War's das?

Die einen nennen das: Solidarität, die anderen: organisierteNächstenliebe, wieder andere: soziale Hängematte. Ich sage: das wertvollste Gut in unserem Land. Der rechtlich abgesicherte Sozialstaat – und warum ich sein zutiefst überzeugter Anhänger und Verteidiger bin, allen Gegnern zum Trotz.

Ich bin ein wissender Profiteur des Sozial- und Rechtsstaates Österreich. Zuerst durchlief ich die öffentlichen Bildungsinstitutionen: Volksschule, Hauptschule in Landeck, dann Lehrerbildungsanstalt in Feldkirch, danach ein Jahr Lehrer in Bregenz und Schulleiter in Bersbuch-Bregenzerwald. Keine guten, aber wichtige Erfahrungen mit dem autoritären Schuldienst. Ich hatte den „angstfreien Aufsatzunterricht“ für Zehnjährige erfunden,konnte prächtige Ergebnisse mit Gruppenarbeit vorzeigen, aber der Schulinspektor undehemalige Nazi fand, es gehe hier zu „wie in einer Judenschule“. Ich wurde in den tiefen Bregenzerwald strafversetzt. Für mich ein Glücksfall: die einklassige Volksschule, die Begabten als Hilfslehrer für weniger Begabte. Dennoch übersiedelte ich an die Universität nach Wien. Ich absolvierte eine Facharztausbildung zum Unfallchirurgen, war dann drei Jahrzehnte damit beschäftigt, erlittenes Unheil geradezubiegen, Arbeitsfähigkeit undLebensfreude wiederherzustellen, so gut es eben ging.

Das auf den Prinzipien Gleichheit und Solidarität errichtete Gesundheitswesen habeich als Mitarbeiter einer Systemanalyse am Institut für Höhere Studien, die viel Staub aufwirbelte, in umfassender Theorie kennengelernt. Und auch zu verbessern versucht: Dieser Versuch blieb mir bis heute eine Art Obsession, die mir herrliche Konflikte bescherte.

Ja, ich bin ein zutiefst überzeugter Anhänger und Verteidiger eines rechtlich abgesicherten Sozialstaates, der Behinderten, Alten, Kranken, Verletzten, Schutzbedürftigen, krisengeschüttelten Menschen konkret – und das heißt: materiell – weiterhilft. Sie alle haben als Versicherte einen Rechtsanspruch auf Hilfe aller Art durch Diagnose und Therapie, durch Behandlung und Nachbehandlung und durch finanzielle Absicherung für sich und ihre Angehörigen. Der Sozialstaat garantiert Existenzsicherung. Die einen nennen es Solidarität, die anderen organisierte Nächstenliebe. Es ist das wertvollste Gut in unserem Land. Wer sich an diesem Gut vergeht, mit erlogenen ökonomischen Argumenten – zu teuer, nicht finanzierbar, Hängematte – das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit in Zweifel zieht, der ist mein Gegner.

Zurzeit tun sich Sozialstaatsgegner zu einem Angriff auf dieses wertvollste Gut zusammen. Es vergeht keine Woche, ohne die Mindestsicherung, also die mindeste Überlebenssicherung für Hilfsbedürftige, als unnötigen Luxus zu diffamieren, der minimiert, eigentlich beseitigt werden sollte. Herr Reinhold Lopatka von der angeblich christlichen Volkspartei wirbt um Verbündete. Zweieinhalb Stunden Anfahrtsweg zur Arbeit sind zumutbar, und der Weg zu erlaubter Zwangsarbeit für Arbeitslose ist ein erlaubter Ausweg.


Es gab für unsere Anliegen auch ausgesprochen gute Zeiten. Zeiten, da haben wir Kritischen Mediziner mit Unterstützung der österreichischen Bundesregierung unter Bruno Kreisky den österreichischen Sozialstaatsexport erfunden und erprobt.

1979, Revolution in Nicaragua, da haben wir im Auftrag der Bundesregierung zu dritt die Flüchtlingslager in Costa Rica und Honduras besucht. Dorthin waren aus den Dörfern der Kriegsgebiete in Nicaragua Frauen und Kinder geflüchtet, stets angeführt von den katholischen Geistlichen. In Costa Rica waren sie hochwillkommen, gut untergebracht und ernährt, konnten die Gesundheitseinrichtungen des Landes besuchen. Sie durften auch bei Bauern arbeiten, durftenGeld verdienen. Ganz anders das Bild in Honduras, wo es große, schlecht ausgestattete Lager gab, die Hygiene miserabel war, viele Kinder erkrankten,das Essen eher dürftig war und niemand das Lagerverlassen sollte. Honduras fürchtete sich vor Kontakten zwischen den Sandinisten und Honduranern. Man fürchtete politische Infektion in Richtung Revolution im eigenen Land.

