Alles für die Kuh

Immer schon wollte ich wissen, wo die Milch wirklich herkommt! Vom Leben und Arbeiten auf einem Bergbauernhof: ein Selbstversuch auf 1200 Meter Höhe.

Der Hof ist etwas Unabhängiges. Von auswärts braucht man nur Kaffee, Zucker, Salz, Tabak, Öl, den Tierarzt, den Arzt, Medizinen,den Priester, während die Außenwelt ihrerseits mit Steuerforderungen, bei Wahlen und bei der Einberufung der jungen Männer zum Militärdienst sich meldet. (Dieses und alle folgenden Zitate stammen aus dem 1973 erstmals erschienen und jüngst als Reprint im Tappeiner Verlag, Lana, wiederaufgelegten Band „Die Erben der Einsamkeit. Reise zu den Bergbauernhöfen Südtirols“ von Aldo Gorfer und Flavio Faganello.)


Melkpremiere.Sieben Uhr morgens. Aha. So fasst sich also ein Euter an. Es hängt wie ein alter, faltiger Sack zwischen den Hinterläufen der Kuh. Fester, als ich immer dachte, gummiartig und von Adern durchzogen. Immer wollte ich schon wissen, wo die Milch wirklich herkommt! Die Zitzen unterschiedlich lang, dick und melkwillig. Jede erst einmal mit feuchtem Lappen abzuwischen, bevor sie „angestrupft“ wird. Anstrupfen, das heißt, den oberen Zitzenansatz mit Daumen und Zeigefinger umschließen und mit Gefühl drücken, bis der erste Spritzer Milch herausschießt. Dann die Melkmaschine aufsetzen. Meine Melkpremiere, auf 1200 Meter Seehöhe, in Südtirol, auf einem Bergbauernhof oberhalb des Passeiertals.

Der Melkschemel, ein hölzerner Dreibeiner, sicher das älteste Stück im weiß getünchten Stall, verrutscht auf dem glitschigen Boden. Worauf die Kuh – war es „Louise“? – einen ihrer unvorhersehbaren Ausfallschritte macht. Jungbauer Johannes bewahrt von so einem Reflex noch eine schmerzhafte Erinnerung am Oberschenkel. Jetzt rutscht aber nur die luftansaugende Gummiwulst eines Melktentakels zischend von der Zitze. Minuten später strömt dann durch alle Schläuche gleichmäßig pulsierend die Milch. Begleitet von Muhen und metallischem Klappern, wenn die Viecher im ledernen Geschirr an ihren Ständen schubbern. Meditative Geräuschkulisse.

Nach zehn Minuten ist der Bottich gefüllt, das Euter leer. Johannes und Hermine, die Bäuerin, melken die Tiere stets in gleicher Reihenfolge, kippen die Bottiche in den 100-Liter-Tank im Nebenraum, wo die kuhwarme Milch sofort gekühlt wird. Wie schwer so ein Bottich ist! Und erst der fünfte und zehnte. Besonders auf nüchternen Magen, wenn rechts und links der Stallgasse die Fladen über Nacht erheblich angewachsen sind. Würzige Luft oder ammoniakhaltige Pestilenz? Ich beschließe, mich vom Gestank nicht persönlich beleidigen zu lassen, als die Bäuerin zugibt, dass sie ihn manchmal auch nur schwer aushält. Das Tier hebt den (hochgebundenen) Schwanz, und wässrige Kotstangen platschen lange auf den Boden, vom anderen Ende des Stalls schießt ein grünlich-gelber, dampfender Urinstrahl zu Boden, wie als Antwort. Bis zu 180 Liter Wasser pro Tag wollen verdaut werden. Dann legt ein Grauvieh los, das immer so provokant schräg in seinem Stand steht und der Nachbarin den Platz streitig macht. Und ergänzt die animalische Polyfonie um eine weitere Stimme.

Zehn Kühe, ein paar Jungstiere, in einem Extrastall ein Kälbchen, das morgens und abends fünf Liter Milch gierig wegschlabbert. Namen und Geburtsdatum sind mit Kreide auf einer Tafel über jedem Tier vermerkt. Johannes und Hermine kennen sie alle mit ihren Eigenheiten und Empfindlichkeiten. Eine Kuh mochte neulich nicht mehr fressen. Der Tierarzt kam, ein schweigsamer kleiner Mann im weißen Kittel, und gab eine Antibiotikaspritze. Die Spritze wirkte, der Kuh geht es besser.

