Grund und Abgrund

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Lassen wir für einen Moment die Ängste Ängste sein und die Träume Träume. Stellen wir in aller Ruhe Folgendes fest. Ohne Wohlstand, ohne eine ausreichend große, ausreichend optimistische Mittelschicht, die auf eine Zukunft für ihre Kinder hoffen kann: keine Offenheit, keine universellen Menschenrechte, keine liberalen Demokratien.

In meiner Nachbarschaft ist eine Autowerkstatt. Ich komme jeden Tag daran vorbei. Es ist ein kleiner Betrieb, sieben oder acht Menschen arbeiten dort, und wir grüßen einander im Vorübergehen. Dieser Gruß ist einer der wenigen Momente, in denen wir etwas miteinander zu tun haben. Ich besitze nicht einmal ein Auto. Die kennen wahrscheinlich keine anderen Historiker, ich keine Mechaniker. Wir leben in großer Nähe, aber haben doch ganz unterschiedliche Leben. Das ist normal, es stört die Nachbarschaft nicht, im Gegenteil: Es macht sie einfacher.

Vor einigen Monaten hat eine junge Frau in der Werkstatt angefangen, die zweite „Lehrlingin“ übrigens. Die Neue aber unterschied sich leicht von ihren Kollegen. Ihre Haut hatte einen dunkleren Teint, ihre Haare waren schwarz, sie war sehr schüchtern. Ich gratulierte dem Meister zur neuen Rekrutin. „Ah, das ist nicht so einfach“, sagte er. – „Warum nicht?“ – „Sie ist schon aus einer Werkstatt rausgeflogen. Nicht, dass sie nicht gut gearbeitet hätte, aber dort fand man, sie ist keine vonuns.“ – „Keine von uns?“ – „Ja sehen Sie, das ist es. Ihre Mutter ist Wienerin, sie ist gleich ums Eck aufgewachsen, aber ihr Vater kommt aus dem Ausland, aus Vietnam.“ Diese Unterhaltung ist mir in Erinnerung geblieben. EinWiener Mädchen, das wienerisch spricht und hier in der Schule war, bekommt nur schwer Arbeit, weil Kollegen finden, das Mädchen sei „keine von uns“. Aber wer ist es dann? Ein tschechischer oder deutscher Vater wäre vermutlich kein Problem. Ist Vietnam zu weit weg?

Wer ist eine/r von uns? Anhand dieser Frage kann man die gesamte europäische Geschichte erzählen, und es gibt vielleicht heute keine dringendere Frage als diese. Das klingt zuerst einmal sehr eurozentrisch. Alle Gemeinschaften und Kulturen definieren sich dadurch, wer dazugehört und wer nicht. Es ist ganz einfach eine anthropologische Konstante. Ohne „anderen“ keine Identität. Diese Frage hat im Besonderen die europäische Geschichte geprägt. Nach Jahrtausenden von Migration und Besiedlung hatte Europa eine besonders hohe Dichte an Kulturen, Sprachen, Religionen, Traditionen und Ethnien, die aufeinandertrafen, sich untereinander vermischten, neue Gemeinschaften schufen – und die entscheiden mussten, wie sie sich voneinander abgrenzten und wie sie miteinander umgingen.

Politisch war das die Wahl zwischen Unterdrückung und Kooperation. Philosophischund psychologisch war es die nagende Gewissheit, dass wir nicht die einzigen sind, dass es andere gibt, die Dinge anders machen, an andere Götter glauben und trotzdem ein moralisches Leben zu führen scheinen, dass es andere Wahrheiten geben kann als die eigenen. Das Leben mit Unterschiedlichkeit ist ein entscheidender Aspekt der europäischen Erfahrung, das Verschmelzen von Perspektiven und Gruppen.