Hier errichteten wir eine gut ausgerüsteteLagermedizin, verbesserten die Unterkünfte und die Hygienestandards. Die Ärztinnen und Ärzte wurden in Österreich (meist in Wien) aus den Spitälern abgezogen, freigestellt bei laufenden Bezügen und arbeiteten für jeweils ein halbes Jahr in den Lagern von Honduras. Unsere Hilfslieferungen gingen an die Universität von Tegucigalpa, einem Nest von Sandinisten, die auch perfekte Sozialmediziner waren. Als Nicaragua sich von der Diktatur Somoza befreit hatte, zogen wir mit an die Atlantikküste und waren dort bis 1991 beim Aufbau des ambulanten und stationären Systems maßgeblich beteiligt. Sogar eine Betreuung der Dschungelbewohner wurde ausgedacht und durchgeführt. Wieder alles mit freigestelltem Personal aus unserem Sozialstaat. Und aus Spenden plus Verdoppelung durch die Regierung flossen von uns zwischen 1979 und 1991 über den Umweg der Universität Tegucigalpa 45 Millionen Schilling über den Atlantik nach Nicaragua. Alles kontrolliert und nachgerechnet durch unseren Kritischen Mediziner undMathematiker Franz Simböck.


1989 hat Wiens Bürgermeister Zilk, einenTag nach Weihnachten, einen medizinischen Hilfstransport nach Timişoara in Bewegung gesetzt. Diesmal Revolution in Rumänien. Drei Spitälerhaben Ärzte, Schwestern, Operationspersonal freigestellt, wieder bei laufenden Bezügen. Das Lorenz-Böhler-Krankenhaus hat unter der Führung von Johannes Poigenfürst die in Timişoara versteckt gehaltenen, schwer verletzten Revolutionsopfer gefunden, operiert und nach Österreichzur kostenlosen Nachbehandlung transportiert. Das Versteck fanden wir, weil uns eine fromme rumänische Ärztin dieses verraten hat, uns den Weg dorthin wies. Kühne Tat einer mutigen Frommen. Wäre sie aufgeflogen, wäre ihr Schreckliches passiert. Der Diktator war zwar erschossen, tot, aber seine Zuarbeiter waren noch in Amt und Würden und logen um die Wette: von den versteckten Opfern nichts gewusst . . .

Ab 1991 hat Poigenfürst mit seinem Timişoara-Verein eine neues, nagelneues Krankenhaus im Revolutionszentrum gebaut, die Casa Austria. In dem bis heute zu Sozialstaatsbedingungen, also unseren, behandelt und betreut wird. Das 60-Betten-Spital hat 60 Millionen Schilling gekostet, die wir aus30 Millionen Spenden und 30 Millionen Regierungsbeteiligung aufbrachten. Hierzulande hätten wir für so ein Musterspital dasDoppelte, also 120 Millionen Schilling, hinzulegen gehabt. Noch immer fließen – Stand 2016 – kleine Spenden auf unser Timişoara-Konto, mit denen Poigenfürst Reparaturenbezahlt, Fort- und Weiterbildung von Personal fördern will. Was großer Überredungskünste bedarf. Also, seiteinem Vierteljahrhundert wird hier gespendet und dort behandelt. Poigenfürst, jetzt Mitte 80, war erst vor Kurzem zur „Nachkontrolle“ in der Casa Austria. Er ist zufrieden.


Ich durfte also bei zweifachem Sozialstaatsexport dabei sein, Hilfe von hier nach dort durch Jahrzehnte. Das nennt man Nachhaltigkeit. Zustände wie jene in Traiskirchen hätte es in einem lebendigen und wachen Sozialstaat nicht gegeben. Das hätten schon die Macher von damals, von Kreisky, Dohnal bis Zilk und Poigenfürst, niemals zugelassen. Dass 2015 das Innen-, also das Polizeiministerium und nicht die Sozialstaatseinrichtungen sich zuständig fühlten, aber unzuständig waren, ist bis heute eine Schande. Zwei Ärzte, der Kinderarzt Ferdinand Sator und der Sozialpsychiater Georg Psota, standen vor den Toren des Asylantenareals, wollten helfen, behandeln. Ihnen wurde der Eintritt verwehrt, nach Rücksprache mit dem Innenministerium. Der Kinderarzt behandelt durch den Gitterzaun hindurch: im Fernsehen zu sehen. Der Rechtsstaat sah zu, verhinderte die ärztliche Pflicht zur Behandlung.


