Wie frei ist unser Wille?

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Willensfreiheit: „hard problem“, unlösbares Problem der Philo- sophie? Doch was, wenn es in Wahrheit gar kein Problem wäre? Weil so etwas wie ein „freier Wille“ nicht existiert. Traktat über eine Illusion.

Philosophie“, sagt Daniel Dennett,„ist das, was man macht, wenn man die richtigen Fragen noch nicht kennt.“ Und ein „philosophisches Problem“, so möchte ich hinzufügen, ist, im Unterschied zu allen anderenProblemen, die keine philosophischen Probleme sind, ein solches Problem, dessen Status als Problem selbst problematisch ist –und mit einem solchen Problem haben wir es hier zu tun.

Problematisch ist das Problem der „Willensfreiheit“ unter anderem deshalb, weil nicht einmal klar ist, ob das in Frage stehende Phänomen real überhaupt existiert oder ob es sich nicht vielmehr um einen rein semantischen Effekt handelt: um ein Phänomen, das kategorial durch Benennung erst entsteht. Das ist bei philosophischen Problemen öfter der Fall, ja vermutlich sogar die Regel, und deshalb werden diese auch in den seltensten Fällen „gelöst“, sondern durchbegriffliche Strategien, d.h. durch Neubeschreibung des zur Debatte stehenden Sachverhalts, reformuliert, transformiert undgelegentlich „aufgelöst“, d.h. als Problemzum Verschwinden gebracht. Die philosophische Tradition spricht dann, wenn soeine Strategie Erfolg hat, gern von „Scheinproblemen“, was aber selbst wiederum einproblematischer Zug ist, denn die Beunruhigung, die von dem Problem in der ursprünglichen Fassung ausging, wird man dadurch nur in den seltensten Fällen los, weiles oft gerade der Schein selber ist, der das Problem darstellt. Wennmich nicht alles täuscht, ist genau das hier der Fall. – Ein erstes Indiz dafür sehe ich in der semantischen Instabilität der begrifflichen Fassung des Willensphänomens selber, wie sie sich in der Geschichte des Denkens zeigt. In den modernen europäischen Sprachen bezeich-
nen das Wort „Wille“ und seine Äquivalente den bewussten Handlungsimpuls ohne Rücksicht auf seinen möglichen Ursprungin der verstandesmäßigen Überlegung oder der emotionalen Verfassung. Das Wort bezeichnet eine eigenständige, der subjektiven Selbsterfahrung zugängliche psychischeEntität mit unmittelbaren Auswirkungenauf die je eigene physische Motorik und in der Folge auf die weitere äußere Objektwelt. Wille ist „die Energie für das Handeln, die dem Bewusstsein zur Verfügung steht“ (C. G. Jung).

In einer ganzen Reihe von ethischen und psychologischen Theorien hat dieser Willensbegriff im Lauf der europäischen Philosophiegeschichte seine Ausdeutung erfahren. So wurde zum Beispiel der Begriff des „guten“ oder „bösen Willens“ zu einem wichtigen, wenn nicht dem wichtigsten Bezugspunkt in der Lehre von der moralischen Bewertung des Handelns. Die Vorstellung von einem Willen, den man sich getrennt vom Verstand auf der einen, von Instinkt, Trieb oder Emotion auf der anderen Seite zu denken habe, ist zentral für die moderne philosophische Anthropologie.