Das Geschichtsverständnis vieler Menschen ist noch immer einer vertikalen Idee von Geschichte verpflichtet. Europas Vergangenheit besteht aus Säulen, aus Völkern, die auf einem bestimmten Territorium eine bestimmte Kultur leben. Die Österreicher, die Deutschen, die Griechen, die Engländer. Natürlich wissen wir, dass Österreich eine sehr rezente Erfindung ist und viele Österreicher ungarische oder tschechischeWurzeln haben; natürlich haben wir gelernt, dassDeutschland erst seit 1871 besteht und die Bayern noch immer nicht gut dabei leben können; wir wissen um die Vertreibung von Protestanten aus Oberösterreich, von Katholiken aus England; wir wissen, dass die Engländer schon Jahrhunderte vor der postkolonialen Migration ins Mutterland des Empire eigentlich aus Dänen, Sachsen, Norwegern, Franzosen, Kelten, Juden und anderen Einsprengseln bestanden –aber trotz allem denken viele von uns immer noch an Länder und Völker als relativ stabil: eine Kontinuität aus grauer Vorzeit.

Eine jüngere Generation von Historikern hat eine ganz andere europäische Geschichte entdeckt: ein horizontales Geflecht aus Wanderungen, Gegensätzen und Verwandtschaften, das sich unserem nationalen Geschichtsbild entzieht, ein sich dauernd verschiebendes Bild aus Migrationen, Vertreibungen, Neuansiedlungen, Wanderarbeit, Verstädterung – und Emigration, denn bis zum Ersten Weltkrieg (der das traditionelle Problem des Überschusses an jungen Männern beendete) war Europa der weltgrößte Exporteur von Menschen.

Dieses Europa ist ein Kontinent im Fluss, ein Kontinent, auf dem Differenz immer neu ausgehandelt werden muss. Das Leben mit Unterschiedlichkeit: Entweder man erkennt in den anderen einen Menschen, wie man selbst einer ist (und es hilft, wenn der andere das auch tut), oder man sieht in ihnen die Repräsentanten einer konkurrierenden Gruppe, die kontrolliert, unterdrückt, vertrieben oder ausgerottet werden muss. Immer aber stellt sich die Frage: Wer gehört zu uns?

Je öfter und eindringlicher man sich diese Frage stellt, desto mehr Abgründe tun sich auf, denn um sie zu beantworten, müssen wir erst einmal sagen können, wer wir eigentlich sind und wer wir sein wollen, welche Kriterien unserem Sosein zugrunde liegen, was verhandelbar ist und was nicht. Es ist eine Frage, deren Antwort sich mit der Zeit stark geändert hat, und diese Antworten bilden den gesamten Horizont der europäischen Geschichte, von der aufgeklärten Toleranz bis zum Völkermord. Dabei ist aus einer europäischen Situation längst eine globale geworden, denn zuerst der Kolonialismus und dann die Globalisierung der Wirtschaft sowie das Internet haben die Erfahrung des Lebens mit Andersartigkeit in die ganze Welt getragen.

Ich bin Historiker und kein Prophet,doch mit einem historischen Blick auf Strukturen anstatt auf Personen oder Ereignisse ist es relativ deutlich, welche Faktoren die nächsten Jahrzehnte bestimmen und damit auch unsere Gesellschaften transformieren werden. Sie alle kennen diese Faktoren. Ich will zwei davon herausgreifen: den Klimawandel und die Automatisierung.

Durch die Abwanderung ganzer Bevölkerungen, durch Versteppung und Überschwemmung, durch Naturkatastrophen undKriege um Rohstoffe und Territorium, durch unsicher werdende Bündnisse, gefährdeteHandelswege und eine schwierigere Rohstoffversorgung wird auch das Leben des reichen Westens wesentlich berührt. Es wird auch neue und wesentlich größere Migrationsbewegungen in diese Länder geben, mit allen Spannungen.

Die Automatisierung wird einen nicht weniger gravierenden Effekt auf unsere Gesellschaften haben. Eine Studie der Universität Oxford geht davon aus, dass innerhalb der nächsten drei Jahrzehnte unsere Arbeitsplätze fast zur Hälfte verschwinden werden, und es ist schwer, sich vorzustellen, wie die Roboter und Algorithmen, die bald einen großen Teil der Arbeit verrichten, auf lange Sicht zu neuen Jobs für Menschen führen sollten.

Das wirft nicht nur Macht- und Verteilungsprobleme auf, da zwar die Jobs einbrechen, die Produktivität aber nicht sinkt, es stellt uns aber auch vor grundlegende soziale und philosophische Fragen. Wovon sollen die Menschen leben? Brauchen wir ein unbedingtes Grundeinkommen? Und woraus ziehen Menschen, die keinen Erwerbsberuf mehr haben, ihr Selbstwertgefühl, das jetzt so eng mit unseren Berufen verbunden ist? Was für eine Gesellschaft werden wir, und werden wir irgendwann zu lästigen Parasiten einer nicht mehr carbon-basierten, digitalen Zivilisation?