Das alles entwickelte sichsteil bergab, von 1979 (Nicaragua) und 1989 (Timişoara, Casa Austria) zu 2015 (Traiskirchen) in unserem Lande. Der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt wurden in den vergangenenJahren bis zu 120 Millionen Euro widerrechtlich entwendet. Der Wirtschaftbund trat als Beherrscher des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger auf, die geschwächten Gewerkschafter wurden demontiert. Sallmutter war der letzte Rote im Hauptverband. Die Leistungen für Patienten, siehe Zahnersatz, Psychotherapie, die verheerend falsche Unterscheidung Patient und Pflegepatient mit rasend hohen Selbstbehalten bis zu 100 Prozent – das ist schleichende Privatisierung von Behandlung und Nachbehandlung, sogar der von Kindern. Die Sozialstaatsgegner sind schamlos in ihren Plünderungsgelüsten. Gute Behandlung und Zufriedenheit bei Patienten und Behandlern bleiben auf der Strecke.

Und die Schamlosigkeit ist längst von den politischen Plünderern zum „Mann auf der Straße“ abgesunken. Alltagsgeschichte aus Stockerau, Niederösterreich. Dort regiert Rot-Blau. Man wehrte sich gegen die Aufnahme von Asylanten. Das kurz zuvor renovierte Bezirksgericht, ein großes schönes Gebäude, stand leer, war geschlossen worden. Kurz davor wurde das Gericht mit Vorstand Karl Griebler wieder einmal als bestes BG der Republik geehrt: schnelle und gute Urteile, die alle „hielten“. Das leer stehende Gericht ärgerte so manche Bürger. Der Regierungsbeauftragte Konrad setzte die Öffnung für Asylanten durch. Das schöne Haus hat jetzt wieder Bewohner. Auch Kinder sind zu sehen. Darüber wiederum ärgern sich andere Bürger: Sie müssten jetzt, Kfz-bewaffnet, auf Kinder achten, wie kämen sie dazu.

In der Nähe befindet sich eine Großbaustelle. Der Baumeister stellte Warnschilder auf. Wegen der Asylanten in drei Sprachen. Ein denkender Baumeister. Er wurde angezeigt und verurteilt. Es gebe nur eine Amtssprache, eben Deutsch. Was formal richtig sein mag, ist in der Realität Unmenschlichkeit pur. Man muss in der Amtssprache denken und soll die gefährdeten Kinder vergessen.


Am Ende, das stets ein gutes sein soll, eine Geschichte aus dem Bezirk Landeck. Hier gab es einmal, unter dem politisch agilen Walter Guggenberger, den sogenannten Politstammtisch mit Auftritten von außen, von Peter Turrini bis zur Kritischen Medizin aus Wien. Das „Gemeindeblatt Landeck“ hatte Oswald Perktold, Volksschullehrer aus dem Stanzertal, in fester Hand. Er stellte im verschlafenen Landeck so etwas wie Gegenöffentlichkeit her, schrieb in offener Sprache, die man verstand.

Spätfolge: Landeck wählte Bertl Stenico zum Bürgermeister. Und Stenico eröffnete in der „Kaifenau“ das Asylantenheim, das bald bestaunt und auch bewundert wurde. Es machte Schlagzeilen in den Tiroler Zeitungen. Immer dann, wenn eine Lehrstelle für einen jungen Asylanten gefunden wurde, freuten sich die Landecker, und die „Tiroler Tageszeitung“ jubelte: „Zweite Chance für Shafiullah – Der junge Asylwerber hat eine Lehrstelle als Installateur in Aussicht – Die Wirtschaftskammer will helfen“. Bertl Stenico lebt leider nicht mehr. Seine Nachfolger aber, auch wenn sie einer anderen Partei angehören, sind bis heute froh, dass es die „Kaifenau“ gibt.


Das sind Weltnachrichten für die Freunde des Sozialstaates. Das wären auch europareife Meldungen. Nachahmenswert. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.10.2016)

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