„Einer, der modern ist“

Als Komponist schuf er neben Süßlichem auch ein paar Stücke, die für die Epoche des Vormärz eine kleine Sensation sind. Als politischer Revolutionär stand er auf den Wiener Barrikaden des Jahres 1848. Wer war Alfred Julius Becher?

Es geht jetzt ausnahmsweise nicht um ein Gedenk-, Geburtstags- oder Jubeljahr. Die Geschichte des Alfred Julius Becher (1803 bis 1848) wird erzählt. Einfach so. Natürlich nicht „einfach so“. Denn Folgerungen und Courage-Überlegungen für heute sind möglich und – beabsichtigt.

Fakten vorweg: geboren deutsch/dänisch-stämmig in Manchester. Vorfahren: niederer Adel, liberale Geschäftsleute, Offiziere. Der poetisch-musikalisch hochfahrende Jüngling geht schon mit 17 nach Deutschland, studiert in Göttingen, Heidelberg und Berlin und kommt – ganz lege artis für den wachen, widerständigen Künstlertypus der Zeit – wegen „demokratischer Umtriebe“ zum ersten Mal ins Gefängnis. Jurist wird er dann, zum Komponisten und Vielfachkünstler fühlt er sich berufen. Mit dem in Konkurs gegangenen Vater eröffnet er in Elberfeld bei Düsseldorf eine Advokatur. Der Ort ist ein kleines Kulturzentrum gewesen; mit Mendelssohn, Grabbe und Immermann beginnen freundschaftliche Kontakte. Er heiratet 1833 die Tochter eines Bremer Handelsherrn (die bald stirbt), bekommt Kinder (die er nach einiger Zeit einfach fortgibt), gründet ein Handelsblatt, schreibt über Musik, komponiert (sogar Schumann wird auf ihn aufmerksam) – und er haut ab, zurück nach England.

Es fehlt bis heute eine große Becher-Biografie; verdienstvolle Studien, schon überaltert, liefern Anhaltspunkte, lassen aber mehr Fragen wachsen denn Fakten beantwortet sein: 1838 (Becher hat nur mehr zehn Jahre zu leben) Professor für Musikalische Theorie in Holland und dort nach wenigen Monaten wegen missliebiger Kunstkritiken hinausgeschmissen; 1840 in London als Professor an der Musikalischen Akademie (was immer das in Wirklichkeit auch gewesen sein mag); wenige Monate später (und wahrscheinlich wieder nach irgendwelchen Beleidigungen) auf Dauer nach Wien! Seine Traumstadt des Musikalischen. Auch wenn hier dumpfes Vormärz-Biedermeier herrschte. (Es war im Alltagspolitischen und -sozialen eine Epoche, die – beinahe unvorstellbar heute – in den Repressalien gegenüber einer auch nur irgendwie freien Gesellschaft nur mehr mit der DDR in deren letzten 15 Jahren verglichen werden kann.)

Allein, jedes System der gezielt verordneten Unfreiheiten lässt Künstlerisch-Widerständiges an anderen, kaum vermuteten Plätzen wie im Wildwuchs entstehen. Und das erwartet er auch, treibt er mit voran, der Dr. Alfred Julius Becher.

Ottilie von Goethe führt den Mann in fortschrittlichere Wiener Musikzirkel ein. August Schmidt, der legendäre Zeitungsmacher, die Dichter Castelli, Frankl oder Laube, der damals ziemlich einflussreiche Komponist Johann Vesque von Püttlingen, sie verschaffen ihm in Kunstblättern (feiner als das heutige Musikschrifttum in Vielfalt und Resonanz) zunächst Jobs, dann auch einflussreiche Positionen. Becher wird zu einem gefürchteten Kritiker, der – oft und bewusst parteilich – die Klassiker propagiert, manche Moderne wie Berlioz bewundert und im Komitee zur Installierung der Philharmonischen Konzerte sitzt.

Romantisch, leicht kitschig

Er komponiert, „Monologe am Klavier“ werden veröffentlicht, an Schumann und Mendelssohn ist sein Schreiben angelehnt, romantisch, feurig, leicht kitschig. In Planung stehen, und Becher ist da ganz ein Kind der Zeit, Dramenvertonungen der deutschen Klassiker oder oratorial ein „Caesars Tod“. Er wird Mitglied politisch-gesellschaftliche Ventilfunktionen einnehmender Zirkel, „Ludlam“, „Concordia“, „Soupiritum“. Affären machen ihn zum Künstlerstadtgespräch.