Das war nicht immer so. Denn die griechische Sprache besaß kein Wort, um das Willensphänomen in dieser Isolierung zu bezeichnen, und die klassische griechische Philosophie kannte daher auch nicht die Dilemmata und Aporien, die aus dem Begriff eines „freien Willens“ entspringen. Von den beiden Verben, die man üblicherweise mit „wollen“ übersetzt, bezeichnete das erste, boulomai,vor allem das verstandesmäßige Planen, dasder Handlung vorausgeht, das zweite, (e)thelô, bedeutete lediglichso viel wie „gefasst sein,disponiert, bereit sein“. Das Wort noos, mit demdas Erkennen, Planenund Denken des Menschen bezeichnet wird, steht allein oder zusammen mit thymos als Ausdruck für den Antrieb, die Leidenschaften, die Lebensweise oder Lebenshaltung eines Menschen. Es gibt im klassischen griechischen Denken zwischen Trieb und Handlung oder Überlegung und Handlung keinen Willen, den man als selbstständigen Faktor isolieren und moralisch bewerten könnte. Das moralische Urteil über eine Handlung bezieht sich auf die intellektuelle Leistung, die mit dem Entschluss zum Handeln erbracht wird. Noos kann diese Funktion übernehmen, weil die intellektuelle Komponente im Urteil über das menschliche Wesen das meiste Gewicht hat, thymos, weil sich dieser irrationale, vom Intellekt getrennte, aber von ihm kontrollierbare Faktor unmittelbar in den Handlungen zeigt. Diese Psychologie bestimmte seit Homer das griechische Denken. Es kommt nicht zur Konzeption eines aparten Willensbegriffs, der diese Faktoren subsumiert oder integriert. Vielmehr bildet die Zweiheit Verstand–Leidenschaft dieGrundlage der Theorie, und das, was man heute „guten“ oder „bösen Willen“ nennen würde, kommt nur in jeweils spezifischen Kombinationsformen von noos und thymosin den Blick. Entscheidend für die rechtliche und ethische Beurteilung einer Handlung bleibt allein der Grad ihrer Bestimmung durch den Verstand.

Diese Psychologie, die vollkommen ohne den Begriff eines „freien Willens“ auskommt,war in keiner Weise defizitär, sondern bot durchaus die Möglichkeit, subtilste Beobachtungen und Einsichten wiederzugeben, wie man zum Beispiel an den attischen Dramen sehen kann. Leidenschaft und Erkenntnis und ihr Wechselspiel, das zum Zustandekommen menschlicher Handlungen führt,sind dort in immer wieder neuer Weise beschrieben und analysiert. Wo moralisch richtiges Handeln ausschließlich als Funktion intellektuell richtiger Einsicht gilt, kann, ja muss Unwissenheit oder Dummheit als moralische Schlechtigkeit verstanden werden. Die für uns befremdlich wirkende sokratische Lehre, dass niemand mit Absicht Böses tue, war tief im griechischen Denken verwurzelt. (Aber sie allein, dies nur so nebenbei, versetzte uns heute in die Lage zum auch moralisch angemessenen Verständnis ideologisch motivierter politischer Großverbrechen!)

Die Vorstellung von einem „guten Willen“,der auch bei eingeschränktem Erkenntnisvermögen den Menschen davor bewahren könnte, moralisch schlecht zu handeln, gab es nicht. Es gab einfach keinen „freien Willen“ im Sinne späterer Anthropologie, der als Referenzgröße moralischer Zuschreibungen hätte dienen können. Das volitive Moment war gleichsam ein Lateraleffekt vonVerstandesfunktionen, es wurde begrifflichnicht isoliert. Das gilt für die homerische Welt bis herauf, über Sokrates vermittelt, zu den großen hellenistischen Schulen Stoa, Epikureismus und Skepsis. Alle drei Schulen waren materialistisch in dem Sinne, als sie die Annahme einer intelligiblen Realität jenseits der sinnlich fassbaren verwarfen, und sie waren eudämonistisch und nonvoluntaristisch.

Die stoische Ethik, die sicherlich elaborierteste der drei konkurrierenden Schulen, insbesondere in ihrer Spätform bei Panaitios, suchte die Eudämonie in der Apathie(die Skepsis in der Ataraxie) durch Katalepsis, d.h. durch intellektuelle Erfassung der Ordnung der Welt, zu gewinnen, und zwar auf dem Wege der Synkatathesis, der freien Zustimmung der Vernunft zur Heimarmene, der kausalen Determination, und Einsicht in die Pronoia, das unausweichliche Schicksal: Denn für die stoische Philosophie ist alles, was geschieht, in derselben Weise und durch dieselbe schicksalhafte Vernunftordnung vorherbestimmt wie der Lauf der Gestirne. Der stoische Weise lebt orthos logos,und Tugend ist ihm „Einsicht in die wahren Wertverhältnisse“, also ein rein intellektueller Akt. „Non pareo deo sed assentior“ – „Ich gehorche Gott nicht, ich stimme ihm zu“, heißt es bei dem Stoiker Seneca.

