Herr Rubiks weiß Bescheid

„Brüssel zartherb“: Wie sowjetisch ist die EU?

Die EU ist eine neue Sowjetunion“, findet mein einziger Brüsseler Freund, der unglückliche Eurokrat Jacek. Er stiftet mich damit immer wieder zu Vergleichen der beiden Gebilde an. Ich versuchte es zunächst mit einem ästhetischen Vergleich. Für die berühmte Kunst der frühsowjetischen Propagandaplakate fand ich in der EU keine Entsprechung. Fündig wurde ich in einer späteren Periode, auf den sowjetischen Plakaten der Sechzigerjahre, als sich die kommunistische Idee in die jungen Staaten der Dritten Welt ausbreitete. Der harmlose Multi-Kulti-Stil jener Zeit ähnelte durchaus den unzähligen Homepages der Europäischen Kommission. Aus den Hervorbringungen beider Systeme lachen uns häufig Kinder an, ein weißes Kind mit blonden Haaren, ein weißes Kind mit dunklen Haaren sowie ein afrikanisches und ein asiatisches Kind. Und es ist immer sehr hell.

Im Juni wurde ein ehemaliges Mitglied des sowjetischen Politbüros ins Europäische Parlament gewählt. Die Nachricht begeisterte mich, ich musste den alten Herrn kennenlernen. Schon sein Assistent unterschied sich von den Heerscharen junger, dynamischer Assistenten. Anatolij war mindestens reif zu nennen. Der Abgeordnete selbst, 74, erwartete mich kerzengerade sitzend in seinem Büro. Nichts in dem beinahe leeren Raum wies auf Alfreds Rubiks hin, den hübschen schmalen Diwan hatte er von seiner italienischen Vormieterin übernommen.

„Lieber in Lettland“

„Ich würde lieber in Lettland wirken“, sagte der ethnische Lette. In Lettland ist ihm aber das Ausüben politischer Ämter untersagt, von 1991 bis 1997 saß er sogar in Haft, wegen des Vorwurfs eines Umsturzes gegen den unabhängig gewordenen lettischen Staat. Er schenkte mir sein auf Russisch geschriebenes Buch, in dem er die Anerkennung seiner Unschuld fordert. Ob er schuldig oder unschuldig war, dazu hatte ich kein Gefühl.

Wir begannen unser Vorhaben, wir verglichen den „Sowjetskij Sojus“ mit dem „Ewropejskij Sojus“. Meine ästhetische Beobachtung kommentierte er mit den Worten, auf den sowjetischen Plakaten habe es „mehr Humanismus“ gegeben. Der Vergleich zwischen Oberstem Sowjet und Europäischem Parlament kam mir schnell fruchtlos vor. Das sowjetische Parlament tagte nur zweimal im Jahr, während das europäische die sitzungsfreudigste Kammer der Welt ist, mit 44 Sitzungswochen jährlich.

Verblüffender erschienen mir die Parallelen zwischen der sowjetischen Wirtschaftsplanungsbehörde „Gosplan“ und der EU-Kommission. Gosplan plante bis zu 20 Jahre in die Zukunft, auch die Weißbücher der Kommission greifen weit über Legislaturperioden hinaus. Und wie war es im Politbüro? Dort versammelten sich wöchentlich die „Ersten Sekretäre“ der 15 Sowjetrepubliken, dahinter fällt der Europäische Rat zurück. Dass im Politbüro alle Russisch konnten, bezeichnete Rubiks als „großes Plus“. Dolmetscher waren nicht zugegen. Er kritisierte die „Amerikanisierung“ Europas, 90 Prozent aller inoffiziellen Treffen würden auf Englisch abgehalten. Notgedrungen anglisierte sich der gläubige Kommunist gerade selbst, er hatte ein abgegriffenes Handwörterbuch Englisch-Lettisch zur Hand.

Zwischendurch blickte Assistent Anatolij besorgt herein. Er fürchtete, ich würde den alten Herrn überanstrengen. Rubiks war aber von unserem Thema animiert. Er nannte die EU eine „große bürokratische Maschine“, die Abläufe in der Sowjetunion seien effizienter gewesen. „Wenn die EU so weitermacht“, fügte er hinzu, „bricht sie 2015 auseinander.“ Ich fragte ihn, ob er seinerzeit auch das Ende der Sowjetunion vorhergesehen hatte. Er verneinte. „Dafür waren keine Anzeichen da.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.09.2009)

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