Diese dystopischen, aber nicht unplausiblen Szenarien machen Angst und sind ein Grund, warum besonders in Europa die Zukunft hauptsächlich als Bedrohung gesehen wird. Deswegen wollen Europäer auch keine Zukunft mehr. Sie wollen nur, dass die immer noch privilegierte Gegenwart nicht aufhört. Nach der Party kommt der Kater, aber jetzt feiern wir noch.

Die Frage „Wer gehört zu uns?“ stellt sich dabei am dringlichsten im Fall der Flüchtlinge, die nach Europa gekommen sind. Sie erinnern uns an eine brutalere Welt, an die Gefahren der Zukunft, die wir nicht wollen. Mit ihnen kommt die Frage nach der Möglichkeit einer Integration des Islam in ursprünglich christliche Gesellschaften.

Abgesehen von Debatten über Kopftücher und Burkinis, geht es dabei auch um eine grundsätzliche Frage. Nehmen wir die universellen Menschenrechte dieser Menschen ernst, oder bitten wir sie höflich, ihre Rechte bei sich zu Hause auszuüben? Und wo sind die Grenzen dieser Offenheit, wann löst eine Gesellschaft sich in Communities auf? Wie viel Zusammenhalt, wie viele gemeinsame Ziele braucht eine Gesellschaft, um eine Gesellschaft zu sein?

Wer gehört zu uns? Soll die reiche Welt angesichts einer unsicheren und höchstwahrscheinlich weniger wohlhabenden, weniger friedlichen Zukunft entschiedener für Offenheit und Menschenrechte eintreten und damit den sozialen Frieden und die Kohärenz ihrer eigenen Gesellschaften aufs Spiel setzen, oder soll sie sich in eine alternde Festung Europa zurückziehen und die Ideale aufgeben, auf denen unsere Demokratien begründet sind? Es gibt keine klare Antwort darauf, keine gute Lösung. Wir stehen vor einemunlösbaren Dilemma.

Seit dem Mauerfall 1989 werden diese Fragen nicht mehr von politischen Ideologien beantwortet, sondern von größeren undvageren Narrativen, dieweltweit bemerkenswerte Ähnlichkeiten aufweisen. Es ist eine Wahl zwischen zwei Träumen, die begonnen haben, unsere Gesellschaftsentwürfe zu bestimmen. Einen von ihnen will ich „liberal“ nennen, den anderen „autoritär“.

Der liberale Traum hat seine Wurzeln in der Aufklärung. Er konstruiertMenschen als Individuen mit Rechten und Freiheiten, er sucht Offenheit, Chancen, Vernunft, Gleichheit, Transparenz. Er hat uns die Emanzipation von Frauen und das Ende der Sklaverei gebracht, und er bringt uns einer wirklichen Konzeption von Gleichheit immer näher. All denen, die jetzt die ersten Takte von „Freude, schöner Götterfunken“ zuhören meinen, sei gesagt, dass dieser Traum auch zum Albtraum werden kann und für Millionen von Menschen geworden ist. Der Neoliberalismus führt eine rein ökonomische Version von Freiheit, Individualität und Vernunft zu seiner logischen Konsequenz: Jeder ist freier Akteur im Markt, jeder ist im Wettbewerb mit jedem anderen. So werden aus Bürgern Konsumenten, aus Entscheidungen wird Consumer Choice, Rationalität wird Rationalisierung, ganze Gesellschaften werden, wie schon Karl Polanyi warnte, zum bloßen Annex des Marktes oder selbst zum Markt. Identität formuliert sich durch Konsum, Selbstausbeutung wird zum höchsten Ziel, unser Begriff von Transzendenz (der Ort, wo früher einmal Gott war) räkelt sich unverschämt reich und jung auf unseren Plakatwänden und Bildschirmen.