Das Griechische besaß also kein Wort, das der Terminus für den Willen an sich hätte werden können. Wörter wie prohairesis oder bouläsis hatten, gerade in der philosophischen Terminologie, allzu starke intellektualistische Konnotationen. Demgegenüber kannte die römische Jurisprudenz das Wort voluntas, das in der Tat den Willen schlechthin bezeichnete. Aber dieser juristisch imprägnierte Willensbegriff war ein hermeneutischer Begriff ohne psychologisch-ethische Implikationen.

Die Philosophiehistoriker sind sich darübereinig, dass der Willensbegriff, wie er als Mittel theologischer Spekulationen und philosophischer Analysen von der frühen Scholastik bis zu Kant, Schopenhauer und Nietzsche in den verschiedensten Zusammenhängen Verwendung gefunden hat, erst von Augustin entwickelt worden ist. Augustin war gewissermaßen der „Erfinder“ des „modernen“ Willensbegriffs, denn er tat den entscheidenden Schritt, den juristisch-hermeneutischen Willensbegriff des römischenRechtsdenkens in einenanthropologischen zutransformieren. Für dieGeschichte des europäischen Denkens war dieser Schritt, der aus ei-
ner theologischen Notwendigkeit, nämlich der Abwehr der Gnosis, heraus vollzogen wurde, in höchstem Maße folgenreich. Denn durch diese Strategie der Abwehr der Gnosis – „Der Katholizismus istgegen Marcion errichtet worden“, schreibt Adolf von Harnack lapidar – kam ein Problem auf die Welt, das der kosmosaffirmative Intellektualismus der klassischen Philosophie in dieser Form nicht gekannt hatte: das Problem der Freiheit des Willens.

Fünf Jahre nach seiner Abwendung vom Manichäismus und ein Jahr nach seiner Taufe schreibt Augustin das erste Buch „De libero arbitrio“, mit dem, gegen die Gnosis und zur Entlastung des guten Schöpfergottes, dem Menschen ein neuer Begriff von Freiheit zudefiniert wurde, der damit die volle Verantwortung für die Übel und das Böse in der Welt übernehmen sollte – eine frühe und äußerst folgenreiche Form der „Theodizee“, wenn man so will, mehr als ein Jahrtausend vor Leibniz, von dem der Begriff stammt. Im Kern ist es dieses Theologumenon, welches, trotz der vielfältigen Umgestaltungen und Säkularisierungen, denen es in der Folge unterworfen werden sollte, die Frage nach der Willensfreiheit in der Geschichte des abendländischen Denkens moralphilosophisch, erkenntnistheoretisch und ontologisch so überaus brisant macht, bis herauf zu den gegenwärtigen Debatten um Freiheit versus Determinismus angesichts der Befunde empirischer Hirnforschung.

Vor dem Hintergrund der skizzierten Vorgeschichte in der griechischen Philosophie kann man sagen, diese Brisanz sei augustinisches Erbe: Die mit „De libero arbitrio“ eröffnete Forcierung des Begriffs eines „freien Willens“ eröffnete nämlich eine Reflexion auf die rekursive Struktur des Willens, der nicht nur dieses oder jenes, sondern primär sich selbst als Bedingung seiner konkreten Wahlmöglichkeiten will, was entweder zu ei-nem infiniten Regress oder zu einem selbst wieder willkürlichen Abbruch der Reflexion führt: Denn der Wille, der sich selbst will, ist nur dann frei, wenn er sich selbst auch nicht wollen kann.

Hier versagt die Rationalität, und sie wird bei Augustin auf den Gnadenweg der absoluten Prädestination verwiesen – eine theologisch konsequente Lösung. Der Philosophie aber ist dieser Ausweg in eine transzendente Offenbarungswahrheit versagt, sie bleibt als weltliches Immanenzsystem in der inneren Aporie des Begriffs gefangen.

Trotz dieser offensichtlichen Aporie istdas Konzept eines „freien Willens“ sansphrase die unverzichtbar scheinende Grundlage unseres gesamtenmoralischen Universumsund unseres modernen Rechtssystems; deshalb die aufgeregten Debatten um die Befunde
der empirischen beziehungsweise experimentellen Hirnforschung, dieeinen durchgehendenDeterminismus aller Be-wusstseinsphänomene, inklusive ihrer volitiven Dimensionen, als subjektive Korrelate objektiver physischer Hirnprozesse behauptet.