Je länger ich sie anschaue, desto fremder werden die Rinder. 600, 700 Kilogramm Fleisch, gehalten von vier dünnen, knochigen Beinen, den Blick ins Irgendwo gerichtet, mit samtigen Nüstern und kräftiger Zunge, ein ausladender, niemals ermüdender Muskel zur Aufnahme von frischem Heu und Maische für tägliche 30.000 Kaubewegungen. Ich gewinne sie lieb. Mit dem Schieber drücke ich die immer neu produzierten Fladen ein wenig motivierter in den Gitterrost auf dem Boden. Sie verschwinden, mit Wasser und Urin verdünnt, im riesigen unterirdischen Gülletank vor dem Stall.

8.50 Uhr. Die Milch fließt wie weißes Gold aus dem Tank in vier silbrig schimmernde Kannen. Johannes schaltet das Kühlaggregat aus, es ist wieder still. Eine der vielen Hofkatzen leckt wie jeden Morgen Flecken verschütteter Milch in der Stallgasse auf. Mit dem Schubkarren befördere ich die Kannen zu einer kleinen Seilbahn vor dem Stall. Im Holzkasten fahren sie gemächlich talwärts, bis zur Straße, auch eine Probe Milch von der Kuh, die Antibiotika bekam, liegt bei. An der Straße kommt um neun Uhr der Lieferwagen der Molkerei vorbei und bringt die leeren Kannen zwei Stunden später zurück.

Am Nachmittag kommt per SMS die Nachricht vom Labor, dass sich keine Antibiotikaspuren in der Probe fanden. Die Molkerei zahlt im besten Fall, bei fettreicher und keimarmer Milch, 52 Cent pro Liter. Die Bäuerin Hermine weiß, dass das vergleichsweise viel ist, viel mehr als in Österreich oder Deutschland. Aber 100 Liter pro Tag! Das ist gerade so viel, dass der Hof überleben kann. Ohne Urlaub und freie Tage.


Wir wollen den Speisezettel des Hofes erfahren. Sie haben nichts dagegen, im Gegenteil, es belustigt sie. Es beginnt am Morgen mit „Supp und Muas“, zu Mittag gibt es Knödel, Kraut, Schaf- oder Schweinefleisch und Kartoffeln, hie und da auch ein Glas Wein, „der zu viel kostet“, als dass man ihn öfter trinken könnte. Zum Abendessen gibt es Suppe, Brot und Erdäpfel. Zwischen den Hauptmahlzeiten gibt es noch am Vormittag das „Holbmittog“ mit Brot, Speck oder Käse, dann dasselbe zur Marende, so dass also fünfmal am Tag gegessen wird.

Mahlzeit.Die Küche ist niedrig, der Herd wird wie das ganze Haus mit Holz geheizt, ein paar altertümliche Utensilien hängen an der Wand, in die noch ein (nicht mehr benutzter) Ofen zum Brotbacken eingelassen ist. Auf dem Fensterbrett liegen in rätselhafter Symmetrie zwei Katzen und schauen hinein. Um den Tisch herum sitzen Sepp, der Knecht, der Bauer Franz, Johannes, Hermine und ich. In der Mitte des Tisches steht eine Schüssel Salat, aus der sich alle bedienen. Herzhaft geht es zu, die Arbeit zehrt, Hermine achtet darauf, dass zum Essen immer alle anwesend sind: zum Frühstück um neun, zum Mittagessen gegen zwölf, zur Jause gegen 16, zum Abendessen um 19 Uhr.

Johannes richtet einfache Fragen an seinen Vater, der erst vor einigen Wochen aus dem Krankenhaus gekommen ist. Wie ihm die neue Kuh gefalle? Ob es ihm schmecke? Ob er gut geschlafen habe? Der Vater ist ein halbes Jahr im Krankenhaus gelegen, nach mehreren Operationen wegen eines Gehirntumors. Die Ärzte hatten ihn schon aufgegeben. Franz, Mitte 50, bekommt alles mit, aber sein Sprachzentrum ist geschädigt, und er kann nicht mehr arbeiten. Er spricht nicht – und wenn doch, dann nur ein, zwei Worte. Franz war 30 Jahre lang Seilbahnführer in der Nachbarschaft. Er hat viele Freunde und Bekannte. Wenige kommen ihn jetzt besuchen. Manche sagen, sie hielten es nicht aus, dass er nicht spricht. Es geht allen darum, Franz wieder zum Sprechen zu bringen. Hermine kocht ihm seine Lieblingsspeise – Milchmus –, und ihr Mann löffelt die Schüssel konzentriert und unerbittlich langsam aus, bis sie fast wieder wie unbenutzt aussieht.