Auch ohne zur Parodie zu verkommen, hat der liberale Traum eine zentrale Schwäche. Er schafft eine Dynamik, die wir etwas unscharf „die Moderne“ nennen. Er drängt nach Veränderung, und seine Freiheit lädt nicht nur dazu ein, sondern zwingt Menschen auch, sich dauernd neu zu erfinden und zu konstruieren. Er ist nicht gut darin, eine stabile Identität zu schaffen und Stolz in die Gesellschaft zu inspirieren. Mit der dauernden Beschleunigung der technologischen Entwicklung erhöht sich das Tempo der Transformation und droht, Menschen desorientiert und enttäuscht zurückzulassen.

Diese Enttäuschten unddie, die sich oft sehr berechtigt vor sozialem Abstieg fürchten, träumen einen ganz anderen Traum. Die Antwort auf die zermalmende Macht der Moderne liegt für sie im Rückzug in eine ideale Vergangenheit, bevor die Migranten da waren, bevor die Jobs verschwanden, als noch Ordnung herrschte. Dieser autoritäre Traum denkt nicht in Individuen, sondern in Kollektiven und Gemeinschaften. Er spricht nicht von Offenheit und Gleichheit, sondern von Identität und Authentizität. Er richtet sich gegen „die Eliten“ (die Gewinner der Moderne). Er glaubt an die Ungleichheit der Geschlechter und die Natürlichkeit einer „traditionellen“ Sexualität, an unüberbrückbare Differenzen zwischen Kulturen, Ethnienund Religionen, an nationale oder religiöse Größe. Er sucht, in Zygmunt Baumans wunderbarer Wortschöpfung, die „Retrotopie“, die rückwärtsgewandte Utopie. Seine Antwortauf die Globalisierung ist der Mauerbau. Die Aufklärung hält er für einen historischen Fehler, die liberalen Demokratien des Westens für moralisch verkommen, unmännlich und dekadent.

Dies ist der rote Faden, der Donald Trumpmit Recep Tayyip Erdoğan verbindet – und mit Wladimir Putin, den Terroristen des Islamischen Staats und den Hindu-Nationalisten in Indien, mit ultraorthodoxen jüdischen Siedlern in den besetzten Gebieten und mit nationalpopulistischen Politikern in ganz Europa, die sich in Erwartung großer Wahlerfolge schon jetzt die Hände reiben. Sie alle verbindet mehr, als sie trennt, sie alle suchen einfache Antworten auf heillos komplexe Probleme, ewige Wahrheiten statt endloser Kompromisse, eine Politik der harten Hand, den Rückzug in die Nation, ins Kalifat.

Es ist nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich, dass so das Gesicht der europäischen Zukunft aussieht, wenn liberale Demokratien und neoliberale Gesellschaften die Hoffnungen zu vieler Menschen hinter sich lassen. Der Siegeszug des autoritären Traums ist mit der Frage nach Zugehörigkeit verbunden. In Gesellschaften, in denen die soziale Ungleichheit immer weiter steigt, sind Migranten Unglücksboten einer Zukunft, die Angst macht, sie erinnern an ein Land, das nicht mehr vorhanden ist.

Was für eine Ironie, dass wir die homogenen Gesellschaften in Europaden Massenmorden der beiden Weltkriege verdanken! Millionen von Menschen wurden vertrieben, umgesiedelt oder ermordet. Diese Kampagne von Völkermord und ethnischer Säuberung machte die europäischen Nachkriegsgesellschaften weniger divers undeinheitlicher, als sie es jemals zuvor waren.

Heute halten viele Europäer diese Art von Gesellschaft für die historische Norm, obwohl sie es nie gewesen ist. Die Gesellschaften der Nachkriegszeit waren Ausnahmen. Und noch etwas stellt eine historische Ausnahme dar: dass sie liberale Demokratien sind. Liberale Demokratien, die universelle Menschenrechte anerkennen, sind keinenotwendige Gesellschaftsform, auch nicht für kapitalistische, technologisch hoch entwickelte Gesellschaften. Sie sind ein historisches Experiment, und sie können nur unter bestimmten Bedingungen bestehen. Laut dem Politologen Yascha Mounk ist eine dieser Bedingungen steigender Wohlstand, die andere ist eine ausreichend große, ausreichend optimistische Mittelschicht, die sich mit demokratischen Werten identifiziert und die auf eine bessere Zukunft für sich und ihre Kinder hoffen kann.