Wie immer diese Befunde im Einzelnen aussehen mögen, sie stehen jedenfalls im Einklang nicht nur mit unserem modernen naturwissenschaftlichen Weltbild einerdurchwegs kausal geordneten Natur, zu der eben auch Bewusstseinsphänomene als evolutionäres Resultat organischer, also physisch-materieller Prozesse gehören, sondern ganz allgemein mit dem „Satz vom Grunde“, der nie und nirgends eine Ausnahme erleiden darf, soll anders Erkenntnis überhaupt möglich sein. Für eine „Freiheit des Willens“ im Sinne einer Aseität, eines nicht-verursachten, rein aus sich selbst entspringenden Schöpfungsaktes einer absolut neuen Kausalkette, ist in diesem geschlossenen Ursachen-Wirkungs-Gewebe nirgends ein Platz; wäre es anders, so würde jeder freie Willensakt ex nihilo eine neue empirische Kausalkette zur Welt bringen, was deren Ordnung in kürzester Zeit chaotisieren müsste. Diesen aus der Dritten-Person-Perspektive aufdas menschliche Subjekt sich ergebendenKonsequenzen unseresBildes des Menschen als eines Naturwesens, das wie alle raum-zeitlichen,empirischen Entitätenals Objekt erscheint unddaher dem Gesetz derKausalität unterworfenist, steht nicht nur unse- re moralische Intuition entgegen, sondern vor allem, so hat es zumindest den Anschein, die unmittelbare Evidenz unsererSelbsterfahrung eines „freien Willens“, wie sie sich aus der Erste-Person-Perspektive ergibt und welche die Grundlage unserer moralischen Zuschreibungen auch Dritten gegenüber darstellt.

So stehen wir vor einem scheinbar unauflöslichen Dilemma, das uns jenes resignative„Ignorabimus“ als plausibel nahelegt, mit dem der berühmte materialistische Physiologe Emil Du Bois-Reymond 1872 seinen Vortrag „Über die Grenzen des Naturerkennens“ beschloss, wo er, sehr zum Ärger seiner naturwissenschaftlichen Kollegen, die prinzipielle Unlösbarkeit des Körper-Seele-Problems, und damit auch des Problems des „freien Willens“ als dessen konzentrierteste Fassung, behauptete. Denn als Subjekte empfinden wir uns als frei, als Objekte wissen wir uns determiniert – ein unerträglicher Widerspruch, der, so scheint es, nicht zu schlichten ist weil er real existiert, denn wir sind nur Subjekte, insofern wir auch Objekte sind, und leben doch in beiderlei Hinsicht in einer Welt. Es scheint, als ginge ein Riss durchs ganze Universum. Muss hier nicht, um diesem Skandal ein Ende zu bereiten, die Theorie über die Wirklichkeit, die immer empirisch-rational vermittelt ist und daher irren kann, der unmittelbaren Selbstevidenz, die ex definitione nicht falsch sein kann, weichen? Das würde freilich bedeuten, dass, wenn Sie mir das paradoxe Bild gestatten, unser gesamtes naturwissenschaftliches Weltbild am Felsen unseres „freien Willens“ scheitert und zu Bruch geht. Übrig bliebe das Trümmerfeld eines „subjektivierten Okkasionalismus“ (Carl Schmitt).

„Willensfreiheit“, schreibt der Biologe Hubert Markl, „ist eine primäre Erfahrungs-tatsache, unfreier Determinismus eine Theorie über die Wirklichkeit. Seit wann können Theorien Tatsachen widerlegen, die sie doch eigentlich erklären sollen?“Nun, sie können es natürlich nicht, wenn diese Tatsachen ex ante
als unumstößlich feststehen. Insofern ist Hubert Markls in Form ei- ner rhetorischen Frage vorgetragene Conclusio korrekt – wenn die Prämisse stimmt. Aber stimmt die Prämisse? Ist Willensfreiheit wirklich eine „primäre Erfahrungstatsache“, das ist die alles entscheidende Frage! Denn fällt diese Prämisse der unmittelbaren Bewusstseinsevidenz, dann sind wir auch das Dilemma los, und das einheitlich kausale Weltbild ist gerettet, denn eine andere Stütze hat der „freie Wille“ nicht. Der Mensch ist dann kein Fremdes mehr in der Natur.