Johannes hat seine Arbeit als Metzger aufgegeben, um auf dem Hof die Arbeitskraft des Vaters zu ersetzen. Sehr viel Verantwortung, tausend Einzelheiten lasten auf einmal auf dem 28-Jährigen. Maschinen kaufen, instand halten, die Kühe versorgen, Heu machen, die Wiesen säubern, Wasserleitungen reparieren, Holz für den Winter schlagen, einfahren und im Schuppen stapeln. Vor Kurzem ist ihm seine Freundin weggelaufen; es scheint, dass sie es sich doch nicht vorstellen konnte, auf dem Hof zu leben. Für sein Hobby, Motocross, bleibt nicht viel Zeit. Johannes weiß nicht, wie lange er das so weitermachen will.

Am Tisch wird auch über die Zukunft gesprochen, die Zukunft des Hofs. Sie ist ungewiss, so wie der Krankheitsverlauf des Vaters. Sepp, der Knecht, untermalt das Gespräch immer wieder mit unmotiviertem Gelächter. Seine Rede ist kaum zu verstehen, und auch wenn ich konzentriert zuhöre, erfasse ich nur einen Bruchteil seines Dialekts. Hermine sagt, auch im Dorf verstünden ihn viele nicht. Sepps stets auf hohem Niveau liegender Alkoholpegel trägt auch nicht dazu bei, das zu ändern. Manchmal wird sein Redefluss, während ich mich an Hermines vorzüglicher Bauernküche labe, zu einem Rauschen. Später merke ich, dass es für Sepp keinen großen Unterschied macht, ob ich seine Ausführungen kommentiere, etwas vollkommen Unpassendes antworte oder einfach nur alle paar Minuten in seine Richtung nicke. Vielleicht empfindet auch er seine Worte als ein beruhigendes Rauschen?

Sepp, Mitte 50, klein, drahtig, hat nie eine Familie gegründet, er bewohnt ein kleines Zimmer und möchte keine Frau. Er lebt von einem Taschengeld. Seine alte Mutter wohnt in einem anderen Tal, sie wurde, heißt es, wie er selbst auch von seinem Bruder vom Hof geworfen. Wenn Hermine für einen Moment aus der Küche geht, macht sich Sepp mehr oder weniger heimlich in der Vorratskammer zu schaffen: Er sucht nach einer neuen Weinflasche. Findet er eine der bauchigen Literflaschen Tafelwein, ist sie bald leer und der Arbeitstag gelaufen. Deshalb bekommt er von Hermine kleinere Dosen und für den Durst zwischendurch Bier. – Ich bewundere Hermine von Anfang an für ihre Art, alle am Tisch zusammenzuhalten. Sie ist ursprünglich keine Bäuerin, sondern hat lange als Verkäuferin in einem Warenhaus gearbeitet. Sie hatte immer Angst vor Kühen. Kaum zu glauben, wenn ich sie jetzt furchtlos die schweren Tiere im Stall zur Seite schieben sehe, um die Melkmaschine ansetzen zu können. Hermine führt ein liebevolles Regiment in der Küche. Zum Nachtisch gibt es Apfelstrudel. Dann schaltet Hermine dem Franz in der noch vollkommen holzgetäfelten Stube den Fernsehapparat ein. An diesem Abend wird die Vorausscheidung des „Grand Prix der Volksmusik“ übertragen. Hermine stellt den Ton laut, er hallt heraus in die Küche. Franz mag Volksmusik, Sepp fängt an zu tanzen und die Melodien, so gut es geht, mitzusingen.

Johannes muss, wie jeden Abend, noch einmal in den Stall. Die Kühe werden über Nacht in ihren Ständen angebunden, so dass sie nicht überall hinscheißen können, sondern nur in der Nähe des Gitterrosts. Sepp ist verschwunden. Sein Zimmer hat einen separaten Eingang am Hof. Hermine räumt den Tisch ab und spült das Geschirr. Sie würde nie zugeben, wenn ihr etwas zu viel wird. Aber die ganze Mühe jeden Tag für das, was dabei herauskomme, lohne sich nicht, nein. Früher waren viele Menschen auf einem Hof, Familie, Knechte, der Bauer konnte delegieren. Heute gibt es Maschinen, aber auf den Höfen ist kaum jemand mehr, der Bauer muss alles selber machen, 365 Tage im Jahr, und darf nie ausfallen, und genau das ist vor einem halben Jahr passiert.