Dieser Becher, er blieb so ein in Wien bis dato häufig auftretendes oder gestrandetes Genie ohne Talent. Aber er war, und das geht aus seinen Schriften und Kompositionen hervor, jemand, der eine Ahnung in sich trug, was Kunst sein mag, wohin die Musik führen könnte oder gar konnte (Wagner startete in jenen 1840er-Jahren quasi durch und wurde zum Begriff, Schubert begann man sukzessive zu entdecken, und die schier noch unendlichen Möglichkeiten der Musik, gleichviel ob E oder U, wurden weiträumig bewusster).

Dieser Becher, er hatte einen Spezialfeind, Franz Grillparzer. Ziemlich gemeine Schmähgedichte auf Becher hat der verfasst. (Grillparzer geiferte gern gegen die neue Musik seiner Zeit, aber noch lieber spottete er persönlich über Zeitgenossen. Seine einschlägigen und veröffentlichten Verse sind nur mehr mit hintergründig-gehässigen Poemen in Zeitungskleinformaten heute zu vergleichen.) Während Grillparzer Berlioz zum Beispiel und dessen Musikumgebung als „Nullen“ und ihre Musik als „Gemeinheit“ apostrophierte, Berlioz hingegen Becher „eine träumerische Seele voll harmonischer Kühnheit“ nannte, spitzten sich die politischen und damit die persönlichen Situationen für den Wiener Kunstbetrieb zu. Becher versucht, Konzertakademien für eigene Werke zu veranstalten; man nimmt wenig Notiz von ihm oder lacht ihn aus. (Vielleicht war das auch die bis heute ja übliche Rache der Musikszene, welche zuvor von ihm geschmäht, verhöhnt oder einseitig rezensiert worden war.)

Bestimmend für die letzten Monate wird seine Beziehung zu Karoline von Perin-Gradenstein, mit der Becher in einer für den Vormärz wohl skandalös-freien Beziehung lebt und agiert. Wer war diese interessante, ausfransende Frau? Eine selbstbestimmte Dame, eine kreative Chaotin? Man nannte sie später eine „Demagogin, die vor lauter Langeweile bloß auf die Straße ging, um vor allem die Frauen zu mobilisieren und emanzipierte Weiber auf die Barrikaden zu führen“. Zu zweit werden sie bald zu Außenseitern im Kunst-Wien, während viele die heranziehenden Wolken sehen und sich in innere Emigrationen zurückziehen.

März 1848, Wien brennt, Wien mit mehr als 400.000 Einwohnern die bei Weitem wichtigste vor allem deutschsprechende Stadt der Welt. Es ist hier nicht der Ort, Details aus diesem Datum zu referieren, über kaiserliches Versagen und das Paktieren der Monarchievölker mit- und gegeneinander, über den Straßenkrieg und sein Münden in einen kleinen, aber blutigen Mitteleuropa-Konflikt, über die wüsten Gegenmaßnahmen der Machtinhaber und über beteiligte Künstler von der Akademischen Legion bis zu Johann Strauss junior.

Becher – und wahrscheinlich auch seine Karoline – inszenieren währenddessen ihren Individual-Showdown. Er gründet seine eigene Zeitung: „Der Radikale“. Das Blatt verbreitete Inhalte wie für Revolutionspostillen üblich. Die Monarchie wird geschmäht, Österreich zu einem „innigen Anschluss“ an Deutschland gedrängt, die Revolution „in Permanenz“ gefordert, aber auch Propaganda gemacht, die überrascht („Wir wollen, dass jeder an der Gesetzgebung und an allen politischen Rechten den größtmöglichen Anteil nimmt.“ – „Wir behaupten die Pflicht des Staates, für das geistige und leibliche Wohl der Arbeiter in weitem Umfang zu sorgen“). Außerdem startet Becher eine Kampagne gegen Grillparzer, der aber sowieso schon aus der Hauptstadt geflüchtet ist (sein Abschiedspoem an Becher: „Ein Musiker, ohne Gefühl fürs Schöne, / Treibt jetzt, oh Wunder!, radikale Politik, / War doch sein frühres Geschäft ein Aufruhr der Töne / Und höchst bedrohliche Katzenmusik.“

Wien im Herbst 1848. Becher wird Obmann des „Demokraten-Klubs“ und des „Zentralkomitees der Wiener demokratischen Vereine“; er veranstaltet Novitätenkonzerte und Trauermusiksoireen für die Gefallenen. In Leipzig erscheint ein Artikel, in dem überhaupt nicht auf seine Rolle als politischer Revolutionär eingegangen wird, sondern wo Becher als ein Musiker bezeichnet wird, der „seiner Zeit genial vorgreift, einer, der modern ist“. Becher hingegen will in den 1848er-Monaten nur mehr Agitator sein.