Genau diese Frage, „Lässt die Freiheit des Willens sich aus dem Selbstbewusstsein beweisen?“, hat die Norwegische Akademie der Wissenschaften schon in den Dreißigerjahren des 19. Jahrhunderts – also lange vor Darwin und erst recht vor den spektakulären Erfolgen der modernen Naturwissenschaften – der europäischen Gelehrtenwelt vorgelegt und öffentlich ausgeschrieben. Gekrönt wurde am 26. Jänner 1839 Arthur Schopenhauers „Preisschrift über die Freiheit des Willens“. Der sorgfältige, mit rein phänomenologischen und begrifflichen Mitteln durchgeführte Traktat kommt, so kontraintuitiv dies auf den ersten Blick erscheinen mag, zu einem eindeutig negativen Ergebnis.

Schopenhauer eröffnet seine Untersuchung mit einer Begriffsbestimmung und geht dabei aus von dem landläufigen empirischen Begriff von Freiheit, dem zufolge frei sein heißt, „tun zu können, was man will“, von einem Freiheitsbegriff also, der die Abwesenheit von äußeren, materiellen Hindernissen bezeichnet. Aber die Frage nach der Willensfreiheit stellt die Frage nach der Freiheit des Willens selber, die daher lauten müsste: „Kann man auch wollen, was man will?“, sodass das Wollen noch von einem anderen, hinter ihm liegenden Wollen abhinge. So entstünde sofort die nächste Frage: „Kann man auch wollen, was man wollen will?“ Und als nächste: „Kann man auch wollen, dass man will, was man wollen will?“ Und so weiter und so fort ad infinitum – ein unendlicher Regress, der eine definitive Antwort immer wieder hinausschiebt und damit unmöglich macht.

Um diesem Regress zu entgehen, muss man also, sagt Schopenhauer, den empirischen, aus Handlungsvollzügen gewonnenen Freiheitsbegriff abstrakter fassen: Als Freiheit nicht nur von äußeren Hindernissen, sondern als Abwesenheit von Notwendigkeit überhaupt, wobei Notwendigkeit alles ist, was aus einem gegebenen zureichenden Grunde folgt. Dies entspricht genau der kantischen Definition, nach welcher Freiheit das Vermögen ist, eine Reihe von Veränderungen von selbst anzufangen. Dies „von selbst“ heißt „ohne vorhergehende Ursache“, was aber identisch ist mit „ohne Notwendigkeit“.

Ein „freier Wille“ wäre also ein solcher Wille, der nicht durch Gründe – und da jedes ein anderes Bestimmendes ein Grund, bei realen Dingen ein Real-Grund, d.h. Ursache, sein muss –, ein solcher, der durch gar nichts bestimmt wäre; dessen Äußerungen (Willensakte) also schlechthin und ganz ursprünglich aus ihm selbst hervorgingen, ohne durch vorhergehende Bedingungen herbeigeführt, also ohne durch irgendetwas, einer Regel gemäß, bestimmt zu sein. „Bei diesem Begriff“, schreibt Schopenhauer, „geht das deutliche Denken uns deshalb aus, weil der Satz vom Grunde, in all seinen Bedeutungen, die wesentliche Form unseres gesamten Erkenntnisvermögens ist, hier aberaufgegeben werden soll.“ Indessen fehlt es für diesen Begriff nicht an einem philosophischen Terminus technicus: Er heißt liberum arbitrium indifferentiae. Dieser Begriff ist der einzig deutlich bestimmte, feste und entschiedene von dem, was Willensfreiheit genannt wird; alles andere ist nebulöses Geschwafel. Seine Annahme bedeutet, dass einem damit begabten Individuum in jedem Moment unter gegebenen, bis ins letzte Detail festgelegten inneren, äußeren, geschichtlich-kulturellen und so weiter Bedingungen zwei einander diametral entgegengesetzte Handlungen gleich möglich und für einen außenstehenden Beobachter gleich wahrscheinlich sind.

Welchen Aufschluss gibt nun das Selbstbewusstsein über die Anwendbarkeit oder die Nichtanwendbarkeit des Begriffs der Notwendigkeit auf den Eintritt eines Willensaktes nach gegebenem, d.h. dem Intellekt vorgestelltem, Motiv? Oder über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit seines Ausbleibens? Gar keinen! Sache des Selbstbewusstseins ist allein der Willensakt selber, der mich zu Handlungen veranlasst und sie ermöglicht, sofern nicht äußere Hindernisse dem entgegenstehen, Hindernisse, zu denen natürlich auch meine allfällige körperliche Unfähigkeit zählt.