Katrina kam aus der Küche. Sie war überrascht. Wer wird denn wohl mitten im Winter nach Vorra heraufkommen? Die Küche ist ein dunkles, in den Felsen gehauenes Loch, schwarz von Rauch und Ruß. Jahrhundertealter Ruß haftet an den Felswänden. In großen Nischen liegen Pfannen und andere ärmliche Gerätschaften. Von der Decke hängt Speck und Geselchtes. Damit genug Licht hereinkommt, muss man entweder die Tür offen lassen oder eine Kerze anzünden.

Italien.Martin, Johannes' jüngerer Bruder, kocht an diesem Tag, ich helfe ihm in der Küche beim Schneiden Dutzender San-Marzano-Tomaten, die er für einen Sugo braucht und die gleich in der ausladenden Eisenpfanne landen. In den Sugo rührt Martin, kurz bevor er die Pasta hinzugibt, Mozzarellakugeln. Martin ist 23, hat schon einiges von der Welt gesehen und einen klaren Blick auf die Verhältnisse in Südtirol. Er arbeitet in einem Ingenieurbüro. Martin sagt: „Südtirol ist so, dass die Gesellschaft hohe Ansprüche an die Bevölkerung stellt. Denen soll jeder gerecht werden, und wenn er nicht gerecht werden will, dann wird er halt meistens a bissel ausgeschlossen. Das ist schad, dass sie die anderen Leute, die nicht so denken, ausgrenzen. Ein Zusammenleben ist nicht da! Es ist ein Scheinzusammenleben zwischen Deutschen und Italienern und Ladinern und allen. In der Bevölkerung wird es als Druck gesehen, dass man mit den Italienern klarkommen muss. Wenn man mehr mit Italienern zu tun hat, gibt man sich auch mit denen ab, aber da, wo ich wohn, da sind nicht so viele Italiener. Man duldet sichzwar, aber so eine richtige Liebe kommt nicht auf bei mir persönlich! Alles, was die können, ist kochen“, sagt Martinnoch in Richtung Süden, Italien. Er wohnt bei seiner Freundin in derStadt, am Wochenende übernachtet er auf dem Hof. Schraubt an seinem Motorrad, das aufgebockt in der Werkstatt steht. In einer Ecke ein violetter Fleck: die Ruine einer Vespa. Martin füllt Gemisch nach, bringt das eingerostete Bremspedal in Ordnung und dreht eine Runde über den Hof, die Hühner flattern kurz auf. Vespa ist Kult in Südtirol. Dann übergibt er mir stolz die „Südtiroler Veschpa“, an der nur noch das Nötigste dran ist. Ich knattere bis zur Kehre, wo die Hofzufahrt auf die Straße trifft. Geruch von Öl und Lärchenwald. Auf dem Weg zurück fällt mir zum ersten Mal das große Kruzifix vor dem Hof auf. Und das Schild mit der Aufschrift „Vorsicht, bissiger Hund!“. Einen solchen gibt es hier nicht, er ist längst gestorben.


Zwei Dinge auf den Höfen beeindrucken in erster Linie: die angeborene Fähigkeit, sich an jede Situation anzupassen, und der Gemeinschaftssinn. Meiner Ansicht nach sind es universelle Werte, die die moderne Gesellschaft verloren hat, weil sie sich aus Angst vor Schmerzen in Egoismus und Gleichgültigkeit zurückgezogen hat. Und doch sind beide Eigenschaften zum Leben notwendig: Ohne spontane Anpassungsfähigkeit und ohne Gemeinschaftssinn, ohne das gegenseitige Helfen und Verstehen könnten die Leute auf den Berghöfen nicht weiterleben.


Arbeit. Johannes schwingt sich auf den Fahrersitz des „Berg-Trak“, zündet sich eine Zigarette an, und das geländegängige Fahrzeug quält sich röhrend die Wiese hinter dem Hof hinauf. Hinten an der Aufhängung hält Sepp sich fest, auf der anderen Seite bin ich. Die Wiese, wo bald gemäht wird, muss sauber gemacht werden. Zuvor soll eine riesige Fichte gefällt werden, hat Johannes beschlossen. Der Baum steht knapp oberhalb der Wiese, und jedes Jahr ärgert sich Johannes wieder, dass Zapfen und Zweige aufzuheben sind.

