Große Arme, die fest nehmen

„Expedition Europa“: beim „Ausländerbeirat“ von Alanya.

Im türkischen Alanya lebt eine so große europäische Kolonie, dass es einen „Ausländerbeirat“ gibt. Er erweist mir die Ehre, eigens für mich in kleiner Runde zusammenzutreten. In der Großgemeinde, die fast 300.000 Einwohner und 72 Kilometer Rivieraküste umfasst, gehören 35.000 Wohnungen Ausländern: 6000 Russen, 5000 Norwegern, 5000 Deutschen. Etwa 8000 Ausländer haben eine Aufenthaltsgenehmigung, der große Rest sind monatelang leer stehende Ferienwohnungen europäischer Pensionisten.

In einem günstigen Café versammeln sich also Pensionisten: eine elegante Witwe aus Bielefeld, ihr schweigender Lebensgefährte, ein englisches Paar und eine Dagestanerin aus Moskau. Sie warten auf ihren türkischen Vorsitzenden. Abdullah Karaoglu ist ein sehniger Würdenträger mit Schnauzer, der in „orientalischem Deutsch“ orientalische Geschichten erzählt. Er war 1999 bis 2009 Gemeinderatspräsident und verbot den offenen Basarverkauf von Kefir und Käse – „muss in Kühlschrank sein“. Der Beirat, 2004 von ihm „wie Joghurt“ angesetzt, hat seine Mutterlandspartei überdauert, die AKP, und nun auch die MHP. Hat Alanya aus Protest gegen die Ausländer für die rechtsextreme MHP gestimmt? Alle sagen: Nein. Die Scham der Neu-Alanyer darüber, wie Touristen hier rumlaufen, wurde aber schon im Beirat behandelt. Die Bielefelderin: „Halbnackt im Bus, oben ohne am Strand! Und wir können keine Verbotsschilder aufstellen! Es hieße gleich wieder: Erdoğan . . .“

Überhaupt, die westlichen Medien

Ich erwähne eine Deutsche, die „wegen eines Führungsstils, der mir absolut nicht liegt“, aus dem Beirat ausgetreten sei. Karaoglu korrigiert: „Sie wurde verabschiedet, einstimmig.“ Niemand widerspricht. Nach einer Flughafenschlagzeile der „Kronen Zeitung“ wurde auch Alanyas Partnerstadt Schwechat verabschiedet, „einstimmig“. Schwechat ließ ohnehin türkische Gastfreundschaft vermissen, am VIP-Tisch eines Banketts bekam Karaoglu versalzenen Fisch. Er steigert sich in eine beleidigte Rede. Europa bedaure französische Terroropfer mehr als türkische. Europas Beileid zum Putsch der „Terrorgruppe“ Gülen sei „45 Tage zu spät“ gekommen. Pressefreiheit okay, „aber darfst du nicht mit Ehre von Menschen spielen . . .“

Und überhaupt: Die westlichen Medien machen die Türkei schlecht. Ich sehe in die Runde. Alle nicken. Die Bielefelderin fühlt „schon mehr wie eine Türkin“: „Hier wurde eine Woche lang für Demokratie demonstriert!“ Karaoglu umschmeichelt seine Neubürger: „Wir haben so große Arme, wir nehmen alle fest. Hauptsache, Respekt ist da. Und alle sind dafür dankbar.“ Weitere Fragen muss ich nicht stellen. Kurdenkrieg, Syrienkrieg, das Abarbeiten schwarzer Listen nach dem Putsch. Diese Europäer, deren Alterssitz sich auch wegen der aufs Doppelte gestiegenen Lira als prekär erweist, stimmen dem Vorsitzenden ohnehin in allem zu.

Dafür bestätigt die Russin strahlend die Behauptung der russischen Wikipedia, dass Alanya die wärmste Stadt der Türkei sei. Der Mufti lädt sie zum Fastenbrechen, es gibt einen Christkindlmarkt, der Ausländerfriedhof ist gratis. Der einzige Widerspruch passiert der konfusen Bielefelderin. Bevor Karaoglu von Ausländern erzählt, „die humpelten und in Alanya wieder laufen“, wundert sie sich, „wie viele Junge auf dem Ausländerfriedhof liegen: 15 Säuglinge, Ertrunkene, Selbstmörder“.

Ich frage die versammelten Beiräte noch, ob sie mir eine Botschaft an die Daheimgebliebenen mitgeben wollen. Der türkische Vorsitzende ergreift das Wort. In der „Winterhauptstadt der Seldschuken“ sah er einmal eine arme Familie picknicken fahren. Auf dem Dreirad-Auto stand geschrieben: „Wir sind auch so glücklich.“ Egal wie negativ Europa über die Türkei berichtet: „Wir sind auch so glücklich.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.11.2016)

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