„Ich kann tun, was ich will“: Weiter geht – unter Voraussetzung äußerer, empirischer Freiheit – die Aussage des unmittelbaren Selbstbewusstseins nicht, man mag sie auch drehen und wenden, wie man will. Das Selbstbewusstsein sagt die Freiheit des Tuns aus – unter Voraussetzung des Wollens. Die Freiheit des Wollens selbst aber ist es, die zur Debatte steht; darüber aber enthält je-
ne Aussage „Ich kann tun, was ich will“schlechterdings gar nichts. Das Selbstbewusstsein eines jeden sagt sehr deutlich aus, dass er tun kann, was er will. Da nun auch ganz entgegengesetzte Handlungen als von ihm gewollt gedacht werden können, so folgt allerdings, dass er auch Entgegengesetztes tun kann, wenn er will.

„Dies verwechselt nun“, schreibt Schopenhauer „der rohe Verstand damit, dass er, in einem gegebenen Fall, auch Entgegengesetztes wollen könne, und nennt dies die Freiheit des Willens. Allein dass er, in einem gegebenen Fall, Entgegengesetztes wollen könne, ist schlechterdings nicht in obiger Aussage enthalten, sondern bloß dies, dass von zwei entgegengesetzten Handlungen er, wenn er diese will, sie tun kann, und wenn er jene will, sie ebenfalls tun kann. Ob er aber die eine sowohl als die andere, im gegebenen Fall, wollen könne, bleibt dadurch unausgemacht... Die kürzeste, wenngleich scholastische Formel für dieses Resultat würde lauten: Die Aussage des Selbstbewusstseins betrifft den Willen a parte post, die Frage nach der Freiheit entgegen a parte ante.“

Die Frage der Norwegischen Akademie der Wissenschaften, ob der freie Wille aus dem Selbstbewusstsein erwiesen werden könne, wird daher von Schopenhauer in seiner preisgekrönten Schrift mit einem entschiedenen „Nein!“ beantwortet.

Weit davon entfernt, eine „primäre Erfahrungstatsache“, ein „unmittelbar evidentes Bewusstseinsphänomen“ zu sein, findet, entgegen dem ersten Anschein, die gemeine Rede vom „freien Willen des Menschen“ keine Beglaubigung durch Introspektion des Selbstbewusstseins. „Dies liegt“, sagt Schopenhauer, „im letztenGrunde daran, dass des Menschen Wille sein eigentliches Selbst, derwahre Kern seines Wesens ist: Daher macht derselbe den Grund seines Bewusstseins aus.Als ein schlechthin Gegebenes und Vorhandenes, darüber es nichthinauskann. Denn erselbst ist, wie er will,und will, wie er ist. Daher ihn fragen, ob er auch anders wollen könnte, als er will, heißt ihn fragen, ob er auch ein anderer sein könnte als er selbst: und das weiß er nicht.“

Weil das Willensphänomen das gesamte, in sich selbst intentionale Bewusstseinsfeld durchzieht (Bewusstsein ist immer Bewusstsein von etwas), es daher auch kein Bewusstsein ohne volitive Dimension gibt, ist es einerseits nicht hintergehbar, andererseits ist es möglich, Bewusstseinsprozesse ohne distinkten Willensbegriff zu beschreiben, wie wir am Beispiel der klassischen griechischen Philosophie gesehen haben; man kann es aber ebenso gut reflexiv isolieren und terminologisieren. Man spricht dannvon „dem Willen“, was aber eine Reifikation und Hypostasierung eines Bewusstseinsattributs ist; dem Substantiv entspricht keine substanzielle Entität. – Der Widerspruch, der uns in ein ontologisches Desaster zu stürzen drohte, der Widerspruch zwischen Freiheit und Determinismus, zwischen ei- nem „freien Willen“ und einer kausal geordneten Welt, existiert in Wahrheit also gar nicht, weil so etwas wie ein „freier Wille“ nicht existiert, verstanden als unverursachte Ursache von Handlungen. „Freiheit ist das Vermögen, etwas zu tun, was man will“ (Voltaire), aber in keines Wesen Macht steht es, zu wollen, was es will, wie schon Leibniz, der Inifinitesimaltheoretiker, gesagt hat.