Ich mache eine baumfreundliche Bemerkung, die wohl nur einer aus der Stadt machen kann, und Johannes schaut mich entgeistert an. Den Baumriesen umschließt er mit einem Stahlseil, spannt das Seil um einen anderen Baum, damit die Fichte nicht in die Hochspannungsleitung fallen kann, die über die Wiese verläuft. Johannes setzt sich einen Helm auf, die Kettensäge fräst heulend einen Keil aus dem Stamm, um die Fallrichtung festzulegen, dann treibt er die Säge tief in den Stamm hinein. Sepp und ich stehen abseits. Der Jungbauer schlägt mit dem Hammer auf den Kunststoffkeil, um der Schwerkraft nachzuhelfen. Die Windböe, die die Fichte mit ihren ausladenden Ästen beim Fallen auslöst, ist gewaltiger, als ich es mir je vorgestellt hätte. Ein letztes Seufzen und sekundenlang intensives Harzaroma dicht an der Nase. Dann schlägt der Baum federnd auf die Wiese auf, wippt nach, liegt still. Vogelzwitschern, als sei nichts gewesen.

Johannes streift den Helm ab und reißt kurz den Arm hoch. Gewonnen. Er sägt den mächtigen Stumpf durch, der schwer die Wiese herunterkollert. Das Stahlseil hängt er an den „Berg-Trak“, der den gefallenen Riesen zu Tal schleppt. Die Äste fräsen Spuren in die Wiese. Johannes trennt die Äste vom Stamm, Sepp und ich machen uns daran, jeden einzelnen mit einer Art Sichel zu entasten. Nach drei Stunden liegt der Baum skelettiert wie ein Fisch auf sonnendurchglühter Wiese. Aus den Zweigen werden Reisigbündel, mit denen sich leicht Feuer im Herd machen lässt; der Stamm und die Äste werden unten im Hof gespalten, zersägt, und dann im Schuppen gestapelt. Der Winter kommt bestimmt.

Pause mit Limonade, Bier und Zigaretten im Schatten der Bäume. Am Wiesenrand blüht der Enzian. Johannes schaut zufrieden den Hang hinauf und beschimpft den Baum noch im Nachhinein. Dann lesen wir jeden Zapfen und jeden Zweig auf der Wiese akribisch auf. Auf den steilen und weniger steilen Wiesen, die zum Hof gehören: 6,7 Hektar. Im Heu später dürfen weder Zapfen noch Zweige stecken: Kühe sind empfindlich und ihre vier Mägen auch. Nachdem die Wiese endlich „besenrein“ ist und alles, was nicht hinauf gehört, in Johannes' Wald gekippt, marschieren Sepp und ich, die Heugabel auf der Schulter, schweigend dem Tal zu, Enzian leuchtet an seinem Hut.

Sie sind unabhängig und selbstgenügsam. Sie sind kleine Unternehmer, nur in einer schlechteren Lage. Sie müssen alle Wagnisse eingehen, die mit der landwirtschaftlichen Arbeit im Gebirge verbunden sind. Sie haben noch nicht begriffen, dass der Boden nicht mehr so geschätzt wird wie in vergangenen Zeiten. Auch der Fremdenverkehr scheint nicht so sicher zu sein. Beim Platt-Hof haben sie eine Jausenstation mit einer Kegelbahn eingerichtet. Den Bauern gefällt es, miteinander im Gasthaus ein Glasl Wein zu trinken. Das ist ihre freie Zeit. An die Zukunft denken nur die wenigsten. Und Geld hat keiner.


Nähe der Kühe. 19 Uhr. Der Knecht Sepp striegelt mit einem groben metallenen Kamm Bauch und Beine der Kühe und raucht. Seine Lieblingstätigkeit, das wissen alle, Sepp scheint ganz bei sich zu sein. Hermine hat ihren Mann auf einen Sessel mitten in die Stallgasse gesetzt, damit er beim Melken und Ausmisten dabei sein kann. Ich schiebe Mist in den Gitterrost. Da erhebt sich Franz langsam und will zu einer Schaufel greifen. Die Bäuerin eilt herbei und stützt ihren kräftigen Mann, der sich doch allein kaum halten kann. Was ist los? Klar und deutlich antwortet Franz, eine Kuh stehe im Dreck. Hermine lacht frohgemut, fast spitzbübisch in meine Richtung. Wir tauschen einen Blick und denken ganz kurz, bald werde sicher alles wieder wie früher, wie vor der Krankheit. Und dass vielleicht die Nähe der Kühe heilsam ist. Ich merke, wie mir bei Franz' unverhofften Worten ein Schauer über den Rücken läuft. Dann versinkt der Bauer wieder in sein Schweigen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.09.2009)

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