Vielleicht wird die Automatisierung tatsächlich in reichen Ländern mehr Wachstumschaffen, aber die steigende Produktivität dervergangenen 20 Jahre ist fast ausschließlich den sehr Reichen zugutegekommen, während menschliche Arbeit zunehmend verdrängt wird. Seit Jahrzehnten stagnieren trotzder steigenden Produktivität in der Mitte der Gesellschaft auch die Löhne, nicht jedoch die Preise. Die Mittelschicht verarmt oder fürchtet sich davor und sieht in der Zukunftkeine Hoffnung mehr. Das,was einmal die Arbeiterklasse war, hat sich in ein Prekariat verwandelt. Gering ausgebildete Menschen leben heute mit extremer Unsicherheit, identifizieren sich kaum mitihrer Tätigkeit und den Gewinnern der Globalisierung, arbeiten häufig sehr hart und sindtrotzdem nicht mehr in der Lage, ihr Leben zu finanzieren (besonders in den USA). Sie sitzen in einer Falle, und sie wissen es.

In dieser Konstellation ist es schwer zu sehen, wie das Experiment „liberale Demokratie“ weitergehen kann. Natürlich, es gibt eine Zivilgesellschaft, es gibt starke demokratische Institutionen, aber gleichzeitig lernen Historiker, dass Veränderungen oft dann kommen, wenn sie niemand erwartet. So fing der Erste Weltkrieg an, plötzlich, in einer Kaskade von Selbstüberschätzung und Inkompetenz. So begann auch die Finanzkrise von 2008. Nur unser relativer Wohlstandtrennt uns vom Ausbrechen politischer Gewalt. Noch ein 2008 – und ganz Europa ist eine riesige Weimarer Republik.

Demokratie und Menschenrechte sind genauso fiktional wie jede Religion. Es sind Geschichten, die wir uns über uns selbst erzählen. Wenn wir als Gesellschaften anfangen, uns andere Geschichten zu erzählen, verschwinden diese Ideen aus unserem Alltag – viel schneller, als sie entstanden sind. Erdrutschartige Veränderungen, die niemandfür möglich hielt, können sehr rasch Fakten schaffen, und ihre Konsequenzen sind nicht überschaubar – siehe Brexit.

Es gibt keine unabänderliche Entwicklungvon der Nomadengruppe zur Monarchie undsodann zu liberalen, kapitalistischen Demokratien in einem globalen Markt. Die historischen Zentrifugalkräfte, die an unseren Gesellschaften zerren, könnten den Anfang vomEnde einer bestimmten Gesellschaftsform, einer geteilten sozialen und aufgeklärtenHoffnung bedeuten, das Sterben des liberalen Traums.

Während der gesamten europäischen Geschichte war die einzige Alternative zur frustrierenden Praxis von Toleranz und Integration der Religionskrieg: wir gegen sie, Wahrheit gegen Lüge, Gläubige gegen Ungläubige. Ein solcher Religionskrieg ist – intensiviert durch postkoloniale Probleme – längst ausgebrochen und trägt sein Morden mitten in unsere Städte.

Gleichzeitig sehen wir die ersten Vorboten der enormen sozialen, klimatischen, technologischen und kulturellen Veränderungen, die unser Leben transformieren werden. Vielleicht ist das auch das Ende der liberalen Demokratien, vielleicht erwartet uns ein Leben in einem Orwell'schen digitalen Überwachungsstaat, in dem sich die Reichen völlig abschotten und das, was noch immer wie eine Demokratie aussehen mag, hinter den Kulissen lenken.

Vielleicht aber wählen die Bürger oder Konsumenten auch einfach ihren Diktator,ihren Aufsichtsrat, ganz korrekt und ohne Verletzung des Wahlverfahrens, einfach nur, weil ihnen ein starker Mann gefällt, solange er ihre Eiskästen füllt und ihnen ein Gefühl von Stolz vermittelt. Jede Demokratie kann sich ganz demokratisch abschaffen, wenn sie nicht die Energie oder den Willen hat, sich zu verteidigen. Die Frage „Wer gehört zu uns?“ kann nur beantwortet werden, wenn wir uns darüber einig sind, wer wir sind, was uns ausmacht, wohin wir gemeinsam wollen. Davon scheinen wir weiter entfernt als seit den 1930er-Jahren. Was dabei auf dem Spiel steht, ist sehreinfach: Alles steht auf dem Spiel. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.09.2016)

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