Ein apartes „liberum arbitrium“ gibt es nicht, das ist nur ein postaugustinischer Irrtum; die alten heidnischen Philosophen kannten ihn nicht. Wir benötigen heute den ganzen Apparat der Neurophysiologie, um ihn wieder loszuwerden – und das, obwohl auch die großen materialistischen Philosophen der Neuzeit die Existenz eines „freien Willens“ explizit bestritten haben, als Erster wohl Thomas Hobbes in seinen „Questiones de libertate et necessitate, contra Doctorem Branhallum“ (1656) und in seinem Gefolge Baruch Spinoza in seiner „Ethica ordine geometrico demonstrata“ (1677), aber auch David Hume in seinem „Essay on liberty and necessity“ (1748).

Am ungeduldigsten mit seinen idealistischen Gegnern, fast schon grob, wurde Joseph Priestly in „The doctrine of philosophical necessity“ (1777) wenn er schreibt: „Der Ausdruck, dass der Wille ein sich Selbstbestimmendes sei, gibt gar keinen Begriff, oder vielmehr enthält eine Absurdität, nämlich diese, dass eine Bestimmung, welche eine Wirkung ist, eintritt ohne irgend eine Ursache... Kurzum, es liegt hier gar keine andere Wahl vor, als die zwischen der Lehre von der Notwendigkeit oder absolutem Unsinn.“

Das Gefühl der Freiheit, das die Initiierung und Durchführung ei-ner Handlung begleitet,ist die Erfahrung derSelbstnötigung durchden eigenen Willen, ei-ner zwanglosen Notwendigkeit von innen, dasGefühl, das mit dem Vollzug einer Handlung gemäß dem eigenen Willen verbunden ist. Dieser selbst ist aber seinerseits durchaus kausal durch Motive bestimmt, die ja nichts anderes sind als intrinsisch erlebte, im Bewusstsein erscheinende Ursachen, welche ihrerseits immer in den kausal geordneten, über die Sinne vermittelten Weltzusammenhang integriert und durch neuronale Prozesse repräsentiert werden; die „Gründe“ aber, die wir unserem Handeln geben, sind ihrerseits post hoc rationalisierte Motive.

Freiheit heißt, gemäß dem eigenen Willen handeln, also ist weder ein innerer Druck noch ein innerer Widerstand fühlbar – daher fühle ich mich frei; der Wille selbst aber ist (neuronal) determiniert; also bin ich selbst determiniert in meinem freien Handeln. Deshalb kann Jean-Paul Sartre, ohne in Konflikt mit dem Determinismus zu geraten, sagen: „Der Mensch ist(für sich) seine Freiheit“, was das gleiche heißt wie: „Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt.“

Weil seine träge und seine schwere Masse identisch gleich sind, fühlte ein Stein, hätte er Bewusstsein, sich frei, wenn er fällt – nichtobwohl, sondern weil er dem Gravitationsgesetz folgt: Das ist der tiefste Sinn von Hegels Formel: „Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit“, versteht man „Einsicht“ nicht als kognitiven, sondern als intuitiven Akt.

Bewusstsein selbst, zu dessen konstitutiven Modi das Phänomen des Wollens zählt, ist ein bestimmter Gehirnzustand – „ist“ nicht im Sinne einer semantischen Identität verstanden, sondern im gleichen Sinne, wie wenn Physiker sagen, dieTemperatur eines Gases ist die durchschnittliche kinetische Energie der Moleküle, die es bilden – obwohl keines der Moleküle eine Temperatur„hat“. Genauso wenigwürde man einen Gedanken sehen, könnteman in einem Gehirnspazieren gehen wie ineiner Mühle, wie Leibniz einmal spöttisch bemerkte. Beides, Bewusstsein oder „Geist“ und Temperatur, sindaus reduktionistischer (aber nicht eliminativer!) Sicht dynamische Systemeigenschaften komplexer materieller Gebilde. (Im Übrigen ist das Wort „Geist“ bekanntlich mit dem Wort „Gas“ verwandt, welches, aus demArabischen und der Alchemie stammend, Dunst oder Luft bedeutet, ebenso wie auch spiritus, pneuma, animus.)

