguas Hoheitsrechte über die Atlantikküste („Mosquitia“) bestätigte und die Autonomie der Indigenen verbriefte.

An dieser Stelle flunkert Goldmann ganz und gar nicht. Der Schiedsspruch, historisch echt, zwei Seiten in gestochener Kurrentschrift, liegt im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv. Wenn im 19. Jahrhundert unklare Grenzen für Friktionen sorgten, ersuchten lateinamerikanische Regierungen europäische Herrscherhäuser gern um Schlichtung.

Nicaraguas Atlantikküste, Mosquitia, bewohnt von schwarzhäutigen Indianern, bekehrt von englischsprachigen Missionaren der „Mährischen Kirche“, wurde eigentlich von London beansprucht, was Washington beunruhigte, da man damals einen inter-ozeanischen Kanal durch Nicaragua plante. Kaiser Franz Joseph warf mit seinem Schiedsspruch, verfasst von drei Wiener Völkerrechtlern, die Engländer sozusagen aus dem Rennen.

Rattenschwanz an Folgeverträgen

Bald spielte das keine Rolle mehr, denn dieKanalroute querte schließlich Panama. Trotzdem setzte der Wiener Spruch einen Rattenschwanz an Folgeverträgen frei, welche heute Kolumbien und Nicaragua im Clinch halten. Denn was Wien nie beachtet hatte: Auch Groß-Kolumbien, damals noch mit Panama, beanspruchte die Mosquitia. Nach langatmigen diplomatischen Scharmützeln einigten sich Nicaragua und Kolumbien 1928 auf einen bilateralen Vertrag, in dem Bogotá auf das, was es real nicht hatte – Mosquitia – verzichtete, um sich den San Andrés Archipel, wo Kolumbiens Flagge seit 1821 wehte, bestätigen zu lassen.

Als Dekaden später die internationale Seerechtskonvention die 200-Meilen-Zoneeinführte, rückte Kolumbien plötzlich dicht an Nicaragua heran. 1979 zogen die revolutionären Sandinistas als neue Herren in Managua ein. Ihr Außenminister, Befreiungstheologe Miguel d'Escoto, erklärte den 1928er-Vertrag 1980 für ungültig. Originelle Begründung: Nicaragua sei in den 1920ern von US-Soldaten besetzt gewesen und habe daher über keine volle Souveränität verfügt. Also gehöre der Archipel San Andrés y Providencia Nicaragua. Seit damals schießt Kolumbiens Marine mit scharfer Munition und vertreibt nicaraguanische Fischer aus der eigenen maritimen Hoheitszone.

Inzwischen lässt der Alt-Sandinist Daniel Ortega, unumstrittener Grundherr von Nicaragua, den Streitfall vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag überprüfen, um die eigene 200-Meilen-Zone über den Festlandsockel nach Osten in kolumbianisches Gebiet hinaus auszudehnen. Das hat durchaus Logik, denn China baut an einem neuen interozeanischen Kanal unter Ausnützung des riesigen Nicaragua-Sees. Nach alten Regeln müssten Schiffe, die diesen Kanal karibikseitig anlaufen wollen, weit nach Westen ausweichen, um die kolumbianische Hoheitszone zu respektieren. Gibt Den Haag Nicaragua recht, verlöre Kolumbien seine privilegierte Stellung in der Karibik. Kolumbiens Marine rüstet weiter auf. Kaiser Franz Joseph kann nur noch weinen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.08.2016)

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