Während Karoline von der wieder erstarkenden konservativen Presse auch schon einmal als „schmutzige Amazone“ beschimpft wird, macht er seinen „Radikalen“ noch radikaler. Er fordert die Freiheit für alle Einzelvölker der Monarchie, steht an vorderster Front während der Herbstkämpfe und – versteckt sich nach der Einnahme Wiens durch die Kaisertruppen. Drei Wochen lang, gehetzt. Man findet ihn halb verhungert in Kellern, verurteilt ihn umgehend, ein paar Abschiedsbriefe sind ihm noch erlaubt (etwa an den Musikwissenschafter Nottebohm: „Vielleicht könnte man in günstigerer Jahreszeit ein Konzert von einigen meiner Kompositionen veranstalten?“). Am 23. November 1848, frühmorgens, wird er vor dem Wiener Neutor erschossen.

Nein, keine Vergleiche jetzt. Solche, die anfangen mit „was wäre heute“ oder ähnlich. Das wäre zu vordergründig. Erlaubt sei aber ein Desideratum nach Musikjournalistik als Diskurs jenseits von zumeist ahnungsloser Konzertkritik und CD-Konzern-Seitenblicken. Und gefragt sei (so ganz still und heimlich), wo denn die Musikerinnen und Musiker unseres Landes und der umliegenden ähnlichen Gebiete öffentlich sind, heute in einer für sie vergleichslos sicheren Zeit, die ihnen so viel Geld und Preise und Krankenversicherungen bietet, wie das diese Zunft noch nie zuvor gekriegt hat. Und deren Output dann auch vergleichslos ist. Anders nämlich, politisch null.

Handschriften in Wien

Aber warten wir halt weiter in dieser trotz Wirtschaftkrisen übersatten Gesellschaft mit ebenso großer musikalischer Beliebigkeit; warten wir halt auf das (nachsingbare, E- und U-Musik gleichermaßen bedienende) Stück, angesiedelt zwischen Globalisierung, Drogen, Krieg und Konsum, auf eine Musik, die nicht mehr daherkommt, verzichtend auf Satzgestaltung, Zeichensetzung und vordergründigen Befindlichkeits-Schmäh wie 2009 gleichviel als Rap, als Volkstümliches, als Hip-Hop, als „Weltmusik“ vor allem. Allein, wer würde sich noch im Auflehnen gegen Repressionen entscheiden wollen: Bin ich nun Grillparzer oder Becher?

Übrigens: Ein Großteil des Becherschen kompositorischen Œuvres ist nie ediert worden, es existiert als bloßes Handschriftenkonvolut in der Wienbibliothek. Da findet man neben Süßlichem oder vordergründig Revolutionärem auch ein paar Stücke, die für die Epoche des Vormärz eine kleine Sensation darstellen. Klavierstücke, motorisch in sich kreisend wie Jahrzehnte später etwa beim jungen Bartók. Oder ein Streichquartett, das hauptsächlich aus Steigerungsfloskeln wie bei Bruckner besteht. Tolle Sachen.

Ja, gleich noch einmal „übrigens“: Es gab vor Jahren jahrelange Bestrebungen, die Sachen drucken zu lassen, herauszugeben als etwas noch unbekannt Besonderes in der sonst an abgegriffenen musikalischen Besonderheiten vollen Stadt. Der benötigte Editionskostenzuschuss wäre ungefähr so hoch gewesen wie einmalige Bewirtungskosten anlässlich von Rathausjubiläumsfeiern für verdiente, in den Ruhestand tretende Bezirkspolitiker. Nicht mehr. Jeder/jede Kulturpolitiker/in winkte bisher ärgerlich-gelangweilt ab. Vom Kulturamt wurde man schließlich nicht einmal mehr einer formalistischen, abschlägigen Antwort für würdig befunden. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.09.2009)

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