Das phänomenale Bewusstsein mag aus materialistischer, naturwissenschaftlicher Sicht rätselhaft erscheinen (ich habe das resignative „Ignorabimus“ Du Bois-Reymonds schon erwähnt), aber es ist nicht rätselhafter als das Phänomen der Wärme, erklärt durch die statistische Mechanik. Worauf letztlich allein es ankommt, ist der funktionelle Zusammenhang. Mehr wissen wir auchnicht über die materiellen Dinge, die uns umgeben. Oder „erklären“ die MaxwellschenGleichungen den Zusammenhang zwischen elektrischen und magnetischen Feldern vielleicht besser? Die sogenannte „Erklärungslücke“ zwischen phänomenalem Bewusstsein und physischer Welt, das „hard problem“ nach David Charmers, existiert also in Wahrheit gar nicht – oder aber, wenn man lieber will, es begleitet uns dauernd auch bei den einfachsten Funktionsgleichungen der Physik, aber daran haben wir uns gewöhnt und machen kein Aufhebens darum. Das „hard problem“ wird aus der Philosophie ebenso sang- und klanglos verschwinden, wie der Vitalismus aus der Biologie verschwunden ist.

In welcher Weise äußere Reize und Handlungsstimulantien in Verbindung mit unserem kalkulierenden Verstand und edukativinternalisierten Normen, die man unser„Gewissen“ nennt, in als Motive erlebte Ursachen durch den zerebralen Apparat transformiert werden, hängt sicherlich nicht nur von dessen neuronaler Architektur und seinem individuell und zeitlich (durch gespeicherte oder wieder gelöschte Erfahrung) variablen Funktionsaufbau ab, sondern vom gesamten Soma eines je spezifischen Individuums: Dieses Transformationssystem ist als Ganzes das, was man seinen „Charakter“ nennt.

Deshalb verurteilen wir mit einer moralisch verwerflichen Handlung immer zugleich den ganzen Menschen, der sie begangen hat. Wir nennen ihn einen „Dieb“, einen „Mörder“ und sperren ihn ein, nicht die Handlung. Aber wir berücksichtigen die äußeren und historischen Umstände der Situation, in der die Tatbegangen wurde: Denndas zerebrale Systemfunktioniert zwar deterministisch, aber es istein offenes System, esist nicht kausal in sichgeschlossen.

Entgegen häufig vorgebrachten Befürchtungen ist diese deterministische Sicht der Dinge ethisch vollkommen unbedenklich. Denn soziale und juristischeSanktionsdrohungen gehen natürlich in den eine Handlung determinierenden motivationalen Datenkranz mit ein, sodass sich in unserem moralischen Universum kein Jota zu ändern brauchte, wenn wir den sogenannten „freien Willen“ als das betrachten, was er ist: als eine Illusion. (Tatsächlich wäre die Besorgnis eher umgekehrt einem wahrhaft „freien Willen“ gegenüber amPlatz: Denn dieser wäre, als nicht verursachter Ursprung seiner selbst, durch Normen nicht zu steuern.) Auch als „Postulat der praktischen Vernunft“ (Kant) ist er nicht nötig, ja sogar eine logische Zumutung, denn damit wird so getan, als ob es neben der theoretischen Vernunft, welche der Verstand ist, noch eine andere gäbe, die etwas „postulieren“ könne, was jene zu akzeptieren hat.

Auch sollte man nicht vergessen, dass das Konzept eines „freien Willens“ ursprünglich eingeführt wurde, nicht, um den Menschen zu „befreien“, sondern umgekehrt: um ihn moralisch zu belasten. Vielleicht beurteilten wir ohne ihn die Menschen ein wenig nachsichtiger und verlören ein wenig die Lust, sie zu bestrafen; sicher aber würden wir sie besser verstehen. Ansonsten (oder vielleicht gerade deshalb) ist der „freie Wille“ nur ein„gutes Gefühl“ (Wolf Singer), das unserenotwendigen Taten notwendig ohnehin immer begleitet und unserer Selbstgefälligkeit schmeichelt; vor dem Verstand löst diese Illusion sich auf.

Deshalb schrieb Friedrich Nietzsche in seinen „Psychologischen Betrachtungen“ aus der Zeit von „Menschliches, Allzumenschliches“ (1878): „Wer die Unfreiheit des Willens fühlt, ist geisteskrank: wer sie leugnet,ist dumm.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.09.2009)

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